Christel Schöllhammer

Alle Texte

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Inhalte aller Bücher

Inhalt- überleben

Überleben 4

Mein Gedicht 4

Chaos 4

ich 5

Infotasten 5

tod im net 7

online 8

Wozu 9

Die Mauer 9

Mein Glasperlenspiel 10

Ausblick 11

Sisyphus 12

Dualität 13

Warten 13

Die Schlange 14

Vielleicht 15

Die Engel 15

Mensch im Abseits 16

Chance 16

Kitt 17

Zwei 17

Maske 18

Deutschstunde 19

Anne Frank 19

Auschwitz 20

That's all 21

Haben oder Sein 22

Los der Machtlosen 22

Inkognito 23

Gipsy 24

Abbau 24

Bindungen 25

Brücken 25

Grammatik 25

Telefonat 26

Verlassen 26

Nähe 27

Die Katze 28

Umzug 30

Überall 31

Einsam 32

Vom Fliegen 32

Schneeweiß und Rosenrot 33

Der Garten 34

Grund 35

Mythos 37

Zeit der Fische 37

Hexengebet 38

Andromeda 39

Der Komet 40

Heimat 41

Heimat 41

Mutter 43

Vater 43

In jenem Garten 45

Schwester 45

Bruder 46

Großvater Großmutter 46

Sonntag 47

Noch 47

Das Dorf 48

Abschied 49

La Mancha 50

Dolomiten 51

Impressum 53

Inhalt´- früher war es anders

Frühe Bilder 2

Landschaft 3

Sonntag 6

Kindergarten 7

Winter 9

Großfamilie 11

Der Sattlers-Großvater 12

Die Sattlers-Großmutter 13

Die Reitze-Großmutter 17

Der Reitze-Großvater 21

Immer noch ist Krieg 23

In der Volksschule 34

Ferienkinder 36

Nachbarskinder 37

Erntezeit 37

Dorfgestalten 39

D’r Baumwart Rommel 39

D’r Bolezei 40

D’r Elias 40

Kächlamaurers Hans 41

Bäckers Ernscht 41

D’r Hochberger 41

`s Fräulein Kobler 42

D’r Lehrer Häußler 43

Hubers Nähre 45

D’r Nachtfugeler 46

Der Krieg geht zu Ende 47

Die Amerikaner kommen 50

Vater kehrt heim 54

Die große Not 56

Die neue Zeit 61

Inhalt - Das Federkleid

die vögel 4

Das Mädchen 5

Der Hase Muggl 7

Kindergarten 9

Vater 11

Das Buch 12

Tagebuch der Annerose M. 14

Backfisch 14

In jenem Garten 31

Zwar – Aber 46

Sechzigerjahre 47

Schneewittchen 66

Versteck 66

Phoenix 75

Hoffnung 82

Zu eurer Zeit 84

Siebzigerjahre 95

Topfpflanze 96

Brüche mit Präpositionen 99

Die Mauer 100

Blut 101

Fliegen 114

Der Garten 127

Achtzigerjahre 128

Die Katze 135

Neunzigerjahre 138

Das Lied der ersten Lebensräume 163

Großvater – Großmutter 165

Sonntag 166

Überall 173

Ultra violett 177

Die Frau 179

Du bist fort 182

Violett 190

Inhalt - Der Intimfeind

​ Der Intimfeind 3

​ Nichts 5

​ Brücken 6

​ Tante Lene 7

​ Im Hamsterrad 10

​ Die Toten 11

​ Lied der ersten Lebensräume 12

​ Großmutters Sonntag 14

​ Shopping 15

​ Am Fenster 18

​ Katerfrühstück 19

​ Schneewittchen 21

​ Überall 21

​ Bin ich schön? 22

​ Der geklonte Mensch 24

​ Der Griff nach den Sternen 25

​ Sheherazad 29

​ Zeit 31

​ August 32

​ Kleo 33

​ Zu eurer Zeit 37

​ Violett 40

​ November 41

​ Verworfene Tradition 45

​ Metamorphose 47

​ Topf und Grund 48

​ Glas 49

​ Die Konferenz 50

​ Die Tugend der Zwerge 53

​ Zuhause 55

​ Angst 59

​ Alle Jahre wieder 59

​ Geld spielt keine Rolle 60

​ Eliane 62

​ Die Mauer 63

​ Geht doch 64

​ Gratwanderung 67

​ Geburtstag – eine Zeitreise 67

​ Tod im Net 71

​ Ein Gespenst geht um 72

​ Die Uhr – eine wahre Geschichte 73

​ Kriegsspiele 75


Inhalt - Geschichten von früher für Kinder von heute

Das Krankenhaus im Keller 3

Der Hubert 7

Reitze-Oma, Schützenfest und Prinzessin Huschewind 11

Das Schlaraffenland 21

Frau Holles Weihnachtsgabe 28

Das Abenteuer von Maloja 35

Die Bäbe 45

Mulle 49

Inhalt-Christels neue Gedichte

Christels neue Gedichte und Geschichten

Neue Wege 1

Für Dich 2

Corona 2

R o b o t 3

Der Zweifel 4

Wolke 5

Pfeil im Herzen 5

Rückwärts und auf hohen Hacken 6

 



Überleben


Inhalt

Überleben 4

Mein Gedicht 4

Chaos 4

ich 5

Infotasten 5

tod im net 7

online 8

Wozu 9

Die Mauer 9

Mein Glasperlenspiel 10

Ausblick 11

Sisyphus 12

Dualität 13

Warten 13

Die Schlange 14

Vielleicht 15

Die Engel 15

Mensch im Abseits 16

Chance 16

Kitt 17

Zwei 17

Maske 18

Deutschstunde 19

Anne Frank 19

Auschwitz 20

That's all 21

Haben oder Sein 22

Los der Machtlosen 22

Inkognito 23

Gipsy 24

Abbau 24

Bindungen 25

Brücken 25

Grammatik 25

Telefonat 26

Verlassen 26

Nähe 27

Die Katze 28

Umzug 30

Überall 31

Einsam 32

Vom Fliegen 32

Schneeweiß und Rosenrot 33

Der Garten 34

Grund 35

Mythos 37

Zeit der Fische 37

Hexengebet 38

Andromeda 39

Der Komet 40

Heimat 41

Heimat 41

Mutter 43

Vater 43

In jenem Garten 45

Schwester 45

Bruder 46

Großvater Großmutter 46

Sonntag 47

Noch 47

Das Dorf 48

Abschied 49

La Mancha 50

Dolomiten 51

 

 


Mein Gedicht


Mein Gedicht

das Neugeborene

das sich mitteilt

und vertraut

auf dem Weg

zu den Worten

es könnte wachsen

und den Worten

mißtrauen




Chaos


Im Chaos

der Wörter

auf Gemeinplätzen

stutzen rechtschaffene Leute

ihre Vorgärten

fällen Bäume

doch entlang meinem Schrei

finde ich

das Dickicht

im Chaos der Wörter

da gibt es zuweilen

noch gutes Holz

da hört man Vogelgezwitscher

und das Sprechen

der Toten




ich


ich

der fötus

mit füßen

auf kaltem eis

blicklos

taste ich

durch eure kammern

und trinke daraus

zuversicht

das blutende ende

der nabelschnur

ist mein

anfang




Infotasten


Ich lebe

in der Info-Gesellschaft

Infokraken

kommen durch Wände

gefräßig

fressen sie

die Zeit

Time is money

ich will sie behalten

irgendwie


Beim Lackieren der Fußnägel

Old-Sartre

auf der Kassette

Old-Sartre ist tot

DIE WÖRTER

sind andere


Fernsehen

wenn die Haarkur einzieht

Werbung

und News aus Tschetschenien

Blut auf den Straßen

zerfetzte Leichen

Jelzin im Vollrausch

Die Bonner Akteure

Werbung

Hey Friedensbewegung

was ist los mit euch

von mir könnt ihr nichts

erwarten

keine Zeit

zur Zeit

jetzt macht mal selber


Beim Bügeln

Discosound

Girl plärrt

synthetisch

Marylin - Leute

war Marylin

drum ist sie tot

Taste

Wir sind die Kinder der Sonne

Die rote Sonne von Barbados

Frau Dings bedankt sich vielmals

und viele Grüße an ihr Schallarchiv

und alle die mich mögen



Im Autoradio

die Scorpions

Werbung

Ihr individuelles Styling

Akademiker diskutieren

den Verfall der Individualität

Musicalsound aus Miss Saigon

Das Wetter im Antenneland

Fußball

Taste

Ratespiel

Taste

Werbung

Tastenspiel


Gebt dem Volk Brot und Spiele

Gebt dem Volk Information



tod im net


geh schneller

überhole

software

und deine reaktion

die zu spät käme

überhole

das überholen

geh schneller

nach nirgendwo

made in Silicon Valley

da weisen silberne spinnen

dir deine einbahnstraße

hinter die zeit

da ist der schilf

aus metall

da dümpelt

online

dein kahn

nach nirgendwo




online


du kennst die regel

sei cool

sei gut drauf

wenn das licht aufleuchtet

sag beim outing

daß du am arsch warst

sag nicht

daß du es immer noch bist

bleib cool

und gut drauf

du bist

online

vernetzt

verkabelt

du bist software

real ist der Computer

ist Multimedia


du kennst die regel

geh nicht bei rot

über die straße


Zeiten der utopie

zeiten der träume

sind vorüber

vorübergehend

 

 

 

 

 

Wozu


Wozu

Geschichte

Mensch

und Tier

gehen

ihren Pfad

der Mensch

hält inne

und blickt

zurück


 

 

 

Die Mauer


Sieh doch

die Mauer

Graues Wesen

alt wie die Welt

Aus einem Spalt wächst

grüner Efeu

Die Mauer hat geboren

ging lange schwanger

mit dem Geheimnis

ganz schweigender Stein

Sehnt sich

nach dem Augenblick

als der Wind sie küßte

Zurück blieb ein Samenkorn

das wuchs



Mein Glasperlenspiel


Bei Hesse

zwischen Buchdeckeln

Perlen aus Glas

je und je

verwoben

in das Sehnen


bunte Glasperlen

von der alten Stadt


Grüngold im Fluß

und Tannenschwarz

Armeleutekind

und Herrensohn

Dienstmagd Lina

Fachwerk

Gassen

Stufen


Ein feste Burg...


Perlen aus Glas

der Wegweiser

Name der alten Stadt

beim Abschied

beim Wiederkommen


Glasperlen

im Staub

der verlorenen Zeit


Grüngold im Fluß

und Tannenschwarz

Türkinnen still

mit Kopftuch

Hi Baby!

Ciao Bella!

Reggae im Juze

Woodstöckle

Jobsuche

Wohnungssuche

Fachwerk

Gassen

Stufen


Glasperlen

von der alten Stadt




Ausblick


Ertrinken

im Warum

in den unausgesprochenen Dingen

im Kreis gedacht

Ertrinken

im Morast

der Lebensentwürfe

Euer Korn ist erntereif

Mein Häuschen steht windschief

am Weg nach Golgatha

Da gehen die Gescheiterten

im Kreis gedacht

Arbeitslose Obdachlose Junkies

im Namen der Vernunft

die sät und erntet

und Tempel baut


Heimgehen will ich

in die grauen Steine

sinnlos

am Weg nach Golgatha

Ertrinken im

Warum




Sisyphus


Denk dir die

Berge

aus schwebenden

Quanten

drüben

im Hier

wo wir nicht

scheitern an

der Schwere des

Steins

und träumen auf

zertretenen Blumen



Dualität


Wenn die Augentür

aufklappt in die

Spiegelleere

sind die

Gedanken

noch traumwarm

von eurem Gefieder

aber

gefangen im

Gitter der

Spiegelleere




Warten


Mißtraue

dem Schrei

nach Ambiente

auf deiner Bühne

sonst öffnet

der Kulissenschieber

der Narr

der Janusköpfige

die Fenster

und läßt aus blauer Luft

Gardinen flattern

stellt bunte Sträuße

in die Ecken

als wäre es

deine Beerdigung

damit du schreist

nach Kulissen

mit Fenstern

geschlossen

an die der Regen trommelt

und mit dir redet

und weint



Die Schlange


Langsam

neben dem Gang

des Zentauren

zieht das

Warten

seine Kriechspur

Das nennen wir

Zeit

 


Vielleicht


Vielleicht

hat ein anfängliches Wesen

die Wissenschaft

sagen wir

das Denken in Gegensätzen

sich selbst verordnet

als ewiges Spiel

damit

es nicht verzweifle

am großen Einerlei

an der Wahrheit

daß das Eine

auch das Andere sei

das Hier das Anderswo

und das Ich auch das Du

So legt sich um das große Einfache

wie der Schleier einer Fata morgana

die Vielfalt der Formen

und unser Leben wäre

sagen wir

ein Fleckchen Spielwiese


für den einsamen Gott



Die Engel


Mit meinen Gedanken

fliegen

fremde Vögel

gefiederte

Monster

aus Galaxien

unendlicher Kleinheit

umkreisen mich

und blicken stumme Zeichen


Aber im Tanz

verschwenden sie

Bedeutung

mit breiten Flügelschlägen

Aber im Tanz

hacken sie mit spitzen

Schnäbeln

auf Plastik

und singen

ihre klagenden Worte



Mensch im Abseits



Chance


Bin ich sicher

daß ich

bei dir

umhergehen kann

ohne den Stempel

eines


Zwar - Aber


und ohne den Stempel

deiner Gnade

als einer der

dazugehört



Kitt


Im me r wi ed er d as

Z us amm en fü gen

v on Spl itt ern

mi t Ged ank enk itt

gi b m ir d az u

Ve rtr aue n




Zwei


Eins zwei drei

der Teufel liebt die Zwei

nicht Eins nicht Drei

er liebt die Zwei

zwei Richtungen

im Teufelskreis


Jäger jagt Beute

Beute jagt Jäger


Bist du deshalb

immer noch Beute



 

Maske

Es ist nicht

ihr fremdes Gesicht

das mich verbirgt

Es ist

ihre Totenstarre

Der Tod

macht mich

unangreifbar




Deutschstunde


End - reinigung

Ent - rümpelung

Ent - seuchung

Ent - artung

End - lösung

Ent - nazifizierung

Ent - sorgung

End - lagerung

End - zeit


End - abnahme



Anne Frank


Dein Lächeln

mondweiß

ohne

Bleibe

in Zeitschluchten

Auf dem

Grund

ruhen die toten Mütter

Theresa von Avila

Mutter Theresa

Mirjam

Judith

Rahel und Zippora

und Maria

AMCHA

ihre Arme reichen nicht

zum Kreuz

Arme ausgebreitet

Arme durcheinander übereinander

geschichtet in den

Gruben

und

mondweiß

dein Lächeln

Anne

ohne Bleibe

in Zeitschluchten



Auschwitz


Gewiß ist uns

die Unsterblichkeit

der Hölle


Unter den toten Augen

des Himmels

glüht der Reaktor

von Auschwitz


Nicht entsorgbar

verglüht er

unsere Sprache

zur Unsterblichkeit



That's all


Daß er mir nun bei Aldi begegnet ist. Immer,

wenn ich versuche, über ihn zu schreiben, zappen

die Gedanken wie Fische davon, rücken wieder

näher an mich heran und drängeln: Schreib es auf,

aber so banal wie es war, sonst wird´s pseudo.


Ich sah ihn also den Einkaufswagen vor sich

herschieben. Schulterlanges, stumpfes Haar,

billiges, ausgeleiertes T-Shirt, schmutzige Jeans.

Typ “Loser".


Am Wühltisch sieht er sich lange einen Jogging-

anzug an, legt ihn wieder zurück. Im Wagen hat

er ein paar Flaschen Bier und einen Laib Grau-

brot vom Sonderangebot.


An der Kasse läßt er der Türkin mit dem quengeln-

den Baby und zwei Italienern mit Chianti-Flasche

den Vortritt. Nun legt er seine Sachen vor mir

aufs Förderband.. Die Kassiererin sagt ihm die

Endsumme. Er kramt in seinen Hosentaschen

nach Geld. Die Kassiererin schaut geradeaus, stolz

und still wie Nofretete. Das Baby hat aufgehört

zu quengeln, tatscht in den Bart des Mannes.

Er lächelt, und während er zahlt, lächelt er

noch immer.


Draußen erwartet ihn ein Pulk Obdachloser

- einige mit Rucksäcken, einige mit Plastiktüten.

Eine Frau ist dabei. Sie scheint zu ihm zu gehören.

Er gibt ihr den Laib Brot.

Man hört ihren Namen.

Es ist Magdalena.




Haben oder Sein


Du hast keine Arbeit

Du hast etwas gelernt

Du hast ein Leben gehabt

Du hast einen Schlafplatz

unter der Brücke


Du bist arbeitslos

Du bist obdachlos

Du bist ein Mensch

Du bist noch am Leben


Du bist HIV-positiv

Du hast AIDS

Du hast keine Antwort

Los der Machtlosen

AHNUNGSLOS

FRISTLOS

ARBEITSLOS

MITTELLOS

WORTLOS

RATLOS

WEHRLOS

HEIMATLOS

ZIELLOS

MACHTLOS

HOFFNUNGSLOS



Inkognito


Als sie alle

so standen

auf der Seite wohin

der Daumen wies

und wohin das

Maul des Konzerns

Unrentables

ausspuckt

Als sie alle

so standen und

ihrer waren bald

fünf Millionen

da war es

einigen

als ging durch ihre Reihen

einer

den sie nicht kannten

Was auffiel war

das Schwarz in seinen

Augen und in seinem Haar

und daß er

jeden ansah

als wollt er sagen

Steht auf



Gipsy

Pack dich weg

auf die Autobahn

spinn dich ein

in die Verpuppung

in das Summen

der Kopien

in das Vorüberziehen

das nicht wehtut



Abbau


Vielleicht

viel leicht


vielleicht

vielleich

vielleic

viellei

vielle

viell

viel

vie

vi

v






Bindungen





Brücken


Ziellos treiben

auf Intervallen

zwischen den Inseln

unserer Highlights


Wachsen sehen

aus Intervallen

Brücken mit Schwingen

von mir zu dir




Grammatik


Umklammern

das darfst du

sollst du

mußt du


das mußt du

dir abgewöhnen


du sollst

du darfst

du mußt nicht

klammern

 



Telefonat


Er Wie geht es dir?


Sie Es war schön, daß du

bei mir warst.

Schade, daß du

wieder fort bist.


Er Warum siehst du es

nicht einfach

positiv?

Ich war doch bei dir!


Sie denkt

Was habe ich

falsch gesagt?

Ich will ihn doch nur

wiedersehen.


sagt nichts




Verlassen


Als du mich verlassen hast

um nocheinmal

mit ihr zu leben,

habe ich ihn gefunden.


Als du sie verlassen hast,

nocheinmal,

um mit mir zu leben,

nocheinmal,

habe ich ihn verlassen.


Als du mich verlassen hast

nocheinmal,

habe ich ihn gefunden.


Als ich ihn...



Nähe


Du bist fort

So bist du in meinem

Schweigen.

So lerne ich  früh

daß man allein

stirbt




Die Katze


Die Katze ist lange gelaufen, auf dem Feldweg

entlang der Autostraße. Manchmal setzt sie sich

unter einen Baum und leckt ihre Wunden. Sie

fühlt Geborgenheit, ihre Augen werden schmal,

sind plötzlich wieder grüne Blitze im schwarz-

glänzenden Fell, folgen hin und her dem Tagwerk

einer Ameisenkolonne.


Die Katze ist hungrig. Das Mäusefangen macht

ihr kein Vergnügen. Doch damit verdient sie ihr

Schälchen Milch. Sie bekam es immer, wenn sie

die tote Maus dem Herrn zu Füßen legte.

Die Katze wurde satt, nur - es blieb der Hunger

danach, daß die Hand des Herrn sie streicheln

möge. Der Herr indessen beachtete sie nicht.


Übers Jahr hatte sie zwei Kätzchen geboren.

Die liebte sie über alles und leckte sie liebkosend.

Bald fingen auch die Kinder Mäuse und legten

sie dem Herrn zu Füßen. Dafür bekamen sie das

Schälchen Milch.


Die Zeit verging. Nach und nach entfernten sich

die Katzenkinder aus der Obhut der Katze.

Da war sie einsam. Sie legte sich zu Füßen ihres

Herrn und wollte gestreichelt werden. Doch je

länger sie miaute, desto wütender wurde der

Herr, bis er sie schließlich - gegen ihren leichten

miauenden Widerstand - zur Tür hinausbeförderte.


Da beschloß die Katze eines Tages, ihren Kindern

Lebewohl zu sagen und sich auf den Weg zu

machen. Wenn sie hungerte und in der morgend-

lichen Kälte stumm wartend vor den Türen saß,

gab man ihr hier und da das Schälchen Milch.

Doch die Tür schloß sich bald wieder, denn man

hielt sie für eine Wildkatze.


Einmal lockte sie ein Mann ins Haus.

Er streichelte sie sanft, während er an seinem

Whisky schlürfte. Die Katze hatte nun ein neues

Zuhause, fing wieder Mäuse und legte sie dem

Herrn zu Füßen. Doch immer mehr fühlte sie,

daß der Herr im Grunde ohne Katze leben wollte,

allein mit seinem Whisky. Nachdem der Herr

nun abermals betrunken war und sie zur Tür

hinausgeworfen hatte, machte sich die Katze leise

auf den Weg.


Nun läuft sie entlang der Autostraße. Im strömen-

den Regen findet sie ein Mann. Er nimmt sie

auf den Arm und nennt sie seine Wildkatze.


Er streichelt ihr schwarzes, durchnäßtes Fell. Nachts

schläft sie an seinem warmen Körper, tags läuft sie

über weiche Teppiche und sitzt auf seinem Stuhl.

Allmählich beginnen ihre Wunden zu heilen.


Eines Abends - die Katze ist über Felder gestreunt,

hat unter Bäumen gesessen und den Ameisen

zugesehen - verliert sie auf dem Teppich ein

Büschelchen Heu. Das macht den Herrn wütend,

er redet nun von Katzenhaar auf Teppichen und

Stühlen. Die Katze versteht nicht, denn sie liebt

das Heu über die Maßen, und sie liebt auch ihr

Fell. Der Herr bleibt unnachgiebig.


So läuft die Katze nun tagtäglich hin und her und

sammelt Katzenhaar von Teppichen und Stühlen.

Immer öfter aber kriecht sie scheu in ihr Versteck.

Dann wieder fängt sie Mäuse und legt sie ihrem

Herrn zu Füßen.

Der nimmt sie zärtlich auf den Arm.

Er gibt ihr liebevoll das Schälchen Milch und

nennt sie seine schwarze Wildkatze.




Umzug


An diesem Morgen

mir zum Geschenk

dein Warten

Weißgefleckte

dein Warten

auf meinem alten Pullover


Hin und her

sucht dein kleiner Kopf

mich

mit Menschenaugen

hinter deinem Spiegel

im Türglas


Nicht mehr

wird unser Schauen

zu dem einen Auge

das im Fragen versteht

Nicht mehr

in deinem Katzenleben


An diesem Morgen

mir zum Geschenk

dein Warten

Weißgefleckte

dein Warten

auf meinem alten Pullover

 

 

 

Überall


Überall

im fremden Haus

auf schweren leeren

Eichenstühlen

körperlos

Schneeweiß und Rosenrot

körperlos

auf abgehackten Ästen

und zwischen Frühlingsblumen

euer Mädchenlachen

erreicht nicht

mein Heimweh


In den Nächten

flecht ich

mir ein Kleid

aus weiß

und roten

Rosen



Einsam


Ich habe

das Allerliebste

verloren

nun kette ich mich

an meine Gedanken

die sagen laut

du hast uns

du hast Luft zum Atmen

Wind Sonne Regen

darunter zu wandern

und ein warmes Zimmer

wenn es kalt wird

mit Büchern Zeitungen

Telefon und Fernseher

und mit Pflanzen

die sagen leise

Wann kommst du heim




Vom Fliegen


Kleine Fäuste wie

Knospen

weich und weiß

und rot

fallen

vom grünen Uterus

Im Geäst

meiner Hände

öffnen sie sich

zum Fliegen




Schneeweiß und Rosenrot


Aus der Wunde meines Bauches

kamst du

Rosenrot

kamst du

Schneeweiß

in meinen Arm

Als Schwester Erde

ihre Früchte wiegte

im weichen Blau

Kleines Märchen

im grünen Badetuch

kleines Märchen

mit dem traurigen Auge

Zufrieden wart ihr

an meiner Hand

Ich hatte keine Fragen an das Leben

Märchen sind keine Geschichten

mit Anfang und Ende

Man muß sie behutsam hegen

wie klingendes Glas

Doch es gab Tage

da strichen meine Hände

nicht durch euer Haar

Schneeweiß und Rosenrot

Was macht mein Kind - was macht mein Reh

Es sind des Märchens dunkle Schatten

wenn ihr mich anseht

Schneeweiß und Rosenrot

mit Frauenaugen

weiß ich alles

über mein Leben

und weiß auch

ich finde sie nicht mehr

eure kleinen Gesichter

eure kleinen Hände

und finde sie doch wieder

in eurem Wort

und find ein grünes Badetuch

und find das weiche Blau

Märchen sind ewig



Der Garten


Morgens

träumte ich

das Haus im grünen Meer

mit einem Strauch von weißen Rosen

das Blau vom Rittersporn

zum Rot der Beeren


Mittags

träumte ich

die Sonne in den Zweigen

Rosenrot

saß am Klavier

und im Gras

Schneeweißchen


Abends

fühlte ich

die Schatten wuchsen länger

mit den Bäumen

und deine Hätschelblume

Schlinggewächs

kroch über Rittersporn und Rosen




Grund


Ich bin

Topfpflanze

Meine Wurzeln

hungern

auf dem Grund

des Topfes


lch bin

transportierbar

pflegeleicht

funktional

bis in die

Blüte


Du

hast Erde

so hast du

auch

stets

deinen Grund


Ich schenkte dir

die Topfpflanze

pflegeleicht

funktional und

transportierbar nach dem

Abschied


Immer noch

treibt sie

Grün

in meinen Tag

Aber nie hat sie

geblüht




Mythos



Zeit der Fische


Im Gang der Wellen

mein Haar

Neptunus

plutoniumbeperlt

lautlos

wogt

an deiner Brust


Durch siechende Sonne

über Erdenmoleküle

trägst du mich

meine Flossen

eingehüllt

in grüne Seide

Doch abends

am Jahrtausendhimmel

gebettet

zwischen Galaxien

lautlos

schwimmt

unser kleiner Stern




Hexengebet


Nun ruhe ich aus

Große Mutter

in deinem Arm

ich fühle

deinen geduldigen Atem

in der Rinde des Baumes

im Säuseln des Windes

im Duft der Erde

und im leisen Fall des Schnees


Meine Wunden

jahrtausendealt

sie bluten wieder

Blut in der Höhle des Waldes

beim sterbenden Kind

Blut auf Altären für Midgard

Blut auf Altären der Inquisition


Nun ruhe ich aus

Große Mutter

in deinem Arm

aus meinen Wunden

jahrtausendealt

fließt neues Blut


Wann

Große Mutter

kommt deine Zeit




Andromeda


langsam kommen wir

auf empfang die

wir schon

immer heimweh

hatten zwischen

euren gedanken und

unserem herzschlag

liegt der

gedachte

raum

so sollte man

es schreiben und als

geschenk eures

abschieds

auch das

heimweh

das unsterbliche damit

es uns nicht

verlasse



Der Komet


Hale Bopp

von den Zyklopen

im Reiche Plutons

weit hinter den kalten Monden

Hellgleißendes Einauge

Im Eis der Pupille

verborgen

der Tempel von Ur

und Babylon

Dein Wissen vom Nichts


Heute

vor deiner Wiederkehr

im fünften Jahrtausend

siehst du die Erde

furchtsam

teleskop- und menschenäugig

und auf dem Asphalt der Städte

wälzt sich

furchtlos

Polyphemos





Heimat


Heimat


Heimat

Fee meiner Kindertage

unter Dämonen

wohnst du noch

in den Ästen der Erlen und Weiden

am Fluß

und sonntags

im Wald


Heimat

flüchtig

im erdbraunen Kleid

Seetang vom toten Teich

über gebrochenen Flügeln

stellst mir ein warmes flackerndes Licht

neben das erloschene


Du kommst

mit einer Woge Schlüsselblumen

und dem Duft des Windes am Fluß


Du kommst allein

und bringst mir nur

das Bild von ihnen


So bleib doch

bleib doch

Hexe vom Fluß

Alraune

mit gebrochenen Flügeln


Heimat

flüchtig


im erdbraunen Kleid









Mutter


Mutter

bleich und vogelleicht

embryonenhaft

schwimmen

deine Hände

ins Zeitlose

Ausatmen

der Erde

Sie war dein Heimweh

bis in die Zeiten

der Berge

und gab dir

deinen leichten Gang

dein schwarzes Haar

vom Gold der Sonne

schwesterlich

zu deinem Schmerz

Wo bin ich

Mutter

Irgendwo

Du wartest

Mutter

Wir sind angekommen

Laß dich umarmen

bevor du gehst



Vater


wenn ich es wagte

zu sagen

ich hab dich lieb

gib mir den Schlüssel

zu deiner Festung

aus Erinnerung

ich beträte sie

mit einer zerschlissenen

Fahne

darauf stände

verblichen

das Wort

NIE WIEDER KRIEG

und wenn ich

riefe

in diese Festung

aus Erinnerung

ICH WILL

ZU MEINEM VATER

wenn ich es wagte

Wie könnte ich

dich

befreien



In jenem Garten


In jenem Garten

an alten Ziegelmauern

gehe ich

müde

durch verwelkte Zeit


Finde ich

kleine Skulpturen

Bruder und Schwester

mit Augen aus Stein


In jenem Garten

an alten Ziegelmauern

sind wir Stein

auf verwelkter Zeit

und halten

geschwisterlich

die Totenwache



Schwester


Deine Füße

Schwester

wissen

daß sie weiter

müssen

hin über Glut

die saugt

das Gewesene

die brennt

das Kommende

in deine Füße

die wissen

daß sie weiter

müssen

hin

über weiche Erde

da trägt eine Blume

dein Mädchengesicht




Bruder


Weitab

vom Kriegsgeschehen

der Begriffe

wacht

die weise

die neunköpfige

Hydra

vor der

Herzmitte

Das ist es

wirst du mir sagen



Großvater Großmutter


Großvater

Großmutter

Hinter weißen Schatten

träumt das

Beerengärtchen

träumt der

Apfelbaum

Das Kind

es friert

Die Beeren sind

aus Glas

Zeit weht in

weißen Schatten

übers fremde Dorf



Sonntag


Sonntag

an Großvaters Hand


Der Sarg

von Schneewittchen

ist gläsern


Nonnen

spreizen ihre Flügelhauben

weit und tief

hinab auf

meine Kinderschuhe



Noch


Noch

die Mutter

Decke

hingebreitet

Noch

Nahtstellen

Einbrüche

Wo du Halt machst

des Messers Schneide

aufweinend

in dir

der Vater

Noch

die Mutter

Decke

hingebreitet

Noch



Das Dorf


Über Asphaltwege

baumamputiert

hin zum Dorf


Aufgebahrt liegt es

eine blumengeschmückte

Leiche

auf dem grünen Rasen von

Disneyland

plunderbewußt

mit Jägerzaun

und Salzteigschmuck


Irgendwo

muß er doch sein

der Garten

meiner Großmutter

mit Huflattich und Gänseblume

und mit dem Holunder

am Hühnerstall




Abschied


Wenn

am Bahnsteig

hinter der S-Bahn-Fensterscheibe

puppengesichtig

mein Kind

den Abschied lernt


Wenn

die Schwester

mir vor der Abfahrt

den Bund Liebstöckel bringt

und das Brotrezept

und ich spüre

es war wieder Sonntag

und lange noch

hätte sie für mich Zeit


Wenn

die Mutter

mühsam

sich aus dem Rollstuhl

tastet

in die Leere meiner Hände

die nichts geben

als diesen Abschied


Wenn

der Vater

umsichtig

das Gartentor aufmacht

und sein Händedruck bedeutet

nimm hier die vielen

ungesagten Worte


Wenn

der Bruder

plaudernd

mir schließlich noch

den Zeitungsausschnitt reicht

und ich begreife

nicht Abschied

sondern Wiederkommen


Wenn

am Bahnsteig

hinter der S-Bahn-Fensterscheibe

puppengesichtig

mein Kind

den Abschied lernt



La Mancha


La Mancha

ein Feldweg von roter Erde

endlich hier

umarmt mich

die Sonne

läßt meine Hüften schwingen

Im Hain die Zikaden

und grünen Oliven

Wann einmal

bin ich hier gegangen


Im irdenen Krug

an der weißen Mauer

von Santa Maria

lastet schwer

meine Trauer

Überm Distelfeld

zeichnet flirrende Hitze

das Kreuz


Goldgeschmückt

zogen Los Moros

und du mi amigo

über die Sierra

Glitzert

ein Tingeltangelhalbmond

auf la Mancha

und das Bettelweib

an der Plaza de Toros



Dolomiten


Neuschnee

Darüber ziehen

Spuren

die Zeit

Postkartenblau

ist kein bleibendes Dach

über Pisten und

Parkplätzen


Alpe de Siusi

Der Schlern

ist eine schwarze Sphinx

hochfüßig hinabblickend

ins Tal

Auf dem Rücken

Neuschnee


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früher war es anders



Inhalt´- früher war es anders

Frühe Bilder 2

Landschaft 3

Sonntag 6

Kindergarten 7

Winter 9

Großfamilie 11

Der Sattlers-Großvater 12

Die Sattlers-Großmutter 13

Die Reitze-Großmutter 17

Der Reitze-Großvater 21

Immer noch ist Krieg 23

In der Volksschule 34

Ferienkinder 36

Nachbarskinder 37

Erntezeit 37

Dorfgestalten 39

D’r Baumwart Rommel 39

D’r Bolezei 40

D’r Elias 40

Kächlamaurers Hans 41

Bäckers Ernscht 41

D’r Hochberger 41

`s Fräulein Kobler 42

D’r Lehrer Häußler 43

Hubers Nähre 45

D’r Nachtfugeler 46

Der Krieg geht zu Ende 47

Die Amerikaner kommen 50

Vater kehrt heim 54

Die große Not 56

Die neue Zeit 61





Überall sind sie mit mir, ziehen an mir wie schwere Gewichte hin zu einem festen Grund, der fern ist und nie unter mir.


Es sind meine Wurzeln und sie reichen hin zum Dorf der Kindheit.


Hingeschmiegt liegt es am Berg, ganz eins mit ihm unterm Schutz des Waldes, ganz eins mit dem Fluss zu seinen Füßen, der aus den Bergen kommt, aus dem Gebirge, das bei Föhn am Horizont steht wie eine Kulisse, hinter der es - wie die Reitze-Großmutter sagte - hinunter geht in den Süden.


So ist es wohl in mich gekommen, das Heimweh. Muss ich es weitertragen als das Abschiedsgeschenk eines klaren Bergquells, den Ahnen einst mitgegeben auf die lange Reise, mitgeschickt durch das Wurzelgeflecht der Generationen? Muss ich es weitertragen als eine Sehnsucht der Grenzgänger, die ins Unbestimmte weist, ins Unerschlossene, letztendlich aber hin zur Heimat?


Das Kind erlebt Heimat aus dem Gefühl. Was bleibt, bedarf nicht der Deutung. Was bleibt, ist die Schwere der Wurzeln, ist die Magie der Bilder aus einer längst vergangenen Zeit.



Frühe Bilder


Landschaft


Der Bach

Er kommt von Stetters Breite her. Da ist er noch der Breite Bach, da bauen die Buben Sperren und fangen Forellen und die Mädchen machen Sträuße aus Sumpfdotterblumen. Wir nennen sie Wasserpfannen. Im Dorf fließt der Bach neben der Hauptstraße her. Zwetschgenbäume, Wiesenschaumkraut und Brennnesseln geben ihm Schatten. Gemächlich trägt er Enten und Gänse, wäscht einer Mutter das Gröbste aus den Windeln und weiter unten der Bäuerin die Erdäpfel. Bei der Bachputze kriechen wir durchs Rohr unterm Platz, bis wir am Nestle wieder herauskommen. An warmen Sommerabenden sitzen wir auf dem Brückle, jedes Nachbarhaus hat sein eigenes: Zuerst kommen Herta, Hanna oder Klara, dann ich, dann Manfred, Helga oder Günter und weiter oben beim großen Birnenbaum die Anni. Wir waschen unsere Barfüße. Vorm Haus sitzen die Mütter und Großeltern auf dem Bänkle und sehen uns zu.


Der Gießen

In der Mitte reicht mir das Wasser bis zum Bauch. Wir baden in Unterhosen. Unter der Brücke gibt es ein tiefes Loch, ein boden-loses, gefährliches Dunkel. Das muss ich bezwingen. Mit Herzklopfen und sieben Froschzügen zappe ich hinüber. So lerne ich Schwimmen. An der Mühle, gefährlich nahe bei der Säge, spielen wir mit den Brettern Flößen. Die Müllerin schickt uns ihre Hunde. Die bellen nur und trauen sich nicht ins Wasser. Frau Mall umgibt das Geheimnis der Märchenhexe. Ihre Stimme krächzt. Heimlich holt sie unsere Kleider ins Haus. Wir bekommen sie zurück, wenn wir alle ihre Fragen beantwortet haben. Es geht um Neuigkeiten aus dem Dorf. Frau Mall verlässt ihre Mühle nie. Nur der Müller kutschiert herum, „von Wirtschaft zu Wirtschaft“, sagt die Großmutter Vier Schimmel ziehen die Schees. Früher einmal habe sich die Marie, die Müllerstochter, im Baggerloch ertränkt.


Das Baggerloch

Es hat das Grün des Nixenteiches, wechselnd zwischen Moos, Türkis und Blau unter tiefhängenden Weiden. Die kleinen Fische schlagen Purzelbäume, die großen streifen um unsere Schenkel. So schwimmen wir zu den Inseln. Auf der Wiese haben wir unsere Teppiche ausgebreitet. Bei Erna spielt das Grammophon.


Die Iller

Vom Baggerloch aus geht ein Pfad durch Griesgestrüpp und Büsche hinüber zur Iller. Ihr glasklares Wasser kommt von den Bergen. An den Ufern ist es knöcheltief, in der Mitte strudelt es um unsere Waden und Knie. Früher, bei der Schneeschmelze, sei das Wasser bis ins Dorf gekommen, an der Mühle fast bis zum oberen Stockwerk. Dann hätten die Männer den Illerdamm gebaut und später dann den zweiten beim Baggerloch. Die Iller hat breite, weiße Kiesbänke. Dort machen wir uns warme Sitzbadewannen und lassen flache Steine im Wasser hüpfen. Die dicken, weißen heißen Feuersteine. Wir schlagen sie unermüdlich gegeneinander, bis es Funken gibt und brandig riecht. Am anderen Ufer steigen die Bayern ins Wasser. Es ist auch ihre Iller. Die Iller gehört uns allen.


 



Sonntag


Der Himmel hat das Blau der Wegwarte und mittendrin hängt golden wie ein Bündel Stroh die Sonne. Um die Bretterzäune ranken sich Kapuziner und Wicken. „Der Mai ist gekommen, die Bäume schlagen aus ...“ spielt am offenen Fenster eine Ziehharmonika. Auf dem Platz steht der Maibaum, bunte Bänder wehen an den Kränzen. Das Bänkle ist besetzt in seiner ganzen Breite, Männer und Buben strecken ihre Füße von sich. Ich klettere auf die Mauer von Platzwebers Miste. Da sitzt schon der Bert in seiner braunen Uniform. Bert ist Hitlerjunge. Er trägt weiße Häkelkniestrümpfe mit Bommeln dran.


In der Stube gibt es ein festliches Gedränge. Die Kirche ist aus. Verwandte murmeln durcheinander, miteinander. Die einen kommen aus dem Nachbardorf, dem oberen, dem gleichnamigen, das man sich wie den Zwilling denkt, die anderen sind aus dem dritten Dorf, dem Drilling. Der liegt drüben hinterm Wald in einer Talmulde. Man nennt sie die Lochbären. Es sind die Wainer Bäsen und Vettern. Behäbig und gewichtig stehen sie herum, die Bäsen alle in schwarzen Kopftüchern. Im Dunkel der Rockschöße riecht es nach Mottenkugeln. Sonntag mit den Urgesteinen der Diaspora. Man festigt die Drillingsbande.



Kindergarten


Er hat große, grüne Fensterläden und ist ein Teil vom Rathaus. Im Hof stehen zwei mächtige, alte Kastanien. Ich presse mein Gesicht fest durch eine Luke des grüngestrichenen Bretterzaunes und sehe in die Freiheit. Das ist die staubige Dorfstraße. Wie komme ich bloß auf die Straße? Im Kindergarten ist ein Feiertag. Mit Tante Hilde, der Kindergärtnerin, versammeln wir uns am Rathauszaun. Tante Hilde trägt ein weißes Schwesternhäubchen mit schwarzem Hakenkreuz. Die schwarz-weiß-rote Fahne wird hochgezogen. Alle singen das Horst-Wessel-Lied: „Die Fahne hoch, die Reihen fest geschlossen ...“. Mitten im Lied schwätze ich mit Annemarie. Sie ist ein Ferienkind aus der Stadt, mir treu ergeben und immer an meiner Seite beim Kichern und beim Schwätzen. Tante Hilde unterbricht das Dirigieren, zieht uns beide an den Ohren ins HJ-Heim - das ist auch unser Schlafsaal - und schließt uns dort ein. Zum Vesper sind wir wieder frei, denn der Lebertran muss geschluckt werden. Jeden Tag die Qual mit dem Lebertran: das Würgen gleich nach dem Vesper. Oskar ist mein einziger Leidensgenosse. Zusammen rennen wir hinaus ans Waschbecken zum Spucken.

Am Nachmittag klettern wir auf unsere Bastliegen im HJ-Heim. Alle müssen schlafen. Tante Friedel sitzt auf einem kleinen Stühlchen und spielt auf der Flöte: „Maikäfer flieg, dein Vater ist im Krieg …“




Winter


Die Furchen der Dorfstraßen sind hart gefroren und unsere Schritte hallen wie auf Bretterboden. Es schneit. Frau Holle, weiß ich, schüttelt ihre Betten aus. Wir tragen alle den gleichen dunklen Trainingsanzug, zweiteilig, das Oberteil mit Reißverschluss. Mit dem Rodeln beginnen wir am Schulberg, biegen gekonnt bei Bäckers in die Hauptstraße ein und fahren, wenn’s läuft, bis zum Spritzenhaus. Oder wir kommen die Rusela herunter, dass es Funken schlägt, sofern man einen Schlittschuhleiter hat. Der sitzt vorn auf dem Schlitten und ist gewissermaßen der Star und der erste Mann, in den ich mich verliebe.

Nun zieht's uns in den Brühl zur Mutprobe. Wir fegen die vereiste, fast senkrechte Bahn hinunter über die Schanze. Die haut uns in einem weiten Satz über den Bach.


 



Großfamilie


 

Der Sattlers-Großvater


Den Großvater Walcher nennt man den Sattler, weil er Sattlermeister ist. Man sagt: bei Sattlers. Das ist die Heimat meiner Mutter, „Sattlers Anna“. Großvaters Werkstatt, ein kleines separates Haus, wird getrennt vom Haupthaus durch einen schmalen Gang, das Gängle. Ein paar Stufen geht’s hinunter ins Halbdunkel der Werkstatt. Es riecht nach Schnupftabak und Lederzeug. Großvater sitzt in seiner grünen Schürze auf dem Hocker und repariert Pferdegeschirre, bezieht einen Stuhl mit Leder oder flicht Schuhe aus Seegras. Das wächst im Wald und damit füllt er auch die Matratzen. Früher hat für ihn ein ganzer Tross Seegrasrupferinnen gearbeitet, Frauen vom Dorf und eben die eigenen Töchter, die älteren vor allem: die Regine und die Marie. Großvater macht auch Holzsandalen. Sie heißen Klepfer. Er nagelt Riemen auf die Holzsohlen. Dank Großvater habe ich einen eigenen stolzen Schuhbestand: Seegrasschuhe und Klepfer in verschiedenen Ausführungen, darunter immer ein paar Holzsohlen mit ausgerissenen Riemen.

Großvater nimmt Schnupftabak aus der Blechdose, stopft ihn feierlich in seine großen, schwarzen Nasenlöcher direkt über dem Schnurrbart und lehnt sich weit zurück. Wie angewurzelt bleibe ich stehen. Beide warten wir auf das Niesen. Nun kommt es dreimal hintereinander mit Urgewalt und dröhnend, dass es mir weh tut.

Auf Großvaters Schreibtisch, der Türmchen hat und ein Wachstuch mit Tintenflecken, gibt es zwei riesige schwarze Bücher. In das eine schreibt er in Sütterlin-Schrift die Schulden seiner Kundschaft. Am Sonntagvormittag macht er Kundenbesuche. Kundschafttrinken nennt es Großmutter. Das andere Buch hat viele Druckbuchstaben in schwarzer, verschnörkelter Schrift und Fotografien in Braun-Weiß: alte Männer, junge Männer, die einen mit Vollbart, die anderen mit Schnurrbart wie Großvater, dazwischen manchmal eine Frau mit bauschig hochgestecktem Haar, hochgeschlossener Bluse und einer Brosche obendrauf. Es ist mein Bilderbuch. Oft sitze ich allein mit ihm am Küchentisch. Später einmal kann ich bei den Fotografien das Geschriebene lesen: Namen wie Bebel, Liebknecht und Rosa Luxemburg.



Die Sattlers-Großmutter


Sie ist eine geborene Stetter, ist klein und zierlich und hat eine helle, leise Stimme. Großmutter nimmt mich auf den Schoß und singt „Kommt a Vogel gefloga...“ oder erzählt die Geschichte von Jakob und Anna, die im Keller naschen, als die Eltern fortgegangen sind, die am Ende aber, als sie satt sind, ein schlechtes Gewissen haben, bis Anna sagt: „Einer hat’s doch gesehen, der liebe Gott. Der sieht alles.“

Großmutter erzählt Geschichten, wahre Geschichten von der Spinnstube, wo an Winterabenden die Dorfjugend zusammenkam. Sie erzählt von einem schaurigen Spiel, wo sie in der Dunkelheit ein Mädchen auf den Kirchhof geschickt haben. Die sollte ihre Spindel in ein Grab stecken als Zeichen ihres Mutes. Das Mädchen ging also hin zum Kirchhof und kam nicht mehr zurück. Man fand sie tot auf dem Grab liegend. Ihr Rocksaum war mit der Spindel in der Erde festgesteckt.

Großmutter erzählt auch von der Postkutsche und vom Postillion, wie er einmal die Woche ins Dorf gekommen sei. Auf dem Platz habe er sein Horn geblasen, dann seien alle Leute aus den Häusern gekommen und zur Kutsche hingelaufen.

Eines Tages bekommt Großmutter vom Rathaus ein Schächtelchen mit einem goldenen Kreuzchen an einem blau-goldenen Band. Es ist das Goldene Mutterkreuz und ein Geschenk vom Führer, weil sie neun Kinder großgezogen hat.

 

Die Großeltern sterben im März, zuerst Großmutter, ein Jahr später der Großvater. Drei Tage sind sie im Hausgang aufgebahrt. Die Nachbarn und viele andere Leute bringen ein Bukett oder einen Kranz, kommen zum Kondolieren, wie meine Mutter sagt. In der 2 Wärme der Märzensonne riecht es nach Tannen- und Buchsbaumzweigen. Großmutters Gesicht ist mit einem weißen Taschentüchlein bedeckt. Jedes Mal, wenn ich die Stiege herunterkomme, sehe ich unterm Tuch nach Großmutters Gesicht. Sie ist immer noch tot. Wenn die Leich ist, macht mir meine Mutter eine riesige, propellerartige, schwarze Schleife ins Haar direkt hinter meine Haarrolle, den Hahnenkamm. Jetzt läuten die Kirchenglocken. Vor unserem Haus stehen zwei Rappen mit dem Totenwagen. Sie tragen ein schwarz-silbernes Pferdegeschirr.



 

Die Reitze-Großmutter


Sie ist eine geborene Walcher und Vaters Mutter. Mein Urgroßvater sei der Johannes Walcher und von Beruf Schmiedemeister gewesen. Deshalb seien die Nachbarinnen, also die Schmieds Friedel und die Metzgers Marie, auch noch Tanten von mir. Also sei die Metzgers Irene von gegenüber nicht bloß meine Spielkameradin, sondern mit mir verwandt. Das solle ich mir merken. Oft erzählt sie mir von ihrer Mutter, die von Stetters Hof gekommen und früh verstorben sei. Vier Kinder habe sie zurück-gelassen: sie, meine Großmutter, im Alter von drei Jahren, ihre beiden Schwestern, also meine Schreiners Bäs und die Bäcka-Bäs und dann noch den Habdanks Vetter. Wenn Großmutter an ihrer Singer-Nähmaschine sitzt und mit den Pedalen rasselt, mache ich aus Flicken Kleider für meine Zelluloid-Puppen. Zum Morgenessen gießt Großmutter den Kaffee aus geröstetem Korn und warme Milch in die Ohrenschüsseln. Es fehlen aber noch die frischen Wecken, die Voggesser. Großmutter bindet das Kopftuch um, nimmt die Tasche und macht sich auf zur Bäcke, ihrer Schwester. In der Biegung zu Gersters Hof sehe ich sie verschwinden und ich verstehe nicht, warum sie beim Fortgehen immer kleiner geworden ist.

Jeden Herbst zur Kirchweih backt Großmutter Schnitzbrot aus gedörrten Birnen, das Zeltes, und zu Weihnachten die Springerle aus Bisquitt-Teig mit Anis.

Fürs Springerles-Muster nimmt sie den Holzmodel. Den Teig rührt sie auf ihrem Schoß eine volle Stunde, damit ihre Brötla einen hohen Sockel bekommen. „Koi Haus em Dorf hot so hohe Schprengerlesfüßla wie i“, sagt Großmutter jedes Jahr an Weihnachten.

Die Reitze-Großmutter kann Hühner schlachten. Sie holt dazu das kleine Beil, den Schnauper, legt die Henne auf den Hackstotzen und schlägt ihr den Kopf ab. Nun liegt der Hühnerkopf im Gras neben dem Hackstotzen,

 

die Henne schlägt mit den Flügeln und hüpft kopflos ein ganzes Stück hinaus in den Garten.

Im Sommer fahre ich mit Großmutter zum Biberacher Schützenfest. Für die Biberacher Verwandten packt sie Brot, Eier, Schweineschmalz und Zwetschgengsälz in zwei große Pappschachteln und lädt alles im Morgengrauen auf den kleinen Leiterwagen. Den ziehen wir zusammen durch den Wainer Wald zum Bahnhof nach Großschafhausen; da gibt es einen kleinen Wartesaal mit zwei Bänken. Im Zug nimmt Großmutter gemütlich die Pappschachteln auf den Schoß und sagt: „Pscht! D’Lokomotiv! Hörsch, wie se pfeift?!“

Zum Palmsonntag färbt sie die Eier braun in einem Sud von Zwiebelschalen. Der Osterhase legt sie immer unter den eisernen Schuhabstreifer, hinter eine Holzbeige oder in den Tannenreisighaufen.

Großmutter erzählt auch von ihrer schweren Zangengeburt. Im Grund habe Kemmerles Bäbe ihr und meinem Vater das Leben gerettet. Die sei zu Fuß nach Dietenheim gelaufen, um den Doktor Fritz zu holen.

 



Der Reitze-Großvater


Seine Brille ist ein fahrradähnliches Gestell mit dicken Gläsern.

Wenn mir das Hoppe-Reiter-Spiel mit ihm langweilig wird, drehe ich sein Gesicht ruckartig nach links und nach rechts. Großvaters Trick besteht darin, dass er seinen Hals plötzlich stocksteif macht und so das Gesicht auf einer Seite zum Stehen bringt, bis es mit einem gewaltigen Ruck zur anderen Seite hin schnellt. Dann bricht er in lautes Gelächter aus.

Großvater riecht nach frischem Holz. Seitdem bin ich der Meinung, ein Mann müsse riechen wie Großvater. Am Samstagabend darf ich mit ihm in der großen Zinkbadewanne baden. Immer trägt er seine schwarze Badehose. Nachts schlafe ich im Gräbele zwischen Großvaters und Großmutters Bettlade.

Großvater schlägt mich nicht. Den langen Stecken hat er als einen Wunderstecken aus dem Wald mitgebracht. Wenn ein Spielzeug weit unters Küchenbüfett gerollt ist, kann man es mit dem Stecken wieder hervorholen. Das üben wir zusammen. Dann werde ich übermütig und schlage ihm mit dem Stecken fest auf die Brille. Er wird zornig und wirft mich in hohem Bogen auf die Matratze, aber es tut nicht weh.

Wenn Großvater denkt, fasst er an die Haut unter seinem Kinn und zitiert seinen Schopenhauer. „D’r Mensch isch von Natur aus o’zfrieda. D’ Welt isch bloß Lug und Trug. Drom sott ma mit dem Bissle, was ma hot, z’frieda sei. I bleib für mi ond lass de andre ihr Fraid.“

Großvater verdient sein Geld als Waldarbeiter. Jeden Morgen gibt ihm die Großmutter im Holzmacher-Kännle das Essen mit auf den Weg.

Einmal, als die Balzheimer den Adolf Hitler wählen sollen, geht Großvater mit der Großmutter ins Rathaus, aber er macht das Kreuzchen nicht. Großmutter wird ungehalten und sagt laut: „Kascht etz du et au doa wie andere?!“

Bedächtig, ja andächtig richtet Großvater im Herbst und Frühjahr den Obst- und Beerengarten. Er macht mir eine Holzschaukel zwischen zwei Zwetschgenbäumen. Dann plötzlich muss er wegfahren, nach Lettland an die Front. Ich gehe in den Abort neben Großmutters Waschküche, verriegle leise die Tür, setze mich aufs Plumpsklo und weine.

 

 

 

 

 

Immer noch ist Krieg

 


Tante Frieda ist die jüngste von Mutters Schwestern und sie näht in Sattlers Stube für die Leute Kleider und für mich Dirndl aus geblümtem oder kariertem Bettzeug, der Ziach. Im Radio sind kleine Männer versteckt. Jetzt singen sie „Heimat, deine Sterne...“ und Tante Frieda singt mit. Auf ihrer Nähmaschine sitzt eine ganz dicke Heftfadenrolle. „Tante Frieda, wenn d’ Heftfadaroll aus isch, isch dann d’r Krieg au aus?“ frage ich sie.

In der Schlafkammer von Sattlers Großeltern hängt das Bild vom Martin Luther, wie er kniend betet und dabei zum lieben Gott hinaufschaut. Und drunten in der Stube schaut der Adolf Hitler ganz groß von der Wand herunter. Ich habe eine dringende Frage an Mutter. Sie unterhält sich gerade mit ein paar Leuten. „Mama, wer isch mehr, d’r liebe Gott oder d’r Adolf Hitler?“ Mutter fühlt sich gestört und gibt irgendeine lustige Antwort. Die lässt mich unzufrieden, denn sie trifft nicht den Kern meiner Frage.

Bei Kreckers lebt die Frusa, eine junge Gefangene aus Russland. Mit singender Mädchenstimme spricht Frusa gebrochenes Balzheimerisch. Ihre Bewegungen sind fließend, dabei lösen sich glatte blonde Strähnen aus ihrem Knoten, fallen über die schrägen Kirgisenaugen und hohen Wangenknochen. Alle mögen Frusa und bei Kreckers, wo sie als Magd arbeitet, ist man gut zu ihr.

An einem Tag ist Frusa nicht mehr da. Ich höre das Tuscheln der Erwachsenen. Man habe Frusa fortgetan in ein Lager. Einmal ist auch Hascha verschwunden, die dunkelhaarige Fremdarbeiterin aus Polen. Kurz zuvor hat sie noch in Stetters Hof Radfahren gelernt.


Der Landjäger radelt durchs Dorf in brauner Uniform. Alle grüßen mit „Heil Hitler!“ und heben die rechte Hand bis Schläfenhöhe. Wenn der Landjäger vorbei-gefahren ist, sagt man wieder „Grüß Gott!“ und „Bfüa Gott!“ zueinander.

Mutter schickt ein Feldpostpäckchen an meinen Vater, der an der Front ist wie die anderen Väter. Die Front muss etwas sein wie ein Beruf, den jetzt fast alle Männer haben, ein Beruf, der mit dem Vaterland zu tun hat. Wenn Mutter weint, weiß ich: Vater hat wieder nicht geschrieben.


Der Onkel Tobi ist Soldat an der Ostfront und er ist das jüngste der neun Sattlers-Kinder. Im Botanischen Garten in Tübingen hat er eine Gärtnerlehre gemacht und in dieser Zeit mit Bleistift viele schöne Bilder gemalt von Tieren, Pflanzen und Landschaften. Die darf ich anschauen. Einmal kommt Onkel Tobi heim in Sattlers Haus. Er trägt Uniform. In der Küche sucht er sich umständlich und unsicher einen Platz. Warum kann er nicht lachen? Seine Augen versteckt er hinter dicken, runden Brillengläsern und er fragt mich ernst, ob ich die Christel sei.


Besuch kommt: der Onkel Fritz. Er stammt aus Oberbalzheim. Man sagt „Wirts Fritz“ und er ist der Mann von Tante Gretel. Die Sattlers Großmutter geleitet ihn in die Stube. Da steht er neben mir, riesengroß, in Uniform und schwarzen Stiefeln. Der Schaft reicht mir bis zum Bauchnabel. Ich fühle mich winzig, aber ohne Angst, denn Onkel Fritz verbreitet eine ganze Stube voller Fröhlichkeit.

Man lebt im Dorf mit einem grauen Gespenst. Das ist das Wort „gefallen“. Wenn die Mütter, die Großmütter und die Großväter weinen und am Denkmal vor der Kirche ein Trauergottesdienst ist, dann weiß ich: Wieder einmal ist das graue Gespenst in einem Haus gewesen und hat die Todesnachricht gebracht.

An einem Nachmittag steht Tante Gretel an der Haustür, den kleinen Edgar Frieder auf dem Arm, die Ingrid an der Hand. „D’r Fritz isch tot“, sagt sie. Dann bricht sie zusammen. Großmutter nimmt sie in die Arme und führt das vaterlose Dreigespann behutsam in die Stube.

 


Vater lebt. Er ist auf Kurzurlaub, nimmt mir immer wieder die Mutter weg. Aus unverständlichen Gründen habe ich keinen Zutritt zu Mutters Schlafzimmer. Ich sehe Vater durch die offene Tür, vielmehr sehe ich seinen großen, breiten Rücken, sehe, wie Vater mit dem Lineal hantiert, wie er schreibt und liest und immer nur liest. So halte ich Abstand bis zum Sonntagmorgen. Dann schlüpfe ich zu Vater ins Bett. Eben hat er noch Französisch gelernt. Gut gelaunt legt er die Bücher auf den Nachttisch und erzählt mir die Geschichte von dem Mädle und dem Vater, die morgens nicht aufstehen wollen, bis das Kaffeegeschirr die Stiege heraufpoltert und schreit: „Schtandet auf, schtandet auf! ’s isch Tag!“


Mutter und Vater feiern Hochzeit. Vater trägt Uniform und Fliegermütze. Auf dem großen Eichentisch steht etwas Kreisrundes und Weißbuntes, etwas, das ich noch nie gesehen habe: Eine Torte! Tante Guste, meine Patentante, hat sie gebacken.


Die Glocke mit Klingelknopf ist im Hausgang rechter Hand neben der Ladentür. Man geht die Stufe hinunter ins schummrige Innenleben des Ladens. Es riecht nach Zichorie und Bohnerwachs. Links neben der Stufe lehnen Peitschenstecken, die Geißeln für die Kühe und Gäule, teils mit, teils ohne Riemen Darüber hängen farbige Pferde-Stoffohren. Ein Mann sitzt rauchend auf dem Ladentisch, unterhält sich mit Mutter. Mutter ist schön. Das blauschwarze, glatte Haar hat sie im Nacken geknotet. Ihre Haut ist sonnenbraun und duftet nach Heu. Ich rieche an ihren Armen und entdecke, dass der Geruch stärker wird, wenn ich ihre Haut ablecke.

Und wieder gehört Mutter ganz den Leuten. Eine Bäuerin kommt hereingestürmt, bringt eine leere Flasche. Mutter geht damit zum Essigfass, schaufelt danach Zucker aus dem Jutesack in eine braune Papiertüte, die Guck. Es gibt sie als Spitztüte und für größere Mengen rechteckig mit Boden. Mutter setzt die Guck in die Waagschüssel und wiegt mit Kilogewichten aus Eisen und mit kleinen Grammgewichten aus Messing.


In der warmen Stube brennt das Licht, die Holzscheite knistern im Kachelofen und im Rohr braten ein paar Äpfel. Dabei wackeln sie gemütlich hin und her. In einer Kachel bähen gerädelte Kartoffeln in der Milch und weiter hinten singen zwei Bettflaschen, eine kupferne und eine aus Zink.

Mutter sitzt an Großvaters Schreibtisch und klebt Lebensmittelmarken in ein Heft. Die hat sie aus den Lebensmittelkarten ausgeschnitten, mit denen man bei ihr einkauft. Es gibt Karten für Selbstversorger, die Bauern, und andere für Teilselbstversorger. Das sind Leute, die keinen Bauernhof, dafür aber Hühner und ein Schwein und eventuell noch einen Obst- und Gemüsegarten haben. Dann gibt es auch noch die Normalverbraucher. Die haben weder Landwirtschaft noch eine Sau zum Schlachten.

Das Fressen für unsere Suzzl darf ich manchmal selber richten. Ich zerdrücke Kartoffeln, schütte Kleie und Wasser darauf und knete alles zu einem Brei. Dann gehe ich mit dem Saukübel in den Stall. Suzzl hat Gesellschaft: drei graue Wanderratten. Zu viert fressen sie gemütlich die Reste aus dem Trog.

Nun ist die Suzzl ungefähr ein Jahr alt und soll geschlachtet werden. Vom Laubenfenster im ersten Stock sehe ich hinunter auf den Hinterhof. Der Metzger läuft mit Suzzl im Kreis herum, sie an den Hinterbeinen haltend. Nun schießt er ihr die Kugel zwischen die Augen. Mutter und Tante Frieda sitzen in der Hocke bereit mit der Schüssel, dann rühren sie mit bloßen Händen das Blut, das aus der toten Suzzl fließt. Daraus macht der Metzger die Blutwurst. Zum Speckschneiden kommen die Nachbarinnen. Großmutter heizt im Hof den großen Kessel für das Sauerkraut und Kesselfleisch. Vom Küchenherd nimmt sie mit einem Haken die Ringe, versenkt in der Öffnung die große Messing-Henkelpfanne und bringt darin die Speckwürfel zum Schmelzen. Dann gießt sie das Fett in blaugraue Steinguttöpfe, die Schmalzhäfen. Von den Specküberbleibseln, den Grieben, esse ich bis mir übel wird. Die Metzgersupp bekommen alle, die geholfen haben: eine Schüssel Kraut mit Kesselfleisch und warmer Blut- und Leberwurst.


Ich stehe im Vorgärtchen, lutsche gelangweilt an den Türmchen des eisernen Zaunes und höre plötzlich aus Richtung Dietenheim ein dumpfes Tapp-Tapp vieltausendfacher Schritte. Allmählich werden sie lauter. Ein Heer Soldaten marschiert auf den Platz ein, kommt die Hauptstraße herunter. Sind es Soldaten? Sie tragen grün-braun gefleckte Kittel und sie gehen stumm im Gleichschritt. Soldaten singen immer: „Schwarzbraun ist die Haselnuss ...“ oder „Auf der Heide blüht ein kleines Blümelein...“, wenn sie durchs Dorf marschieren. Das Trippeln kommt näher. Dem Heer voraus geht ein Soldat mit Stahlhelm und brauner Uniform. Dann ziehen sie vorbei: Männer mit runden, kurzgeschorenen Köpfen. Ihre Gesichter tragen sie wie Masken mit Augen so schmal wie schwarze Striche unter dem breiten Wulst der Brauen. Und ihre Blicke laufen aus den Augenwinkeln zu mir hin, senden eine Kraft aus, die mich lähmt. Einer hält das kreisrunde Gesicht starr zu mir hingewendet, bis er zwischen den gefleckten Kitteln verschwunden ist. Es sind gefangene Mongolen.


Immer wieder übernachten Soldaten, die auf dem Durchmarsch sind. Einer rasiert sich morgens am Küchentisch und sagt: „Sitzen ist das Schönste!“ Gegenüber bei Frau Walcher wohnen die Offiziere, die tragen blitzende Abzeichen an ihren Mützen und Uniformen. Alle Kinder müssen sie höflich mit „Heil Hitler!“ grüßen. Bei einem muss man dahinter noch „Herr Hauptmann“ sagen und bei dem Wichtigsten „Herr Major“. Ihr Büro haben sie im Schulhaus. An warmen Tagen sitzen sie auf Stühlen im Freien. Wenn man den Major anschaut, zwinkert er und sagt: „Nu, Mädels, nu tanzt uns mal was vor!“ So steige ich mit meinen Freundinnen auf das Podest vor der Schulhauswaschküche. Da singen und tanzen wir unsere Reigen.

Der Hauptmann möchte seiner kleinen Tochter ein blaues Fahrrad schicken. Er schenkt es aber mir, weil alle Soldaten plötzlich abreisen müssen. Der Reitze-Großvater übt mit mir das Fahren, hält dabei die Lenkstange und immer, wenn er klatscht, fahre ich ganz allein. Irgendwann wird das Fahrrad für mich zum Ärgernis. Alle Kinder wollen damit fahren und wollen deshalb mit mir befreundet sein. Wenn das Rad in der Schupf steht, schleicht der Heinz, mein Cousin, ums Haus und radelt mir auf der Hauptstraße davon.


Die Erwachsenen haben Geheimnisse. Sie verpacken sie in Schweigen oder sie tuscheln untereinander. „Dui kommt bald ens Kendbett“, höre ich eine Nachbarin zu meiner Mutter sagen. Sie tuscheln hinter vorgehaltener Hand. Ich spitze die Ohren und weiß nun, dass sie die Frau mit dem fürchterlich dicken Bauch meinen. Da soll also ein Kind drin sein? Aber wie ist es da hineingekommen? Die Erwachsenen schweigen.


Abends sitzt Mutter bei mir am Bettlädle und singt mich in den Schlaf. Am liebsten singt sie „Dort in dem Schneegebirge...“, wo der „Herzallerliebste“ nur wiederkommt, „wenn’s schneiet rote Rosen und regnet kühlen Wein...“. Mein liebstes Lied ist „Aber Haitschi Bumbaitschi, schlaf lange...“, wo die Mutter ihr „Büberl“ ganz „alloanigs“ daheim lässt und nicht mehr wiederkommt und wie schließlich der Haitschi-Bumbaitschi gekommen ist. Der hat das Büberl mitgenommen und er „hat’s nimmer bracht...“. Ich habe Fragen: Warum lässt die Mutter das Büble allein und kommt gar nicht mehr heim? Und wer ist der Haitschi-Bumbaitschi? Ist er lieb oder ist er böse, wenn er das Büble einfach mitnimmt? „Mamma, sing ‘Aber Haitschi-Bumbaitschi’“, sage ich zu ihr. Jetzt dürfe man das Lied nicht mehr singen. Es sei ganz streng verboten. „Warum ist es verboten?“ Mutter schweigt.

 




In der Volksschule


Am ersten Schultag bekomme ich eine große Spitztüte aus hell-blauer Pappe. Sie ist mit bunten Papierblumen beklebt und heißt „Zuckertüte“. In ihrem großen Bauch finde ich keine Süßigkeiten, sondern ein paar Sachen, die man nicht essen kann, darunter eine Fotografie in silbernem Rahmen vom Führer, wie er lächelnd seine rechte Hand auf die Schulter eines Mädchens legt. Das hat Zöpfe wie ich. Im Arm trägt es eine Zuckertüte und auf dem Rücken einen Schulranzen. „Die Schule wird bestimmt etwas sehr Fröhliches“, denke ich, denn der Führer blickt dem Mädchen fröhlich in die Augen. Mein Schulranzen ist aus braunem Leder. An der Schiefertafel hat Mutter zwei Schnüre mit Stofflappen befestigt, einen trockenen und einen nassen Wischer, die man aus dem Ranzen heraushängen lässt. Der Griffelkasten ist aus Holz und seinen Deckel kann man hin- und herschieben. Mutter zeigt mir, wie man einen abgeschriebenen Griffel mit dem Messer wieder spitz macht. Dann gehe ich als ABC-Schützin mit Mutter den Schulberg hinauf. Das Klassenzimmer für die Unterklasse ist im linken Teil der Schule. Da setzt uns der Lehrer Walcher an die langen pultartigen Holztische, die am oberen, ebenen Teil eine Reihe Tintenfässer mit Metallklappen haben.

Nun lernen wir grüßen. Wir müssen alle aufstehen, den rechten ausgestreckten Arm heben und „Heil Hitler!“ rufen. Lehrer Walcher schwenkt seine Kärtchen mit Buchstaben und Silben. Es gibt keine Fibel. Die Sitzordnung gefällt mir nicht. Ich schwätze mit Herta in der hinteren Reihe. Lehrer Walcher steht vor mir mit blitzender Brille, mit geschürzten Lippen und puterrot angelaufenem Kopf. Ich bekomme am ersten Schultag eine Ohrfeige.

In der großen, der Zehnerpause, spielen die Buben Mädchen-Einzingeln mit Garbenstricken oder wir spielen alle Buuscht. Der Buuscht sucht und fängt die anderen im Gestrüpp der Hohlgasse oder im Gebüsch um den Turnplatz herum. Auf dem Schulheimweg bildet sich eine Clique. Die legt fest, wo man Verschlupferles spielt. Die besten Plätze sind in Bäckers Schupf mit den verschiedenen Heuböden und dem vielen Gerümpel und weil der Bäckers Ernst im Laden nicht um die Ecke gucken kann. Die Mutigen und Furchtlosen verstecken sich in Kirchenbauers Stadl. Wir wissen alle: da sitzt der Kirchenbauer in seinem Versteck. Er hat uns den Kampf angesagt, denn er mag keine umgerannten Rechen und Mistgabeln und keine vom Haken gefallenen Wannen und Körbe.

Den Platz ums Spritzenhaus und um Kirchenbauers Backhäusle bestimmen wir fürs Fangerlesspiel. Ganz selten fährt ein Auto vorbei und wenn, dann ist es das vom Dr. Guter oder vom Done.

Gefährlich wird es aber, wenn die Kirchenbäuerin über die Straße läuft mit einem vollen Backblech. „Ihr Sau-Bagaasch!“ schreit sie. Und jedes Mal ist es für uns ein Spiel, noch rechtzeitig vor ihr die Kurve zu kriegen.



Ferienkinder


Sie kommen aus den großen Städten wie Berlin und Düsseldorf. Fritz und Günter verlassen Balzheim erst nach Jahren wieder. Der Fritz lebt bei Schillers, der Günter bei Hochbergers. Sie sind Brüder. Bei Barts ist die Helma, bei der Post-Marie die Helga und die Brüder Heinz und Horst wohnen bei Kirchenbauers und bei Räbles. Dann gibt es noch die Geschwister Finke, den Kurt und die Waltraud, bei Hermanns. Anneliese, die Berlinerin, sagt „Jaul“ anstatt „Gaul“. Verduzt steht sie vor Lehrer Walcher. Der schreit „Gaul!“. Anneliese duckt sich, nimmt das „Gaul“ wie einen Befehl entgegen. Und wieder bringt sie nur ein „Jaul“ zustande.




Nachbarskinder


Frau Pfistert ist weggegangen. So ist Manfred der Hausherr und zeigt uns seinen Keller. Auf einem mehrstöckigen Regal, dem Gsälzständer, ist noch so viel Platz, dass jeder von uns sich auf einem Brett der Länge nach ausstrecken kann, wenn er sich nur vorsichtig zwischen die Obst- und Beerengläser schiebt. Dann kracht der Gsälzständer zusammen. Und unsere Mütter finden uns unter einem Haufen aus Latten, Scherben und Apfelmus.


Mit Anni hüte ich die Kühe in Müllers Mahd. Wir schaukeln in weitem Bogen an den unteren Ästen der Fichten. Drüben am Hang sitzt Hubert mit seinen Kühen und pfeift „Lili Marleen“. Ich steige mit Anni auf den Hochstand: Da fängt es an zu regnen. Ein Platschregen fällt auf unsere nackten Arme. „Guck naus, d’r Himmel isch ganz blau!“ ruft Anni. Wir stemmen uns hoch und sehen aufs Dach. Da sitzt Hubert und pinkelt durch die Ritzen.



Erntezeit

 

Im Juni gehen die Bäuerinnen auf die Wiesen, mähen mit der Sense, der Seges, und machen Loreyen, lange Grasreihen, oder sie gehen, wenn die Reihen abgetrocknet sind, mit der Heugabel auf dem Rücken zum Umkehren, schichten das Heu auch auf Holzstecken. So entsteht ein Hoiza. Der sieht ungefähr aus wie ein Indianerzelt. Wir buddeln Türen und Fenster hinein und machen daraus ein Häuschen.

Im August ist die Ähret. Das Kornfeld atmet sich ein in meine Erinnerung. Ich helfe auf dem Acker beim Bänderschlagen. Nacheinander werfe ich die Garbenstricke aufs Feld, das Ende mit dem bunten Holzklötzchen voraus. Dann legen die Erwachsenen ihre lose Garbe hin und binden sie zusammen.

Im September macht die Dreschmaschine die Runde von Stadl zu Stadl. Ihr Singen klingt melancholisch und zufrieden und kündet den Herbst an. Man hilft sich gegenseitig. Mutter bindet das Kopftuch um und geht zum „Maschinen“. Beim Vesper unterhält der Reitze-Großvater die Frauen mit Witzen.

Im Oktober helfe ich beim Erdäpfelklauben. Das Schlimme ist nicht das Klauben entlang der endlosen Reihen, das Schlimme, beinahe Qualvolle ist die Erde, die an meinen Händen festtrocknet und mir eine Gänsehaut macht über den ganzen Körper, dass ich meine Finger krümmen muss. Nach dem Äpfel- und Birnenklauben geht man zur Mostpresse und wartet, bis man dran ist. Überall riecht es nach Trebel, dem ausgepressten Obst, das haufenweise herumliegt. Mutter füllt den Süßmost in Flaschen und erhitzt ihn im Eindünstkessel. Der Sattlers-Großvater gießt den Süßmost in ein Fass, macht im Hausgang die Falltür, die Kellerfall, auf und trägt das Fass die Ziegelstufen hinunter in den Keller. Da wird der Süßmost langsam zum Sußer, später zum richtigen Most. Großvater trinkt ihn jeden Abend zum Vesper.


Die Krautschneiderin kommt, man sagt auch: d'Riedgassere. Sie geht mit ihrem großen Hobel unterm Arm von Haus zu Haus. Die Reitze-Großmutter heißt mich meine Füße waschen, dann gehen wir zusammen in den Keller. Dort steige ich barfuss ins Krautfass. Das gehobelte und gesalzene Kraut muss ich im Kreis herum festtreten, bis der Krautsaft zwischen meinen Zehen herausdrückt und dann ganz allmählich meine Füße überschwemmt bis zu den Knöcheln. Das ist der Augenblick, wo die Großmutter zum Nachfüllen kommen muss. „Tuscht fescht eitrappa?!“ ruft sie in den Keller herunter und dann mit der Krautschneiderin im Chor, dass ich „a fleißig's Mädle“ sei.




Dorfgestalten


D’r Baumwart Rommel

Er trägt einen schwarzen Schnauzbart. Sein Häuschen hat blaue Fensterläden und steht auf der Anhöhe gegenüber der Kirche. Dort tut er zusammen mit seiner Frau den Mesner-Dienst oder er schneidet in den Gärten die Obstbäume. Der Baumwart Rommel repariert auch unsere Fahrräder und liebt uns großväterlich. Das geflickte Rad übergibt er immer mit den Worten: „D's nekschde Mol besser aufpassa!“


D’r Bolezei

Er hat eine Bass-Stimme und die Enden seines Schnurrbarts hängen majestätisch tief herunter. Immer trägt er seine blau-rote Uniform mit silbernen Knöpfen und eine Mütze mit breitem schwarzem Lackschild. Der Bolezei ist der Gemeindediener und er schreitet wie ein König durchs Dorf zum Ausschellen. Da und dort bleibt er stehen und bimmelt mit seiner Kuhglocke, bis die Leute zum Fenster herausschauen oder um ihn herumstehen. Nun klemmt er die Glocke unter den Arm, hält mit beiden Händen ein Papier und kann es nicht leiden, wenn jemand ihm ins Blatt sieht. Dann ruft er feierlich: „Bekanntmachung!“ Nun folgen langweilige Sätze darüber, was Volksgenossen tun müssen oder wann wieder Lebensmittelkartenausgabe ist.

Am Rathaus gibt es ein kleines, mit Eisenstäben vergittertes Fenster. „Wenn du et brav bisch“, sagen die Erwachsenen, „no schperrt di d’r Bolezei ens Arrescht!“


D’r Elias

Er ist der Großvater von meinem Schulkameraden Oskar. Breitschultrig, massig und bärtig wie Rübezahl tritt er aus seiner Schmiede heraus in den Hof, wo er den Gäulen neue Eisen auf die Hufe klopft oder glühende Reifen auf die Holzräder der Fuhrwerke aufzieht. Wenn in unserer Klasse die Buben streiten, sagt Oskar, sie könnten schon noch was erleben, er sage es dem Großvater, der könne den Amboss mit beiden Händen hochlupfen.


Kächlamaurers Hans

Er ist zwergenhaft klein, von gedrungener Gestalt und er hat Asthma. Alle mögen Hans. Was Hans wirklich denkt, das weiß man aber nie. Sein Gesichtsausdruck wechselt abrupt zwischen verschmitzt und todernst. Bei Holderbarths in der Stube spielt Hans Kasernenhof. Er ist der Feldwebel und der Gefreite in einer Person, brüllt und jault Befehle, steht stramm oder marschiert mit kurzem Stechschritt im Kreis herum. Dann legt er seine kleinen dicken Hände an die Hüfte und lässt sich stocksteif zu Boden fallen. Da bleibt er eine Weile regungslos liegen, steht schließlich wieder auf und schnaubt hingebungsvoll und grinsend. Wenn es Beifall gibt, beginnt Hans das Kasernenhofspiel von Neuem.


Bäckers Ernscht

Bei ihm holen wir in der Pause die Brezg für vier Pfennig oder dasVogges, ein Doppelbrötchen, das an den Längsseiten ohne Krusteist. Es ist Samstagvormittag. Die Mutter hat ein Zwetschgenplatz gemacht. Das trage ich zu Bäckers, stelle es in der Backstube, der Bachkuche, auf den Fliesenboden zu den anderen Kuchen, die in runden und rechteckigen Blechen warten, bis der Ernscht leicht hinkend mit der großen Schaufel kommt und anfängt, den Boden wieder freizumachen. Die Tür geht auf, ein Bub kommt hereingerannt. „Ja du Heilandsaggerment!“ schimpft Ernst, denn der Bub steht barfuss mittendrin in einem runden Obstkuchen.


D’r Hochberger

Ihn umgibt die Aura des Genies. Für den Hochberger bedeutet das: die einen begegnen ihm mit Ehrfurcht, andere wieder mit Misstrauen oder gar mit Spott. Als erster im Dorf besitzt der Hochberger eine Mähmaschine und einen Traktor. Wenn er nicht gerade damit fährt, sieht man ihn in seinem Hof an den Maschinen herumtüfteln. Einmal hat die Hochbergerin den Stubenboden zu glatt gebohnert. Hochberger rutscht aus, schlägt mit dem Kopf auf, dann schreitet er zur Strafe: Er füllt den Schubkarren mit Kies und beginnt, sich durchs Haus einen Weg zu streuen.

Im Nestle zeigt die Wanderfilmbühne einen Bergfilm.

Hochberger sitzt direkt vor der Leinwand auf seinem mitgebrachten Feldstuhl. In der Pause nach „Fox Tönende Wochenschau“ schimpft er: „D’ Politik isch a Hur!“ Wenn der Hauptfilm läuft, staunt Hochberger über die Schneegipfel und die blühenden Almen und jammert: „Was isch doch d’r Mensch.“


`s Fräulein Kobler

Sie ist die Hebamme. Als einzige der Dorfgestalten wohnt sie nicht im Dorf. Zu den Geburten kommt sie mit dem Fahrrad aus Wain, tritt dabei lächelnd und gelassen die Pedale, als halte sie im Fahren ihre Andacht. Sie hat streng zurückgekämmtes Haar und am Hinterkopf einen großen, geflochtenen Dutt, das Nescht. Wenn ’s Fräulein Kobler vor einem Haus vom Fahrrad steigt und ihr Köfferchen vom Gepäckständer nimmt, laufe ich zu ihr hin und suche ihr Lächeln. Es ist das Lächeln einer Klosterfrau, fein dosiert und weise. Und wenn sie mit mir spricht, klingt ihre Stimme wie ein Wiegenlied.


D’r Lehrer Häußler

Er ist der Lehrer für die Oberklasse. Das sind die Klassen drei bis acht.

Es ist Montagmorgen und Häußler ist schlecht gelaunt. Er kommt mit blassem Gesicht und weißem Kittel ins Klassenzimmer. Das bedeutet: Erste Stunde Rechnen. Unter der Tafel auf dem Kreidebrett lauert der Haselnuss-Stecken auf seinen Einsatz. Von der Buben-Bankreihe her flüstert mir Walter einen lustigen Vers ins Ohr. Der hat etwas zu tun mit dem Hermann Göring und einem Hering und ich bin dabei, den Vers auswendig zu lernen. Häußler nimmt drei Sätze zu mir hin, lautlos wie ein Panther. Er lässt mich meine Hand ausstrecken, Innenfläche nach oben, und setzt den Hieb direkt auf die Finger. Das ist das höchste Strafmaß bei einer Tatze. Der Gerechtigkeit halber soll auch Walter bestraft werden. Vorne beim Pult muss er sich - Bauch nach unten – über eine Schulbank legen. Nun stört die Lederhose. Ungefähr beim dritten Hieb bricht der Stecken auseinander. Lehrer Häußler holt sofort den Ersatzstecken aus dem Pult und besorgt den restlichen Hosenspanner auf die Schenkel.

Wenn es draußen warm ist, trägt Häußler kurze Hosen. Er setzt sich direkt vor uns auf die Bank, schiebt den Zeige-Stecken in die Kniekehle, hält sich an den beiden Enden fest und balanciert gemütlich hin und her. Er nimmt sich Zeit, er hört in uns hinein. Keiner von uns Schülern ist ihm gleichgültig. Für die siebte und achte Klasse richtet er zusätzlich das Fach Französisch ein. Er lässt uns an Märchenwettbewerben teilnehmen. Wir sollen uns als kleine Autoren fühlen. Gudrun bekommt den ersten Preis.

In seiner Freizeit kümmert sich Lehrer Häußler um die Balzheimer Geschichte, beginnend mit dem „Hain des Baldur“, später „Baldeshain“, bis hin zu „Balzheim“. Wir lernen, dass das Illertal von riesigen Gletschern gemacht wurde. Die haben sich unendlich langsam vorwärts geschoben von den Alpen bis zur Schwäbischen Alb. Hinterlassen haben sie die Seiten-, Grund-und Endmoränen.


Lehrer Häußler steigt mit uns auf die Ringburg, zeigt mit dem Stecken hinunter auf den im Kreis laufenden Graben. Die Ringburg sei früher einmal eine Römerburg gewesen und der Grenzwall der Limes. Und der sei direkt an Balzheim vorbeigelaufen, der Iller entlang bis hinunter ins Unterland.

Lehrer Häußler ist in Langenau bei Ulm aufgewachsen. Einmal höre ich ihn zu meinem Vater sagen: „Von Balzheim möchte ich nicht mehr weggehen.“


Hubers Nähre

Nähre“ bedeutet „Schneiderin“. Man sagt „Hubers Nährena“ und meint damit das gehörlose Zwillingspaar in mittleren Jahren. Die eine der Taubstummen, die Lisbeth, ist von gedrungener Gestalt, hat dünnes, weißes Haar. Am Hinterkopf kringelt sich ein hauchdünnes Zöpfchen zu einem winzigen Nest. In Lisbeths dickem Gesicht gibt es drei Schlitze: zwei zusammengekniffene Augen und einen Strichmund mit tief herabhängenden Mundwinkeln. Lisbeths Stimme verwandelt sich in ein beleidigtes Knurren, wenn Mutter ihr die Worte nicht vom Mund ablesen kann. Dann muss Sattlers Großmutter geholt werden. Die kennt sich nicht nur aus in der Behandlung von allerlei Krankheiten, sie versteht auch die Sprache der Taubstummen.

Katharina, die andere der Schwestern, ist die sanfte. Ihre Taubstummensprache zelebriert sie behutsam, mit weichen Händen und ängstlicher Altstimme, als wolle sie sich entschuldigen.

Im Dorf sagt man, Lisbeth wiege zu Hause die eingekauften Lebensmittel ab, für jede der Schwestern die gleiche Menge.

Zusammen mit Lore und Liesel beschließe ich, Lisbeth zu ärgern. Wir sitzen hinterm Zaun in Hubers Gängle und werfen Steine in ihren Garten. Lisbeth stürzt schnaubend und mit hängenden Mundwinkeln aus dem Haus, sammelt die Steine ein und schleudert sie gegen unser Versteck. Katharina, die Sanfte, bleibt hinter der Fensterscheibe stehen. Doch Lisbeth scheint sich dauerhaft zu rächen. Sie erscheint nachts in meinen Träumen, hat sich einmal hinter dem Ofen, das andere Mal hinter dem Vorhang versteckt und springt hervor mit listigem Augenzwinkern, um mich unaufhörlich und qualvoll zu kitzeln.


D’r Nachtfugeler

Er ist überhaupt kein Mensch, aber mindestens ein Ungeheuer, das im Wald in irgendeinem Keller wohnt und die Kinder holt, wenn sie nicht folgen wollen. „Jetz isch aber Zeit ens Bett, sonscht kommt d’r Nachtfugeler!“ sagt die Reitze-Großmutter. Den Nachtfugeler stelle ich mir so vor: Er ist riesengroß, geht auf zwei Beinen und hat einen pechschwarzen Hundekopf mit glühenden Augen unter einer roten Kapuze.





Der Krieg geht zu Ende



Flüchtlinge kommen, fahren ins Dorf ein auf langen Pferdeschlitten, vermummt in Decken und eng aneinandergekauert. Sie kommen aus den bombardierten Städten, sie kommen mit dem großen Treck aus Ostpreußen und Pommern, sie kommen aus Böhmen, Mähren und Siebenbürgen.

Mit der Reitze-Großmutter gehe ich ins Rathaus. Da stehen die Flüchtlinge als trostlose Menschenknäuel den Balzheimern gegenüber. „I möcht des Mädle mit de lange Zöpf“, sage ich zu Großmutter. Das Mädle heißt Gerda. Sie kommt zusammen mit der Mutter und den Großeltern aus dem bombardierten Ludwigshafen. „So viel Leit kennet m’r et braucha!“ schimpft Großmutter. Inzwischen habe ich mich mit Gerda schon ange-freundet. Großmutter schmunzelt misstrauisch. Das bedeutet: einverstanden. Zuerst fragt mich Gerda, ob mein Vater schon gefallen sei. „Meiner ist schon tot“, sagt sie und zeigt mir sein Foto.


Mutter weckt mich nachts aus dem Schlaf, zieht mich an und steigt mit mir auf den Burschlet. Über Dietenheim flackert der Himmel in grellem Rot und Gelb. „Jetzt brennt ganz Ulm“, sagt Mutter und hält mich fest an der Hand. Dann weint sie, die Tante Hilde müsse jetzt durchs Feuer rennen. Ich will mir da nicht vorstellen und staune das gelbrote Geflacker an wie ein Feuerwerk.

Auf der Straße höre ich das Traben von Pferden. Mutter, Tante Frieda und Großmutter kommen aufgeregt angesprungen und sehen durch das Fensterglas der Haustür. Draußen halten Pferdegespanne. Die Wagen sind bogenförmig überdacht mit Planen. Nun tribbeln die Pferde auf der Stelle, wiehern und schütteln ihre Mähnen. Die Baronen kommen heim! Langsam begreife ich, dass sie nur noch bis zum Oberbalzheimer Schloss fahren müssen und aus dem Märchen weiß ich, dass zu einem Schloss eine Prinzessin gehört. „Do hot grad oine zom Waga raus-gucket!“ ruft meine Mutter und nun streitet sie mit Tante Frieda darüber, ob das nun die Baroness Ria, die Baroness Gudrun oder die Baroness Eva gewesen sei. „I kenn doch d’ Ria!“ sagt Mutter, „die isch mit mir konfirmiert worda!“

Mutter erklärt, sie kämen aus Posen mit dem großen Treck. Da hätten sie ihr Gut zurücklassen müssen. Aus einem Wagen steigt eine junge Frau in Reitstiefeln. Sie hat ein energisches Kinn und trägt das glatte, blonde Haar halblang. „Die Baroness Eva!“ ruft Tante Frieda. Ich bin ein Stück mehr zufrieden, denn das ist ungefähr ein Prinzessinnengesicht und Baronessen tragen eben Reitstiefel.Mit dem Wort „Baroness“ bin ich einverstanden. Es klingt so ähnlich wie „Prinzess“. Aber warum hat die Baroness kein langes, blondes

 




Die Amerikaner kommen

Die Sonne strahlt warm, hüllt das ganze Dorf in laue Luft. Doch dieser Luft ist etwas beigemischt: etwas, das man ein- und ausatmet, worüber man aber nicht spricht. Meine Mutter kleidet die Großeltern ein wie zum Kirchgang. Großvater trägt über dem Anzug noch den dicken schwarzen Wintermantel, ich trage meinen dunkelblauen mit Pelzkrägelchen. So gehen wir - Mutter, die Großeltern, Tante Frieda und ich - hinauf auf die Bühne. Da versteckt Mutter ihren Schmuck unter dem Bretterboden. Nun stehen wir am offenen Bühnenfenster und warten. Aus den Häusern hängen weiße Fahnen. Ich kenne nur die schwarz-weiß-rote mit dem Hakenkreuz. So sieht auch meine Kinderfahne aus. Wo ist meine Kinderfahne?! Sie ist auch nicht mehr da.

Aus Richtung Dietenheim höre ich ein fremdes Motorengeräusch, ein drohendes, lauter werdendes Brummen. „Jetzt kommet se!“ schreit jemand auf der Straße. Unten auf dem Platz sammelt sich ein Haufen Leute. Jetzt müsse der Ortsgruppenleitervorausgehen und sie empfangen, sagt meine Mutter. Aus dem drohenden Brummen wird ein ohrenbetäubendes Dröhnen. Dann rücken sie näher: Riesenfahrzeuge wie olivfarbene, träge Raupen. Der Platz färbt sich oliv und das Oliv kriecht in alle Straßen, in alle Höfe und Gassen. Ein Panzer hält vor unserem Haus. Bestimmt haben die ganz schwarze Gesichter, denke ich. Ich habe Angst. Aus der Panzerluke taucht ein Kopf auf mit Stahlhelm. Ich staune: der Mann hat ein mir vertrautes Gesicht. Das blickt mich traurig an und scheint zu sagen: „Ich bin ein ganz normaler Vater.“ Nun traue ich mich hinters Haus, mache einen Satz über den Hof zum Plumpsklo. Ich verriegle die Tür, spicke durch die Bretterritzen und sehe, wie ein paar Amerikaner - geduckt und Gewehr im Anschlag - ums Haus herumschleichen, ganz nahe vorbei an meinem Versteck. Noch hat keiner an der Aborttür gerüttelt. Doch ich fühle mich als Gefangene. Als sie verschwunden sind, befreie ich mich selbst, renne in die Stube und verstecke mich hinter der offenen Tür, bis mich die Großmutter findet.

Am anderen Morgen kommen sie in die Küche, freundlich, hochgewachsen, mit federndem Schritt, der aus der Hüfte kommt. Sie hängen herum, stützen sich ab, lehnen sich an, haben ihre Zigarette im Mundwinkel oder kauen Kaugummi, während ihre Sprache auf einem ganz breiigen „R“ dahingleitet. Doch alles schwingt in lässigem Gleichklang. Ich spüre darin Freundlichkeit und ebenso das Gebieterische. Ich fühle den Charme einer fremden Welt.

Nun gestikulieren sie lachend mit der Großmutter. Winzig klein und verloren steht sie mitten unter ihnen, schüttelt verneinend den Kopf. Dann gehen sie alle zusammen in den Keller und kommen wieder mit Großmutters selbstgemachtem Holunderschnaps. Großmutter bekommt ein Gläschen voll eingeschenkt und darf ihnen zum Abschied zuprosten. Dann fahren sie in ihren Jeeps davon und lassen die Beine heraushängen.


Im Dorf beginnt das große Wandern. Das Försterhaus vom Förster Bosch verwandelt sich zum Lazarett der Amerikaner. Aus dem Haus der Reitze-Großeltern wird eine Feldküche. Hier kochen und backen sie mit Großmutters gutem Geschirr und Tafelsilber. Einmal findet Großmutter ihre silbernen Gabeln auf der Miste, weggeworfen mit den Essensresten.

Die Reitze-Großeltern sind umgezogen samt ihrer Ludwigshafener Flüchtlingsfamilie. Sie haben sich in dem garagenförmigen Teil von Schmieds Stadl einquartiert, wo auch die Schmieds Frieda und ihre Schwester Marie mit Tochter Irene wohnen. Der Stadel ist Wohnraum und Küche in einem. Den Herd feuert man mit Holz und für den Rauchabzug lässt man das Tor offen. So kann man alle drei Familien versorgen. Geschlafen wird im Heu auf der hinteren Seite des Stadls. Da liegen Betten und Decken kreuz und quer herum. Nun kann ich wählen zwischen Schlafkammer und Stadl. So übernachte ich bei den Großeltern im Heu.

Im Nestle sind bis auf die Küche alle Räume vollgestellt mit Liegen: die Wirtsstube samt Nebenzimmer und auch der Saal im oberen Stockwerk.

Durchs offene Fenster sehe ich einen sehr jungen Amerikaner. Der liegt auf einer Pritsche und spielt auf seiner Mundharmonika. Dann steht er auf, kramt in seinen Hosentaschen und schenkt mir ein Päckchen Kaugummi. Einmal schiebt er lachend ein flaches Etwas durchs Fenster. Ich ziehe das Papier ab und halte in der Hand eine kleine, dunkelbraune Tafel. Die kann man essen. Zum ersten Mal esse ich Schokolade.

Wenn die Amerikaner ihre leergegessenen Bleche zum Spülen in Nestles Hof tragen, wittern wir den Bratenduft noch in der hintersten Ecke des Dorfes. Mit anderen Kindern lese ich die weggeworfenen Schlüssel der Konservendosen auf und kratze damit die Reste von den Blechen. Wir schmecken fremde Gewürze, die uns noch hungriger machen. So streiten wir uns jeden Tag um Schlüsselchen und Bleche.


Wir haben keine Schule. Der Dorfalltag scheint begraben unter dem Treiben der Amerikaner. Nur abends hole ich wie immer die Milch beim Käser. Ich nehme die Zweiliter-Milchkanne vom Haken und gehe die Abkürzung durchs Gängle in die Sterngasse, wo die Käserin geschäftig die großen Milchkannen, die Millbonta der Balzheimer Bauern, hin- und herkreiseln lässt und „jo wegger!“ schimpft, wenn wir vor der Ladentür im Hof unsere Hüpfspiele machen und dabei eine volle Milchkanne umkippt. Außer der Milch kann ich beim Käser nichts kaufen.

Bei Anni erfahre ich, was Butter ist und wie sie schmeckt. Wir sitzen zusammen in der Küche und drehen abwechselnd am Hebel eines hellgrünen Holzkastens. Der enthält Rahm von Annis Kühen und wie an einer Drehorgel müssen wir endlos lange drehen, bis im Inneren des Kastens ein Klumpen Butter in der Molke schwimmt. Ich kenne eine einzige Käsesorte. Großmutter sagt dazu „Healeskäs“, Mutter nennt es „Quark“. Zubereitet wird er so: Großmutter Reitze lässt die Milch im Topf sauer werden. Dann gibt es zuerst Dickmilch, die Schlottermill, und daraus entwickelt sich nach einigen Tagen etwas Bröseliges, das man zu Erdäpfeln in der Schale isst: der Healeskäs.



Vater kehrt heim


Die Reitze-Großmutter rennt den Trippel herunter, kommt mir entgegen und macht das Gesicht, das sie immer macht, wenn der Osterhase gelegt hat. „Was denksch, wer komma isch?! D’r Babba!“ D’r Babba sitzt in Großmutters Stube auf einem Stuhl. Vor der Türschwelle bleibe ich stehen. Die wächst vor mir hoch zu einer unsichtbaren Mauer, durch die mir ein fremder Mann entgegenstrahlt, jung und aufregend wie der große Bruder, den ich mir so sehr wünsche. Nur die blauen Augen scheinen mir vertraut, darüber wuchert schwarzes Kraushaar, es wuchert an Armen und Waden und quillt aus dem offenen Hemd. In Vaters Lachen liegt blanke Freude und etwas wie Kampfeslust und Aufbruch. Nun nimmt er mich auf sein Knie, umarmt mich und fragt, in welcher Klasse ich sei. Ob ich auch eine fleißige Schülerin sei. Die Frage macht mir Angst und ich sage einfach „ja“, erzähle von der Schule, denn Vater ist ein guter Zuhörer.

Aber nun höre ich seine eigene Geschichte, wie er sich zu Fuß von Köln bis Balzheim durchgeschlagen und in den Wäldern und auf Bauernhöfen versteckt habe vor den Besatzungstruppen, einmal vor den Engländern, dann wieder vor den Amerikanern.


Nun habe ich richtige Eltern. Wenn sie sich im Haus begegnen, bleiben sie im Türrahmen stehen und küssen sich.


Vater soll ins Schulhaus gehen, da bekomme er einen Pass, höre ich meine Mutter sagen. Vor dem Weggehen fasst mich Vater an mit unerbittlicher Strenge: „Gang mir ja nicht mehr en Neschtl nei zu dem amerikanischa Kerle mit d’r Mundharmonika!“ Ich verspreche es ihm und begleite ihn bis vors Schulhaus. Später sehe ich ihn auf dem Platz in einen offenen amerikanischen LKW steigen. Da sitzt er zusammengepfercht mit anderen Kriegsheimkehrern und fährt davon.

Nach Tagen kommt eine Frau aus Ulm und erzählt, Vater sei in amerikanischer Gefangenschaft in einem Camp hinter Stacheldraht. Sie könne ihm aber etwas zum Essen durchgeben.


Wochen vergehen. Es ist Sommer und ich bin bei meiner Lieblingsbeschäftigung, dem Herumstreunen. Auf dem Illerdamm humpeln mir langsam zwei Gestalten entgegen, abgemagert, in Lumpen gehüllt und barfuss. Sie tragen Bärte. Die eine der Gestalten ist Vater, die andere sein Vetter, der Habdanks Hermann. Vater lacht. Er lacht wieder sein strahlendes Heimkehrerlachen - ganz für mich allein - und sagt, er müsse jetzt nie mehr fortgehen.

 



Die große Not




Nach langer Pause gehe ich wieder in die Schule. Jetzt müssen wir vor dem Unterricht nicht mehr „Heil Hitler!“ rufen, sondern„Grüß Gott, Herr Lehrer!“ Das klingt komisch. Der Lehrer ist schließlich kein Nachbar!

Während der Schulstunden sind wir oft mit dem Lehrer beim Sammeln. Auf den Äckern gehen wir in Reihen und sammeln die gelb-schwarz-gestreiften Kartoffelkäfer und ihre fetten, roten Larven in unsere Gläser. Im Wald sammeln wir Bucheckern, die Buchela, auf den Wiesen den Spitzwegerich, die Blüten der Taubnessel und Pfefferminze. Die Stoppelfelder suchen wir im Herbst ab nach liegengebliebenen Ähren und binden sie zu kleinen Sträußen. Das nennt man „Ährenlesen“. Alles Gesammelte müssen wir abliefern.


Man spricht jetzt nicht mehr vom Krieg, sondern vom Hunger und der großen Not. Mit der Reichsmark können wir fast garnichts mehr kaufen. Die Erwachsenen sagen, die Städte im ganzen „Deutschen Reich“ seien zerstört worden durch Fliegerangriffe, viele Menschen seien umgekommen in den Luftschutzkellern. Ulm sei ein einziger Trümmerhaufen, Stuttgart auch. Aber das Ulmer Münster - das hätten sie stehen lassen. Es sei halt sehr beschädigt. Tante Hilde aus Ulm und meine Stuttgarter Tante Regine mit Familie haben das Bombardement überlebt.


Die Städter ziehen mit dem „Hausknecht“ durchs Dorf, wir nennen es „Hamstern“. Der Hausknecht ist das erste Fahrzeug, das nach dem Krieg gebaut wird: ein pritschenartiges Wägelchen mit einer Ladefläche aus Holzlatten und einer Deichsel zum Ziehen. Auf den Hausknecht lädt man die Gaben der Bauern wie Kartoffeln, Mehl und Schweineschmalz. Oft haben die „Hamsterer“ dafür eine Zeitlang auf den Feldern gearbeitet.

Die Städter kommen in Scharen. Der Hunger treibt sie aufs Dorf, sie fallen ein in unsere Wälder, finden die Heidelbeeren und Pfifferlinge selbst an den geheimsten Plätzen und ernten alles kahl. Darüber ärgere ich mich, denn nun brauche ich beim Sammeln eine Ewigkeit, bis die Heidelbeeren am unteren Rand der Milchkanne sind.


Bäckers Ernst backt nun das Brot aus Maismehl. Es ist goldgelb und schmeckt mir besser als das Schwarzbrot. Bei Anni in der Waschküche werden die Zuckerrüben in einem brodelnden Sud zu Sirup. Den essen wir als Brotaufstrich.


Mutter färbt den Stoff der Hitlerfahne um. Aus dem Weiß und dem Rot entsteht ein Violett und ein Lila. Tante Frieda näht mir daraus ein Dirndl. Ich habe Dirndl aus geblümtem und kariertem Bettzeug und nun auch noch aus Fahnenstoff. Seitdem mag ich kein Dirndl mehr tragen. Aus Vaters Fallschirmseide bekommt Mutter ein paar schicke weiße Blusen. In seinen Stahlhelm bohrt Vater ein Loch, steckt einen Holzstiel hindurch und hat nun einen Schöpfer, die Schapf, zum Leeren der Abortgrube. Die Balzheimer nennen es das Lachaloch.


Die Zeitung ist voller Tauschanzeigen. So bekomme ich mein erstes Paar Halbschuhe. Sie sind aus dunkel- und hellbraunem Leder gemacht und ich bin ungeheuer stolz: Kein anderes Kind im Dorf hat zweifarbige Schuhe wie ich! Es sind meine Sonntagsschuhe, aber der linke drückt qualvoll. Ich sage darüber kein Wort, denn ich habe Angst, Mutter könnte mir die Schuhe wegnehmen. Jeden Sonntag ertrage ich heldenhaft meine Schmerzen. Seitdem habe ich am linken Fuß einen plattgedrückten kleinen Zeh.

Wenn der Winter kommt, haben wir in der Schule Kohleferien. Es fehlt an Heizmaterial. Das bekommt man spärlich vom Rathaus zugeteilt. Im Frühjahr liegt das Holz und Tannenreisig in den Höfen. Überall wird auf Baumstümpfen, den Hackstotzen, gehackt und gescheitet. Die Großmütter und Mütter knüpfen das Reisig zu Bündeln. Die nennt man Wellen. Mit den Wellen machen wir Feuer im Küchenherd oder im Kachelofen, bevor wir die Holzscheite und danach die Briketts hineinlegen.


Mutter wirft Körbe voller Holzscheite in den oberen Stock der Schupf. Ich klettere über die Katzenleiter hinauf. Vater zeigt mir, wie man die Scheite sauber ineinander verzahnt und wie eine gerade und keine krumme Beige entsteht. Ich fürchte mich vor seinen regelmäßigen Kontrollen.


Vater beginnt eine Hasenzucht. Die Ställe sind hinter der Schupf direkt unter dem Starenkasten. Rechts daneben ist die Miste mit dem Holunderbusch und dem alten Zweiräder. Hier habe ich mein geheimes Blätterhaus und hier esse ich immer den in Habdanks Garten gestohlenen Jakob-Fischer-Apfel.

Mein Lieblingshase heißt „Muckl“ und ist schwarz-weiß-gefleckt. Mit dem kleinen Leiterwagen hole ich das Hasenfutter, suche entlang der Feldwege und auf Grasnaben nach Löwenzahn. Mutter nennt die fetten Blätterbüschel Milchstöcke.

Am Sonntag soll es Hasenbraten geben. Vater verspricht mir, den Muckl nicht zu schlachten. Dafür muss ein brauner Hase sterben. Vater hängt ihn mit dem Kopf nach unten an die Hüttentür und zieht ihm das Fell ab.


Deutschland wird eingeteilt in Zonen: die amerikanische, die englische, die französische und die russische. Die Amerikaner räumen das Dorf, ziehen aber nicht weiter als bis Dietenheim. Wenn ich etwas aus der Dietenheimer Apotheke holen muss, dann steige ich bei der Wirtschaft „zur Stadt“ vor einem rot-weißen Schlagbaum vom Fahrrad. Hier zeige ich meinen Passierschein, dann kann ich weiterfahren.

Eines Abends kommen Franzosen ins Haus und holen unsere Wolldecken, die in der Mehltruhe versteckt waren. Mutter und Großmutter schimpfen hinterher.


Trauer liegt über dem Dorf, eine Trauer, die man miteinander teilt, ein Schmerz, der alle verbindet. Die Franzosen sind gekommen, den Wald abzuholzen. So versündigen sie sich nicht nur am Wald, sie versündigen sich auch an den Balzheimern, vergehen sich an ihrem Mythos, dem Burschlet. Jahrhundertealte Fichten fallen. Über dem Dorf erhebt sich der Burschlet als ein kahler Buckel. Wir stehen trauernd zwischen den Baumstümpfen. „Was die Franzosen genommen haben, kann die Natur wieder zurückgeben“, sagt man uns in der Schule. Aber die Natur braucht Zeit. Sie braucht so lange, bis wir erwachsen sind. 71



Die neue Zeit



Mit einem Bezugschein kann man verschiedene Sachen kaufen. Man nennt sie Waren. Das sind Dinge, die morgen anders aussehen können als heute und die immer neu sind. Mutter fährt mit dem Fahrrad nach Ulm zur Firma Abt. Abends kommt sie abgekämpft und erschöpft heim. Auf dem Gepäckträger hat sie ein großes Paket mit Holzkochlöffeln und kleinen Schälchen aus Glas, außerdem einen Ballen braun-weiß-karierten Stoff aus holzigem Gewebe. Davon macht Tante Frieda lauter gleiche Glockenröcke für ihre Kundschaft.

Die Wolle ist aus einer stacheligen weißen Faser gemacht. Man bringt sie zu Frau Kutter. Die strickt uns Pullover, Jacken und Strümpfe auf ihrer Strickmaschine. Später werden die Wollstränge farbig. Ich bekomme von Frau Kutters Strickmaschine ein paar dicke graue Strümpfe. Die haben am oberen Ende einen Knopf, mit dem ich sie an den Strapsen befestige. Die Strapse wiederum bestehen aus einem grauen, vielfach gelochten Gummi, der an meinem gehäkelten Trägerleibchen, dem Leible, hängt. Die Strümpfe kratzen. Man sagt: sie beißen. Und sie beißen so fürchterlich, am allermeisten am Sonntagmorgen nach dem Füßewaschen, so dass ich mit stocksteifen Beinen die Treppe hinaufsteige.


Im Laden gibt es Zückerla, bunte Bonbons in großen Gläsern. Es gibt auch Lindes Kaffe und Sanella. Die Zigaretten heißen Zuban, Roxi und Golddollar. Fast jeden Tag stehen volle Pappkartons herum und verheißen Arbeit.

Die Arbeit wird mehr und mehr und frisst die Zeit. Mutter erzählt kaum noch Geschichten. Nun redet sie im Laden viel mit den Leuten, weil sie Geld verdienen muss.


Der Herbstwind jagt Staub und Blätter durch die Straße. Es kommt ein langer Zug von Pferdewagen. Eine alte Frau hält die Zügel. Die Zigeuner sind da! Schnell noch will Mutter die Haustür verriegeln. Die Zigeuner sind schneller. Frauen in farbigen Tüchern drängeln sich in den Laden. Im Hausgang steht groß und stolz die alte Zigeunerin. Meine kleine Großmutter kommt aus der Küche gelaufen, lächelt scheu hinauf in die schwarzen Augen der Zigeunerin. Zwei Großmütter stehen sich gegenüber, verharren sekundenlang im Schweigen. Dann sagt die alte Zigeunerin: „Oh Muater, s’wird kalt, d’ Zigeuner kommet wieder.“


Wir haben Besuch aus Dietenheim: Tante Marie mit Elisabeth. Die ist meine Cousine, hat eine Stupsnase und ihre Zöpfe hoch-gebunden zu „Affenschaukeln“. Elisabeth ist drei Jahre älter als ich. Ich bewundere sie, weil sie mir immer etwas Neues zu erzählen hat. Tante Marie und meine Mutter tuscheln am Küchenherd. Elisabeth steht dabei und hört zu. Ich sitze hinterm Küchentisch. Elisabeth kommt auf mich zu, zieht sich an der Tischkante hoch, robbt sich mühsam über die Tischplatte. Nun sind wir Gesicht an Gesicht. Sie blickt mir streng in die Augen und sagt: „Mei! Heit isch a Tag! En Nürnberg werret se alle g’henkt!“


Vater liebt Goethes Werke und davon besonders den „Faust“. Wenn er abends in seinem Bett vorliest, kuschle ich mich zwischen ihn und Mutter ins Gräbele. Von den vielen Bildern fasziniert mich das von der Hexenküche, wo unflätige Meerkatzen den Erdball herumkegeln. Vater erklärt mir, der Faust komme schließlich doch noch in den Himmel - und warum? Weil er ein Gewissen gehabt habe.


Jede Woche kommt eine Zeitung mit vielen schwarz-weißen Fotografien. Man sagt dazu Illustrierte. In der linken oberen Ecke ist ein Stern und „Stern“ heißt auch die Illustrierte. Irgendwo auf den hinteren Blättern finde ich meine Geschichten vom „Kohlenklau“ und vom Prinz Eisenherz. Der Kohlenklau trägt immer eine schwarze Augenklappe und einen Sack voller Kohlen auf dem Rücken. Prinz Eisenherz hat eine schwarze Pagenfrisur und muss jede Woche neue Abenteuer bestehen. Die Bilder sind ohne Geschichte. Längst habe ich begriffen: sie sind die Geschichte selbst. Was die Leute sagen, steht im Bild auf einem weißen Fleck. Die Wanderfilmbühne kommt ins Dorf mit dem Stummfilm „Der gestiefelte Kater“. Mit Lehrer Häußler gehen wir in den Nestle. Bei einem Film - das habe ich schon einmal gehört - können die Bilder laufen. Aber wohin? Und können die Leute aus den Bildern herauslaufen? Mit Herzklopfen sitze ich auf einer der aufgeklappten langen Bänke. Die Fensterläden sind geschlossen, die Vorhänge zugezogen. Der Saal ist verdunkelt. Ganz vorne sehe ich auf einem Gestell die aufgerollte weiße Leinwand, etwas größer als unsere Schultafel. Die Spannung wird unerträglich, denn jetzt lässt der Vorführer hinter mir den Filmapparat surren. Aus der Leinwand wird plötzlich eine Tür. Ich könnte in das Bild hineingehen bis hin zu dem Bänkle vor der alten Mühle, wo der Müllersbursch sitzt mit seinem klugen weißen Kater. Der bekommt Stiefel, läuft später in seinen Stiefeln vergnügt hinter einer Postkutsche her und winkt den Bauern zu, die auf dem Kornfeld arbeiten. Die Bauern winken zurück. In der Ferne sieht man das Schloss des Zauberers. Wenn der Kater seinen Mund zum Sprechen bewegt, hört man Lehrer Häußlers Stimme. Der sitzt mit der einen Po-Hälfte auf einem Wirtshaustisch hinter mir. Das Märchen geht zu Ende, die Leinwand wird zu einem blinden weißen Auge. Ich sehe mich hinausgeschleudert ins grelle Tageslicht.


Vater ist im Musikverein. Er besitzt ein Schlagzeug, eine Mandoline und eine Ziehharmonika. Mit Hans, der Geige spielt, und mit Hermann hat er oft geübt in Habdanks Stüble. Mit seinem Vetter Dolf und anderen spielt er zum Tanz auf, wenn Hochzeit ist im Nestle.


Es herbstelt. Die Tage werden kürzer und im Zipfel brennen schon die Lichter. Mit Vater gehe ich die Berggasse hinauf zum Hirtenhaus. Vater ist auch im Theaterverein. Da gibt es die Martha und den Lude, den Ernst, den Gustl, die Elies, den Bib und die Berta, die Trudel, die Erika, den Otto, die Barts Erna und den Karl, den Emil und die Emma, die Holders Erna und die Lore. Die beiden singen und jodeln zu ihrem Zitherspiel. Da gibt es auch den Schorsch mit der Ziehharmonika, die Wegmanns-Brüder und die Steigrommels-Brüder.

Das Hirtenhaus-Stüble hat eine niedere Holzdecke. Im kleinen Eisenofen neben der Tür bullert das Feuer. Aufgereiht wie die Glieder einer Kette sitzen die Theaterspieler entlang der Wand am langen Tisch. Es ist Leseprobe. Vater unterbricht gelegentlich und korrigiert die Betonung.

Wenn Vater abends aus dem Haus geht, sitzt Mutter allein in der Stube und nadelt an ihrem Strickzeug. „Du bisch koin Obed me dohoim“, jammert sie. Vater tröstet. Ich höre sein Lieblingswort: Kameradschaft.


Am zweiten Weihnachtstag geht man in den Nestle ins Theater. Und der Nestle wird zum Bienenhaus, denn die Besucher kommen auch aus den Nachbarorten. Leute ohne Sitzplatz stehen bei Max am Ausschank neben der Flügeltür, die unermüdlich auf- und zuschlägt. Wenn Vater vor den Vorhang tritt und die Begrüßungsrede hält, bekommt Mutter ein hochrotes Gesicht, ist außer sich vor Freude und ihre Hände zittern. Ich schleiche mich wieder hinter die Bühne. Da wartet Martha mit rotgeschminkten Wangen nervös auf ihren Auftritt. Einer steht an einem großen Blech und macht - wenn er dran ist - den Donner. Ein anderer zieht den Theatervorhang auf oder zu.

Mäuschenstill sitze ich zwischen Kostümen, Werkzeugen, Rollenbüchern und Schminktöpfen. Ich habe ein starkes Gefühl Für dieses Gefühl habe ich keinen Namen. Aber ich will es festhalten und wenn es mich verlassen wird, dann werde ich mich aufmachen und seiner Spur folgen.



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Das Federkleid

Inhalt

die vögel 4

Das Mädchen 5

Der Hase Muggl 7

Kindergarten 9

Vater 11

Das Buch 12

Tagebuch der Annerose M. 14

Backfisch 14

In jenem Garten 31

Zwar – Aber 46

Sechzigerjahre 47

Schneewittchen 66

Versteck 66

Phoenix 75

Hoffnung 82

Zu eurer Zeit 84

Siebzigerjahre 95

Topfpflanze 96

Brüche mit Präpositionen 99

Die Mauer 100

Blut 101

Fliegen 114

Der Garten 127

Achtzigerjahre 128

Die Katze 135

Neunzigerjahre 138

Das Lied der ersten Lebensräume 163

Großvater – Großmutter 165

Sonntag 166

Überall 173

Ultra violett 177

Die Frau 179

Du bist fort 182

Violett 190

 


Annerose M. will es wissen:

Sie wächst auf in einer süddeutschen, pietistisch geprägten

Dorfgemeinschaft der Nachkriegszeit, kämpft sich mühsam

durch für sie perspektivlose Schulversuche und durch

ungeliebte Jobs bis hin zum Studium ihrer Wahl.


Annerose M. will es wissen:

So taucht sie ein in die außerparlamentarische

Bewegung der Achtundsechziger, wird Mitglied bei den

Jungsozialisten und knüpft Kontakte zu K-Gruppen und zur

Friedensbewegung der Achtzigerjahre.


Annerose M. erzählt aus dem Blickwinkel ihres

eigenen Erfahrungsbereiches, spricht über ihr mit

politischen Aktivitäten eng verzahntes Privatleben, ihre

Partnerbeziehungen und ihre Kinder.


Widersprüche in Theorie und Praxis erfährt sie als

Glücksmomente und tiefstes Leid und sie versucht diese -

fern jeglicher Missionierungsanstrengungen - schreibend

zu bewältigen.





die vögel



mit meinen

gedanken

fliegen

fremde Vögel

gefiederte

monster

aus galaxien

unendlicher kleinheit

umkreisen mich und

blicken

stumme zeichen


aber

im tanz

verschwenden sie

bedeutung

mit breiten flügelschlägen

aber

im tanz

hacken sie mit

spitzen schnäbeln

auf plastik

und singen

ihre klagenden worte





Das Mädchen



Am See


Der Vater schwimmt in ruhigen Zügen. Das Mädchen sitzt auf seinem Rücken.

Der ist ihm die Insel im schwarzen Gewässer, ist das mächtige, fleischige Wesen, das es trägt.

Der Vater schwimmt dem Ufer zu, bleibt schließlich zurück im Wasser. Das reicht ihm bis zu den behaarten Schultern. Er fasst mit seinen großen Händen den Hals des Mädchens, lacht breit: „Jetzt tu ich dich ein bisschen abhärten“. Und drückt es hinunter in die Tiefe. Dort fühlt das Mädchen an seiner Haut die Algen und Fische. Es muss hier wohl bleiben. Für immer.

In dieser schwarzgrünen Welt.

Dann sticht Helligkeit in sein Gesicht. Das Mädchen ist herausgezogen, holt zitternd Luft, klammert sich an den Hals des Vaters. Der nimmt den Kopf des Mädchens zwischen seine großen Hände, lacht breit und drückt es wieder und wieder hinunter in die schwarzgrüne Welt der Algen und Fische.

Einmal kommt das Ufer nah, fährt träge heran wie ein rettendes Schiff.

Du bist mir vielleicht ein Angsthase!“, lacht der Vater, steigt aus dem Wasser, drückt das Mädchen fest an sich.

Es pustet, möchte weinen, aber die Tränen können nicht fließen.

Eine Angst ist in sein Leben gekommen, schwer und mächtig wie Vaters Hände.

Nun steht es allein am Ufer, eingehüllt in den sonnenwarmen Tag und in den Duft der Blumenwiese.

Vom See her kreischen die Wildgänse und aus dem Geäst des Busches fliegt ein kleiner Vogel.

Er fliegt sehr hoch bis zu den Wolken. Dann ist er verschwunden.





Der Hase Muggl


Der Vater ist vom Krieg zurückgekommen. Er züchtet Hasen. Seitdem gibt es am Sonntag oft Hasenbraten.

Das Hasenfutter – meist Löwenzahn – sammelt das Mädchen mit dem kleinen Leiterwagen entlang der Rübenäcker und Kartoffelfelder.


Wenn der Vater einen Hasen tot macht, schlägt er ihn mit dem stumpfen Teil des Beils auf den Nacken, dann nimmt er ihn bei den Hinterläufen, hängt ihn an die Schuppentür und beginnt, den Pelz abzuziehen.

Das Mädchen weiß: Muggl wird bald geschlachtet.

Im Hof hat der Vater ein kleines Gehege gebastelt. „Da soll Muggl noch einen Nachmittag lang herumhoppeln“, sagt der Vater, „und pass gut auf, dass er nicht wegläuft!“

Der Vater verlangt Gehorsam.

Das Mädchen wartet, bis Muggl mit einem Sprung über den Gehegezaun verschwunden ist.

Eine Freundin kommt vorbei, nimmt das Mädchen an der Hand. Sie hüpfen beide davon zum Versteckspielen.


Dann bringen Kinder die Botschaft, das Mädchen solle gleich heimkommen, sie bekomme eine Strafe.

In der Küche sitzen die Mutter und die Nachbarin beim Erbsenausschälen. Das Mädchen schöpft Hoffnung.

Da kommt – übergroß und lautlos wie ein Tiger – der Vater durch die Küchentür.

Er beginnt mit starken Schlägen auf beide Ohren des Mädchens, zischt Fragen, die es nicht verstehen kann, stellt es schließlich auf den Kopf, hält mit einer Hand seine Füße umspannt und schlägt es mit der anderen auf Po und Rücken.

Die Haut beginnt zu brennen und das Mädchen wimmert: „Ich bin wieder lieb, ich bin wieder lieb!“. Es nässt dabei auf den Küchenboden.

Nun flehen die Frauen, der Vater solle aufhören.

Als das Mädchen wieder aufrecht steht, sieht es Tränen im Gesicht der Nachbarin.

 



Kindergarten



Er ist weiß gekalkt und hat dunkelgrüne Fensterläden.

Am frühen Morgen geht Tante Hilde mit den Kindern zum hellgrünen Bretterzaun.

Sie trägt ein weißes Schwesternhäubchen mit schwarzem Hakenkreuz.

Zwei Buben ziehen die schwarz-weiß-rote Fahne auf Halbmast und alle singen: „Die Fahne hoch, die Reihen dicht geschlossen, SA marschiert im gleichen Schritt und Tritt…“

Das Mädchen langweilt sich, schwatzt und lacht mit der Nachbarin, einem Ferienkind.

Tante Hilde zieht die beiden an den Ohren ins HJ-Heim. Das ist ein Raum im Kindergarten, wo die Hitlerjugend abends zusammenkommt. Dort sind die Mädchen eingesperrt bis der Raum zum Nachmittagsschlaf geöffnet wird.

Die Kinder klettern auf ihre Bastliegen.Tante Hilde sitzt auf einem kleinen Stühlchen und flötet: “Maikäfer flieg, dein Vater ist im Krieg, deine Mutter ist in Pommerland, Pommerland ist abgebrannt, Maikäfer flieg.“


Nach dem Aufwachen und bevor es zum Spielen in den Garten geht, ruft Tante Hilde:

Zwei und zwei aufstellen zu den Aborten!“ Die Kinder halten sich gegenseitig an der Hand und trippeln die Steintreppe hinunter. Die Größeren kümmern sich um die Kleinen.

Und um das Mädchen kümmert sich wie jeden Tag die riesengroße, böse Fee.

Sie drückt es fest an ihren Bauch. Es will sich befreien, dreht den Blick nach oben und sieht am Ende der Gestalt den schwarzen Pagenkopf der bösen Fee.

Das Ritual beginnt. Sie schlägt auf das Mädchen ein, drückt es schließlich auf den Abort.

Das Mädchen wehrt sich, schreit und strampelt. Dafür bekommt es wieder Schläge.

Es weint, aber da ist niemand, der es hört.





Vater


wenn ich es wagte

zu sagen

ich hab dich lieb

gib mir den Schlüssel

zu deiner Festung

aus Erinnerung

ich beträte sie

mit einer zerschlissenen Fahne

darauf ständen

verblichen

die Worte

nie wieder Krieg

und wenn ich

riefe

in diese Festung

aus Erinnerung

ICH WILL ZU MEINEM VATER

wenn ich es wagte

wie könnte ich

dich

befreien

 



Das Buch


Die Matrone hat Vogelaugen über der fein geschwungenen Nase und graues, streng zurückgekämmtes Haar. Das mündet am Hinterkopf in eine senkrechte Rolle.

Zwischen ihr und dem Mädchen dehnt sich die dunkle, kalt glänzende Tischplatte und spiegelt schemenhaft das Kaffeegeschirr.

Die Matrone führt die Tasse an den Mund, den kleinen Finger dabei weit abspreizend.

Sie schlürft kurz und gierig. Dann ordnet sie die Hände nebeneinander auf dem Tisch und lehnt sich zurück. Die Vogelaugen blicken stechend.

Ich höre, du malst und zeichnest gut, du liest Bücher. Warum um Gottes Willen schickt man dich auf die Handelsschule? Du solltest Kunst studieren. Sprich mit deinen Eltern! Eines Tages ist es zu spät und dein Leben ist verpfuscht.

Da! Nimm einen Keks!"

Danke“, sagt das Mädchen. Der Keks lastet auf seiner Zunge wie ein Schuldspruch.

Es versucht, den Schuldspruch hinunterzuschlucken.

Vom verpfuschten Leben hat es nie etwas gehört. Das Leben sei ein ewiger Kampf, sagen die Eltern, und der Großvater sagt, schon der Schopenhauer habe gewusst, dass jeder von dem vielen Leid sein Päckchen zu tragen habe.


Das Mädchen schweigt, fühlt sich von den dunklen Möbeln eingeschlossen wie in einem Käfig. Die ganze Welt scheint sich plötzlich zu verwandeln in eine Ansammlung von Käfigen.

Das Mädchen kommt nach Hause, kämpft sich durch Kisten, Pappschachteln, Säcke, Regale. Das ist die Käfigwelt der Waren. Der Vater ruft: „Du solltest dich um deine Geschwister kümmern!“ Das Mädchen nimmt sie an der Hand, geht mit ihnen zur Mutter ins Schlafzimmer. Die Leute sagen, sie liege im Sterben.


Wenn die Küche aufgeräumt ist, die Geschwister zu Bett gebracht und die Schulaufgaben gemacht sind, geht das Mädchen zu seinem Leseversteck. Das ist Vaters Bücherschrank in der Guten Stube. Es nimmt sein Lieblingsbuch, setzt sich damit auf den Boden und liest:

„…denn also sprach Zarathustra: Ich will Kobolde um mich haben, denn ich bin mutig und es ist Weisheit darin, dass vieles in der Welt übel riecht. Der Ekel selber schafft Flügel.“





Tagebuch der Annerose M.



Backfisch

 


Ich finde mich zu dick. Margot meint, ich hätte aber eine Mannequin-Figur oder eine wie Marylin Monroe oder nein, eigentlich sei ich mehr der Typ Gina Lollobrigida, weil dunkelhaarig.

Ich schnüre mich mit einem breiten Gummigürtel. Den gibt es jetzt in allen Farben.

So komme ich beim Baucheinziehen auf fünfundsechzig Zentimeter. Am schmalsten wirkt meine Taille, wenn ich unter dem Kleid zwei Petticoats übereinander trage oder wenn ich langgestreckt auf dem Fahrrad nach vorne hänge. Hans fragte mich, als er mit seinem Fahrrad neben mir herfuhr, ob ich in letzter Zeit schlanker geworden sei.

Ich bin unglücklich.

Abends stehe ich lange am Spiegel und drücke meine Pickel aus. Am nächsten Tag sind sie wieder da, vor allem am Kinn und über der Nasenwurzel.

Zu meinem Pferdeschwanz habe ich mir ein Halbpony geschnitten. Vater hat es gleich bemerkt. So könne ich geradewegs zum Zirkus gehen. Das Haar gehöre aus dem Gesicht. Ich solle die Fransen auf der Stelle mit einem Klämmchen feststecken.

Jedesmal, wenn ich aus dem Haus gehe, lasse ich das Klämmchen in der Tasche verschwinden und kämme mir die Fransen ins Gesicht.

Meine Beine, eigentlich meine Waden, sind ungefähr in Ordnung. Die Kerle schauen als erstes auf die Waden, vor allem, wenn sie die Mädchen von hinten sehen.

Am Sonntag, wenn ich mit meinen Freundinnen ins Kino gehe, tragen wir Nylonstrümpfe, auch wenn es kalt ist. In einer Fünferreihe marschieren wir zum Nachbarort ins Kino, drehen uns synchron nach etwa fünfzig Schritten um, gehen dabei leicht in die Knie und sehen nach, ob die Naht noch in der Mitte sitzt.

Ich habe nun auch Ballerina-Schuhe, ganz flach mit einem kleinen Schleifchen an der Ferse.


Ich finde mich zu dick. Eigentlich aufgebläht. Mutter meint, dass komme daher, dass die Periode immer ausbleibe. Das sei in meinem Alter normal. „Irgendwann, spätestens wenn du Kinder bekommst, wird sich alles einrenken.“

So lange werde ich nicht warten.

Aber das Problem Periode scheint unlösbar, auch das nächste, meine Sucht nach Süßigkeiten Davon gibt es haufenweise im Laden meiner Mutter. Ich bediene mich heimlich da, wo die Zuckerringe, Schokoriegel oder Mohrenköpfe in großen Mengen aufgeschichtet sind.

Dennoch erwischen mich die Eltern. Vater nennt es Stehlen. Am Mittagstisch habe ich keinen Hunger, schöpfe aber von Mutters gesundem Essen eine Portion, die man als normal bezeichnen könnte. Mutter sitzt mit beleidigtem Gesicht am Tisch. Vaters Blick kontrolliert meinen Teller. Ich versuche, so viel Essen wie möglich in den Backentaschen zu sammeln. Dann gehe ich zur Toilette, spucke alles in die Closchüssel und gehe wieder zurück zum Tisch. Zwischendurch klingelt die Ladenglocke. Weil entweder die Mutter oder der Vater vom Tisch geht, fülle ich währenddessen ein zweites Mal meine Backentaschen, ohne dass sie es bemerken.

Weniger schwierig ist es, die Süßigkeiten-Mahlzeit loszuwerden.

Ich schleiche mich auf die oberste Bühne ins Dachgeschoss. Man kann sie nur mit einer Leiter erreichen. Dort wartet meine Schüssel. Ich stecke den Finger in den Rachen und würge das eben Gegessene heraus. Wenn ich mich unbeobachtet fühle, leere ich die Schüssel, mache sie sauber und stelle sie zurück ins Dachboden-Versteck.


Vater war auf dem Dachboden. Er zelebriert die Entdeckung, trägt die von mir noch nicht geleerte Schüssel feierlich vor sich her, bleibt vor mir stehen und schweigt.

Ich bin angeklagt.

Angeklagt nicht nur wegen der Schüssel. Sie ist nur der neueste der Ungehorsamsbeweise. Seit einem Jahr bitte ich Vater, bei meiner Firma kündigen zu dürfen. „Das kannst du dir vollkommen aus dem Kopf schlagen, bevor du volljährig bist, nämlich einundzwanzig. Bedenke aber, hier hast du eine Lebensstellung.“

Das Urteil lautet: Lebenslänglich.

Lebenslänglich ist für mich bis einundzwanzig. Bis dahin werde ich eingesperrt bleiben mit widerlichem Papierzeug aus Geschäftsbriefen, mit Texten, die von Maschinen und Maschinenteilen reden, eingesperrt und ausgesetzt der täglichen Folter einer Bürouhr, die aussieht wie eine Bahnhofsuhr. Das heißt: zwischen dem Verweilen des Zeigers auf dem Minutenstrich und dem Vorrücken zum nächsten liegt eine ganze Ewigkeit.

Wenn endlich Mittagspause ist und ich zu meinem Fahrrad gehe, weiß ich nicht, wie es möglich war, dass so ein Vormittag zu Ende gehen konnte.


Ich sage den Eltern, ich möchte Kunst studieren.

Warum heißt es wohl die brotlose Kunst?“, sagt Vater, „kommt überhaupt nicht in Frage!“

Dann verstehe ich nicht, warum ihr allen Leuten meine Bilder zeigt!“

Ich könne ja das Malen und Zeichnen als Steckenpferd betreiben, sagt Vater.

Dann möchte ich Stewardess werden oder Arzthelferin.“

Dr. Berg meinte, ich solle Arzthelferin werden. Die würden weggeheiratet wie die warmen Semmeln, sagte er zu meinen Eltern. Heiraten will ich noch nicht.

Mutter sieht traurig aus. „Du wirst so oder so heiraten, dann wäre ein Studium ganz umsonst gewesen, und als Stewardess wärst du immer so weit weg von daheim, auch weg von deinen Geschwisterchen.“


Ich habe viele meiner Bilder weggeworfen. Mit dem Malen und Zeichnen habe ich aufgehört. Stattdessen schlage ich mir den Magen voll mit Süßigkeiten.

Für meine Schüssel habe ich ein neues Versteck. Es ist im Obergeschoss des Schuppens.


Maloja. Ich bin in der Mädchen-Freizeit. Mit dem Bus sind wir über den Julier-Pass in Richtung Engadin gefahren. Unterwegs haben wir verschiedene Fahrtenlieder gesungen wie „Wir lieben die Stürme, die brausenden Wogen…“ oder „…ein Hase saß im grünen Gras, singing holly, dolly, doodle all the day…“. Bei „Kreuzesfahnen wollen uns bahnen den Weg durch die finstere Nacht…“ stellt sich Fräulein Müller neben den Busfahrer und dirigiert. Drüben am Silser See liegt Sils Maria. Hier hat Friedrich Nietzsche den Zarathustra geschrieben. Neben unserem Freizeitheim ist ein französisches Jungen-Internat. Leider von uns getrennt durch einen hohen Zaun. Dahinter sehen wir sie manchmal Fußball spielen. Fräulein Müller verbietet uns, an den Zaun zu gehen. Der einzige Mann in unserer Freizeitgruppe ist der Pfarrer. Er hat ein fröhliches Gesicht und ist lange nicht so streng wie die Gemeindehelferin. Fräulein Müller hat einen Damenbart, trägt stabile Bergschuhe, einen weiten Faltenrock und eine Hemdbluse.

Ich bin froh, dass ich nicht eingeteilt bin für den Weckdienst. Frühmorgens um sechs rennt ein Mädchen mit Kuhglockengeläute die Gänge entlang.

Du hast noch kein Morgengebet gesprochen“, sagt Babette, meine Zimmerkameradin. „Das geht dich wohl nichts an!“, sage ich. „Jawohl geht mich das was an, morgens und abends müssen wir im Bett ein Gebet sprechen. Hat man uns am ersten Tag gesagt!“ Ich haue Babette mein Handtuch um den Kopf, sie haut mit ihrem Handtuch zurück. Zerstritten und unausgeschlafen stehen wir in der Schlange zum Wasserhahn, denn Fräulein Müller hat die Anweisung gegeben: „Jeden Morgen wascht ihr Gesicht und Hände und auch euren Oberkörper! Warmes Wasser gibt es nicht.“ Wir versammeln uns im Hof um den Brunnen zur Morgenandacht. Anschließend ist Frühstücken im großen Speisesaal.


Endlich ein freier Tag. Ich verstehe nicht, warum sich die anderen in nur zwei Gruppen auf die Wanderung machen, die eine mit dem Pfarrer, die andere mit der Gemeindehelferin. Ich bin schon unterwegs mit einem Einkaufsnetz, trage mein ärmelloses Sommerkleid und meine Ballerina-Schuhe.

Ich spaziere durch die Gässchen von Maloja, sehe Kühe, die aus dem Dorfbrunnen trinken, kaufe in einem kleinen Laden ein Yoghurt und höre, wie die Frauen miteinander Rätoromanisch sprechen. Beim Kommen und Gehen sagen sie „Ciao!“ und es klingt wie Musik. Ich bin im Süden! Ich bin auf einem fremden Stern! Ich habe ihn allein entdeckt an diesem Sommermorgen, ohne das Fräulein Müller, ohne den Pfarrer und die anderen!

Die Schneegipfel des Engadin glitzern in der Sonne.


Mit meinem Yoghurt im Einkaufsnetz wandere ich über die Almen. Weiter oben sonnen sich die Murmeltiere vor ihren Höhlen. Sie sind ohne Scheu, wenn ich vorbeigehe. Ich steige kreuz und quer, der Schnee kommt näher. Wenn ich ins Tal hinunter sehe, sind die Kühe so klein wie Ameisen.

Schließlich komme ich auf ein Hochplateau.

Ich habe Durst und einen Sonnenbrand. Den Schnee will ich nicht mehr erreichen. Und die Aussicht ins Tal hinunter macht mir keinen Spaß. So suche ich den Weg, den ich heraufgestiegen bin. Ich gelange ein kleines Stück bergabwärts. Doch unter meinen Füßen tut sich eine tiefe Schlucht auf. Ich klettere zum Ausgangspunkt, probiere einen neuen Weg aus. Nun ist es eine Schlucht mit Wasserfall. Wieder stehe ich auf dem Hochplateau, will um Hilfe schreien, aber meine Stimme ist nicht mehr da. Dann werfe ich Steine in die Tiefe. Wenn sie vom Fels abprallen, sagen sie mir, dass die Wand ein Stück begehbar ist. Manche der kurzen Abschnitte lassen sich klettern, andere kann ich rutschen. In einer Hand halte ich das Netz mit meinen Ballerina-Schuhen. Das Yoghurt habe ich auf dem Plateau zurückgelassen.

Allmählich komme ich auf Pfade, die ich aufrecht gehen kann. Mein Kleid und meine Unterhose sind zerschlissen und meine Haut spüre ich nur als ein einziges höllisches Brennen.

Ein Murmeltier sitzt wachsam auf einem Stein, als hätte es auf mich gewartet. Die anderen sind in den Höhlen verschwunden, denn es beginnt dunkel zu werden.

Ich habe meine Stimme wieder, probiere leise ein paar Melodien aus und sie gelingen.


Im großen Speisesaal sitzen sie alle beim Abendessen.

Gerade wollten wir die Bergwacht alarmieren! Wie kannst du uns in solche Schwierigkeiten bringen! Deine gerechte Strafe hast du ja bekommen!“ schimpft Fräulein Müller auf mich ein. Ich finde kein einziges Wort, mit dem ich antworten könnte, gehe schweigend und leicht gebeugt durch die Stuhlreihen und fühle im Rücken die selbstgerechten Blicke.

Margret, die Älteste, wohl Klügste, Gläubigste an unserem Tisch zwinkert mir zu und schöpft mir mütterlich das Essen auf den Teller.

Wochen nach unserer Mädchenfreizeit bekomme ich von Margret einen lieben Kartengruß. Mit keinem Wort erwähnt sie meine einsame Bergwanderung.

Ich weiß nicht, warum ich diesen Gruß nicht beantworte. Aber ich werde Margret nicht vergessen.


Vater bezahlt mir einen Tanzkurs. Abends radle ich zum „Grünen Baum“. Der hat einen großen, sehr niedrigen Saal mit Tanzfläche. Der Tanzlehrer wendet sich an uns Mädchen: „Nehmt alle Platz in einer Reihe auf den Stühlen! Der junge Mann, der euch heute zum Tanz auffordert, wird euer Tanzkurspartner.“

Unscheinbar und zierlich steht Friedhelm eingezwängt zwischen den anderen. Allesamt Kerle, die mir mindestens besser gefallen als Friedhelm. Vor allem sind sie lässig. Lässig ist das Zauberwort. Keiner braucht schön zu sein wie James Dean.

Aber James Dean ist beides, vor allem mit der Zigarette im Mundwinkel „und dem schwierigen Blick“, sagt Margot immer. Zum Sterben lässig! Manche Kerle versuchen, ihn nachzuahmen.

Friedhelm versucht es nicht mal. Er starrt nur unentwegt zu mir herüber, starrt wie ein kleines Mädchen auf ein Stück Torte.

Der Tanzlehrer wirft die Schallplatte an. Es kommt der erste langsame Walzer. „Ich tanze mit dir in den Himmel hinein, in den siebenten Himmel der Liebe…“

Nur mit Wolf möchte ich jetzt tanzen. Er brauche keinen Tanzkurs, sagt er.

Wolf ist zum Sterben lässig. Er muss James Dean nicht nachahmen. Wolf hat die Lässigkeit selbst erfunden. Und Wolf hat seinen eigenen, schwierigen Blick. Von James Dean hat er nur die Frisur und die Art zu rauchen.

Die Musik läuft, die Kerle schießen los. Friedhelm hat einen Riesenvorsprung und kommt als Erster direkt vor mir zum Stehen. „Man darf nie einem Mann einen Korb geben. Das tut man nicht“, hat Vater zu mir gesagt, als ich mit den Eltern zu einer Hochzeit eingeladen war. So gebe ich nun auch Friedhelm keinen Korb.

Nach dem ersten Kursabend kommt Mutter ins Schwärmen und summt: Ich tanze mit dir in den Himmel hinein… „Zu dieser Melodie haben wir früher schon getanzt!“

Beim nächsten Kursabend ist der klassische Walzer dran mit Dreivierteltakt.

Ich schmeiß den Kurs. Den Scheiß mach ich nicht mehr mit!“, mault Dieter, tanzt aber weiter ungelenk und missmutig seine Runden. Einer fragt: „Wann lernen wir endlich den Rock`n`Roll?“ Erst sollten wir mal gefälligst das Tanzen lernen, meint der Tanzlehrer am Ende des Abends.

Wir begreifen endgültig: er lässt nicht mit sich handeln.

Ein paar der Kursteilnehmer gehen heim. Zum Glück geht Friedhelm mit ihnen. Ich ahne, dass ich nie mehr mit ihm tanzen werde. Mein Körpergefühl sagt es mir.

Der größere Teil des Kurses beschließt, ab dem nächsten Mal zu schwänzen und dafür zu Rudi zu gehen. Rudi hat eine Kellerbar. Dort lassen wir Bill Haley und Elvis über die Maßen laut aufdröhnen und spielen dazu „Blinde Kuh“. Später zeigt uns Rosemarie, wie man den Boogie-Woogie und den Mambo tanzt.

Zu Hause fragen mich die Eltern, ob es schön gewesen sei und was wir gelernt hätten.

Heute den Tango“, sage ich. Den kann ich nämlich, weil Vater ihn längst mit mir geübt hat.

So hüten wir alle das Geheimnis „Kellerbar“.

Wir trinken Coca-Cola, weil man ohne nicht dazugehört. Die meisten Kerle rauchen. Von den Mädchen raucht nur Rosemarie.

Und eines Abends kommt Wolf vorbei.


Wenn du mit Wolf gehst, dann hast du mit dem auch schon was gehabt“, sagt Margot zu mir. „Erstens geh ich nicht mit ihm und zweitens hab ich mit ihm noch nichts gehabt“, fauche ich sie an. Weil Margot meine beste Freundin ist, sage ich hier die Wahrheit.

Etwas nicht zu erzählen, halte ich nicht für gelogen. So sage ich nicht, dass ich mich heute Abend mit Wolf unten am Friedhof treffe.


Pünktlich taucht Wolf mit seinem Fahrrad aus dem Nebel auf. Er geht neben mir her und schweigt. Die Stille macht mich unsicher und ich sage, ich hätte Angst, jetzt in dieser Dunkelheit auf den Friedhof zu gehen.

Wolf schweigt, er legt seinen Arm um mich und macht mit einer Hand das große, eiserne Tor auf. Dann spazieren wir eng umschlungen zwischen den Gräbern umher. Ich habe keine Angst und drücke meinen Kopf in seine Achselhöhle. Dann halten wir unter einem Baum. Wolf nimmt mein Gesicht zwischen seine Hände und gibt mir einen Kuss. Er sagt nicht, „ich liebe dich“, er sagt: „Du hast ja eisblaue Augen und ganz schwarzes Haar.“


Ich bin zum Faschingsball eingeladen und trage einen blau-rot-gelben, seidigen Kimono. Lange sitze ich am Spiegel mit den Schminkstiften, forme meine Augen zu rabenschwarzen Schlitzen, mache die Augenlider hellblau, die Lippen rot, türme mein Haar hoch auf und stecke in den Dutt bunte Papierschirmchen. Die bekommt man in der Milchbar, wenn man Eis isst.

Die Kapelle nennen wir „Jambalaja-Freddy“, weil am Schluss jedes Mal der Jambalaja-Song dran ist. Natürlich spielen sie auch „Am weißen Strand von Surabaja…“ oder „Jim, Jonny und Jonas, die fahren an Java vorbei, Jim, Jonny und Jonas, die fahren direkt nach Hawaji…“ oder den „Tom Dooley“ und das „Banana-Boot“. Die Hawaji-Gitarren singen von fremden Ländern. Die hat im Saal noch keiner gesehen. Auch die Alten sind jetzt auf der Tanzfläche zum langsamen Walzer.

Später kommt eine Pause. Die Alten sitzen an den Tischen.

Jetzt erst sehe ich Wolf bei ein paar Freunden an der Bar stehen.

Freddy spielt einen Tusch. Im Saal wird es ganz still.

Es beginnt der Rock´n´Roll.

Wolf geht auf die Bühne, nimmt das Mikrophon und singt „Rock around the Clock…“

Wir stürmen vor die Bühne, wippen wild im Takt, schwenken die Arme und lassen die Hüften kreisen. Jemand vom Tisch der Alten ruft: „Das sind unsere Halbstarken!“

Freddy spielt jetzt Elvis.

Auf der Bühne rockt Wolf, rockt und singt, ist nicht mehr Wolf, ist nur noch Elvis.

Ein älteres Ehepaar mault: „Jetzt müssen wir wohl das Feld räumen.“

Ich rocke bis mir schwindlig wird. Mein Japanerinnen-Dutt ist vom Kopf gerutscht, hat sich vollkommen aufgelöst und die Schirmchen liegen zertreten am Boden. Ich rette mich an die Bar und trinke ein Coca-Cola, höre nur noch Wolfs Stimme durchs Mikrophon und fühle, dass ich einen jener Momente erlebe, die nicht bleiben und die das Leben wieder fortnimmt, weil sie so glücklich sind, dass ein Mensch sie nicht ertragen kann.


Ostersonntag. Die Morgensonne scheint durch die bunten Kirchenfenster. Ich sitze neben meiner Mutter in der Bank. Des Pfarrers Stimme, die Choräle, das betende Gemurmel der Leute – all das drängt sich mir auf wie ein einziger Schuldspruch.

Nur von meiner Mutter geht etwas aus, das sich an mich schmiegt wie wundersame Solidarität. Uns trennt nicht mehr das Unaussprechliche. Und doch kennt sie mein Geheimnis nicht.

Ich habe heute Nacht mit Wolf geschlafen. Und er hat mir dabei gesagt, dass Sex zwischen Mann und Frau sehr wichtig sei. Ich habe nichts darauf geantwortet, denn ich brauche den Sex nicht, weil ich Wolf ja so sehr liebe.

Und doch ist es jetzt geschehen.

Ich habe etwas gehabt mit Wolf.


Meine Periode ist wieder ausgeblieben. Irgendwie ist in letzter Zeit einiges normaler verlaufen, auch die Periode. Auch habe ich nichts mehr ausgekotzt.

Die Eltern tun mir leid in ihrer unverhohlenen Dankbarkeit, denn ich weiß nicht, wann ich sie wieder enttäuschen werde. Nicht mehr mit dem Auskotzen, aber wer weiß – vielleicht mit etwas anderem.


Die Periode bleibt aus. Es sind nun drei Monate über die Zeit. Ich verabrede mich mit Wolf.

Wir gehen die Iller entlang.

Das eine muss klar sein“, sagt Wolf, „wir heiraten katholisch und die Kinder werden katholisch erzogen. Mein Onkel ist Priester und hat mich zu seinem Erben eingesetzt."

Ich habe einen katholischen Großvater und der ist immer gut zu mir gewesen. Zwar ist er mein Stiefgroßvater, aber doch mein liebster Großvater bis in alle Ewigkeit“, sage ich zu Wolf. „Ich kann mich auch katholisch trauen lassen.“ „Vergiss nicht, die Kinder!“, sagt Wolf.

Am Abend sitze ich bei ihm in seinem Zimmer. Er legt eine Schallplatte auf von Schubert: „Die Unvollendete“.


Meiner Mutter erzähle ich nichts von der ausgebliebenen Periode.

Den ganzen Samstag warte ich auf einen Anruf von Wolf. Er hat mich gefragt, ob ich Lust hätte, übers Wochenende mit ihm und seinen Freunden zum Skilaufen zu fahren. „Ich habe nie Skilaufen gelernt“, sage ich ihm. Wolf meldet sich auch am Sonntagmorgen nicht.

Ich weiß, unsere Nachbarin hat in ihrem Nachttischchen eine volle Packung Schlaftabletten. Ich weiß es deshalb, weil ich der Schwerkranken immer das Abendessen gebe und anschließend zum Einschlafen eine Tablette.

Meine Eltern sind bei Bekannten eingeladen. Nur meine beiden Geschwister sind im Haus. Ich gehe hinüber zur Nachbarin. Die schläft. Leise nehme ich die Tabletten aus dem Nachttisch und drücke sie in mich hinein, Stück um Stück, mit viel Wasser. Dann gehe ich nach Hause und lege mich aufs Sofa. Meine Geschwister laufen besorgt und hilflos hin und her. Sie fragen: „Hast du Schmerzen?“ Ich kann nicht antworten. Sie bringen mich ins Bett.

Ihre ängstlichen kleinen Gesichter sehe ich ganz nah. Ich bin so glücklich und fliege einfach dahin.


Im Krankenhaus betreuen mich Nonnen. Sie tragen hoheitsvoll die Flügelhauben und in den Gängen schleift die weiße Tracht über hellgrünes Glas. Immer hantieren sie lächelnd. Beim Abendgebet besprengen sie mich mit Weihwasser.

Nachts treibe ich mit einer alten Nonne Unfug. Es ist unser beider Spiel. Sie hat mir verboten, im Nachthemd über den Gang zu laufen. Um mich zu kontrollieren, hält sie das Schwesternzimmer einen Türspalt offen. Ich renne im Nachthemd den Gang entlang, die Schwester mit Gelächter hinter mir her. Wenn es ihr gelingt, mich einzufangen, packt sie mein Hemd am Saum und zieht es mir zur Strafe über den Po.


Am liebsten möchte ich noch eine Zeitlang bleiben. Wenn ich als gesund entlassen bin, würde ich keinen Grund mehr haben, zu klagen. Die Eltern würden weiter ihr tägliches Beispiel geben, wie das Leben zu meistern sei trotz aller Schwierigkeiten.

Wenn man denkt, es geht nicht mehr, kommt von irgendwo ein Lichtlein her“, sagt Mutter beim Krankenhausbesuch. Wolf habe angerufen und nach mir gefragt. Sie habe sehr energisch mit ihm gesprochen.

Nun fühle ich, dass etwas zu Ende geht.

Iss viel Obst, immer wieder eine kleine Portion“, sagt Mutter und schiebt mir besorgt eine Traube in den Mund.

Meine Periode ist wieder da. Mein ganzer Körper atmet durch.

Über Wolf will ich jetzt nicht nachdenken.

Ich bin Scarlett O`Hara, seitdem ich „Vom Winde verweht“ lese. Nur ist Wolf halb Rhett, halb Ashley, das macht es überhaupt so schwer. Scarlett hat in Rhett stets den Ashley gesucht und in Ashley den Rhett, als Ashley am Ende des Buches um ihre Liebe bittet.

Alles, was ich an Wolf liebe, ist verloren.

Morgen ist ein neuer Tag, morgen will ich drüber nachdenken.“

So sehe ich mich abends einsam auf dem Hügel stehen. Ich bin Scarlett und mein Haar flattert im Wind.


Sonntag. Nach dem Mittagessen mache ich mit Mutter den Abwasch.

Es ist die Zeit, die Mutter und mir gehört, wo Mutter sich nicht verschwenden muss an die Kunden, die Zeit, wo Vater die Buchführung macht und ständig vor sich hinseufzt.

Ich erzähle Mutter aus „Onkel Tom`s Hütte“, vom Leben der schwarzen Sklaven, wie machtlos sie waren gegenüber ihren Herren.

Mutter wiederholt, was sie schon zu Vater gesagt hat: mit mir könne man richtig philosophieren. Sie ahnt nicht, dass ich diesmal ein festes Ziel im Auge habe.

Denk an meine Firma. Wenn ich durch die Fabrikhallen gehe, dann sehe ich Frauen, Männer, junge, alte, aber nichts als Sklaven“, sage ich. „Sie schuften von morgens bis abends im Staub der Maschinen und haben nicht mal Ohrenstöpsel gegen den Lärm. Der schlägt dich nieder und ich kann ihn nur ertragen, wenn ich im Galopp durch die Hallen renne. Und in der Färberei stinkt es nach Chemie, dass einem die Luft wegbleibt.“

Mutter meint, „dann kannst du ja froh sein, dass du es viel schöner hast in deinem Büro“.

Das ist es ja, auch meine Arbeit ist Sklavenarbeit und weißt du warum? Nicht das Mindeste hat sie für mich zu tun mit Lust und Freude, ich funktioniere mechanisch, den Takt bestimmt die Bahnhofsuhr. Sie hängt in jedem Raum wie ein Sklavenaufseher und sieht zu, wie man dahinvegetiert. Warum verwehrt ihr mir, ein Ziel zu haben?

Du könntest doch ein Ziel haben, nämlich die Lebensstellung bei der Firma, dein Chef hat dich gelobt“, sagt Mutter.

Dass ich eigentlich studieren möchte, wage ich nicht mehr zu sagen, das Thema scheint in den Bereich der Obszönitäten verwiesen.


Ich versuche, Mutter auf Umwegen auf meine Seite zu bringen.

Was hältst du davon, wenn ich Hauswirtschaftslehrerin lernen möchte?“ Dabei ist mir sonnenklar: diesen Beruf würde ich über die Maßen hassen. Doch wenn die Eltern zustimmen, wäre es der wohl einzige Weg, von der Firma wegzukommen.

Jedoch für Vater gibt es einen anderen Weg.

Vaters Freund erzählt von seinem „Wurstneffen“. Der soll eine Wurstfabrik haben mit Patent auf eine Art Saitenwürstchen, inzwischen schon berühmt in ganz Deutschland. Die Firma samt Hotel und Metzgereiladen laufe gut in unserer Wirtschaftswunderzeit. Der Junior, der Fritz, habe Gymnasium und Hotelfachschule hinter sich und volontiere jetzt in der Metzgerei. Da sei noch eine junge Angestellte im Haus, mache sich unentbehrlich als „Mädchen für alles“, die sähe sich gern als die Juniorchefin. Er fürchte, sie könne Fritz eines Tages doch noch rumkriegen. Er sei gern bereit, mich als Haustochter dahin zu vermitteln, zumindest für eine Zeitlang. Was könne für eine Frau besser sein, als an einem solchen Platz die Praxis kennen zu lernen. Studieren – das könne ich immer noch. Und das würde ich allemal noch schaffen. Wenn ich volljährig sei, könne ich ja selbst entscheiden. Meine Eltern sind sehr angetan.

Für mich zählt nur noch, von der Firma wegzukommen.

Aber es wird ein Abschied sein, ein schwerer und vielleicht für immer. Weil man ihn nicht teilen kann in einen nur teilweisen und in einen endgültigen.

Abschied ist, wenn man über das, was einem eben in den Sinn gekommen ist, nicht mehr an Ort und Stelle miteinander reden kann und es vergessen haben wird, bis man einander wiedersieht.


Abschied ist, wenn der kleine Bruder sich weinend hinter einer Tür versteckt,

wenn die kleine Schwester mir nicht mehr schwesterlich zur Seite ist mit ihrem Lachen und nicht mehr ungelenk in meine Ballerinas schlüpft,

wenn der Großvater einsam durch den Garten geht,

wenn Großmutter im Kämmerchen für mich die Zwetschgenmarmelade bereitstellt

und beide, in der Küche sitzend, auf mich warten.

Abschied ist, wenn die Eltern sagen, ich ginge nun in die Fremde.




In jenem Garten


in jenem Garten

an alten Ziegelmauern

gehe ich

durch verwelkte Zeit

finde ich

kleine Skulpturen

Bruder und Schwester

mit Augen aus Stein

sie halten

für mich

die Totenwache


Das Hotel hat grüne Fensterläden und mehrere Stockwerke. Im linken Gebäudeteil ist der Metzgerladen. Dort arbeitet die Chefin mit einem Tross Verkäuferinnen, alle in weißen Kitteln.

Im Gang riecht es nach Bier und Rauch aus der Gaststube, nach Wurst aus dem Laden und nach Essen aus der Hotelküche.

Die Chefin kommt auf mich zu mit nach oben gereckter Nase. Ihre Pfennigabsätze klopfen zornig auf die Bodenfliesen. Sie habe sich von der Kellnerin emporgeschafft, sagten zu Hause meine Eltern, und jetzt seien die halt durch ihr Saitenwurst-Patent reich geworden.

Ich grüße artig, wie ich es den Eltern versprochen habe. „Mach uns ja keine Schande!“, sagte mein Vater am Bahnhof beim Abschied.

Die Chefin zeigt mir das Haus. Im rechten Gebäudeteil zieht sich die große Gaststube hin mit dem sich anschließenden düsteren Nebenzimmer. Hinter dem Büfett geht eine Durchreiche in

die Hotelküche. „Hier arbeitest du in der Mittagszeit, da geht es drunter und drüber“, sagt die Chefin, „meine Bedienung schafft das nicht allein.“

Frau Minz kommt mit einem Stapel Geschirr flink auf uns zugetänzelt, blond und pummelig, eng sitzendes schwarzes Kleid und weißes Rüschenschürzchen.

Ich kann dich gut am Tresen gebrauchen“, sagt sie zu mir mit sächsischem Akzent und zwinkert mit den Augen. „Momentan arbeite ich für zwei.“ Sie hetzt mit ihren Bons an die Durchreiche, übernimmt das dampfende Essen, stellt es auf den Tresen und legt eine Schallplatte auf: „Wheels“.

Vom Gang aus geht die Chefin mit mir durch Büro und Hinterhof zur Wurstfabrik. Hier im Büro wirst du vormittags und nachmittags arbeiten. Um sieben ist Frühstück.

Weil du Haustochter bist, kannst du bei uns am Familientisch essen. Unser Esszimmer ist gleich neben dem Metzgerstübchen. Zu Abend isst du allein. In der Küche gibt es immer eine Schüssel voller Wurstreste aus dem Laden. Das Brot dazu wirst du auch finden.“

Hinter der Wurstfabrik liegt ein weiterer Hof. Durchs Fenster höre ich die Schweine quieken. „Da schlachten wir“, sagt die Chefin und zeigt theatralisch hinaus.

Nun geht sie vor mir die schmalen Holztreppen hinauf. Die Stufen sind abgetreten und es riecht nach Bohnerwachs. Ich schleppe meinen schweren Koffer hinter ihr her bis ins Dachgeschoss.

In meinem Zimmer gibt es ein kleines Fensterchen, von dem aus ich auf den Dorfplatz hinuntersehe, und an der rechten Wand eine hohe Großeltern-Bettlade aus dunklem Holz. Das Federbett ist prall und schwer und hat einen Bezug aus lila-weißem Bauernkaro. An der linken Wand steht ein schmaler Kleiderschrank. Irgendwann wurde er mit hellgrüner Farbe überpinselt, die jetzt abblättert und stellenweise hellbraunes Holz freigibt.. Neben der Tür ist die Waschschüssel mit Krug aus weißem Emaille auf einem hellgrün gestrichenen Hocker.

Hier könne ich mich waschen, sagt die Chefin. Der Kaltwasserhahn mit weißem Emaille-Becken ist draußen auf dem kleinen Treppenabsatz.

Und hier wohnt die Frau Thea, unsere Salaterin, die wäscht sich auch an diesem Becken. Ihr müsst euch eben einigen“, sagt die Chefin und zeigt auf die danebenliegende Tür.

Und da ist gleich die Bühne“. Die Tür öffnet sich knarrend. Über dem großflächigen Bretterboden hängen unzählige Wäschestücke zum Trocknen.. Durch ein kleines Fenster und die Ritzen der Dachplatten dringt ein wenig Licht ins Bühnendunkel.


Am Frühstückstisch sitze ich mit der Chefin, dem Chef, mit Fritz und Gertrud.

Sie reden übers Geschäft, die Chefin über Kundinnen, die schon längere Zeit nicht mehr in den Laden gekommen seien, der Chef über die neuesten Nachrichten in der Zeitung und im Radio. „Kann man`s denn gleich zum Nitrit-Skandal aufbauschen, wenn da und dort ein bisschen zuviel ins Fleisch gekommen ist? Kein Mensch ist noch dran gestorben! Ja sollen denn die Metzger am Bettelstab gehen?“

Die Chefin kaut und murmelt zustimmend. Fritz schweigt artig und Gertrud, selbst am Tisch in untertänig gebeugter Haltung, nickt heftig.

Auch habe er dem Koch ein letztes Mal gesagt, schimpft der Chef, die Suppe müsse so dampfend heiß vor den Gast, dass der sich den Mund verbrenne.

Ich sage nichts, da niemand mich etwas fragt, und fühle mich nur vorhanden, wenn Gertruds Augen kontrollierend zwischen mir und Fritz hin- und herwandern. Mit ihrem Hundeblick sagt sie zur Chefin hin, sie habe nun die Putzfrauen anders eingeteilt. Frau Schuck habe den Gang unter aller Sau geputzt. Das könne in Zukunft doch die Frau Lindemann machen. Frau Schuck könne man ja in der Wurstküche lassen und ihr den Hof dazugeben.


Ich habe beschlossen, ab heute in der Hotelküche mit den Putzfrauen und Verkäuferinnen zu frühstücken. Eine gewisse Trotzigkeit in mir gibt mir den Rat, mich mit keinem Wort vom Familientisch abzumelden.

Beim Putzfrauen- und Verkäuferinnen-Frühstück bekommen wir nur Schwarzbrot mit Marmelade ohne Butter oder Sanella. Dazu gibt es Lindes-Kaffee. Wurst, sagt Frau Schuck, könne ich immer vormittags zum Vesper und auch abends essen. Sie geht mit mir an den Kühlschrank und zeigt mir eine große Schüssel voller Wurstreste und Anschnittstücke.


Du hast die Karten schlampig einsortiert!“ Gertrud beugt sich über den fahrbaren Wagen der Taylorix-Durchschreibebuchführung. „Und wie heißt der Buchungssatz? Kasse an was? Das hast du wohl vergessen?“ Ich räume den Fehler ein, habe aber einen Verdacht. Abends sehe ich durch die Büro-Fensterscheibe Gertrud am Taylorix-Wagen hantieren. Ich werde meinen Verdacht nicht aussprechen. Als ich leise die Tür aufmache, zuckt Gertrud erschreckt zusammen, wird puterrot im Gesicht und fährt mich an: „Was suchst du hier noch so spät? Wenn du den Fritz suchst, der ist nicht mehr in der Wurstküche.“


Nun wird mir klar, dass Gertrud mich bei der Chefin denunziert.

Im Büro, gleich neben meinem Schreibtisch, ist das Lager der Jagdhunde. Meist nachmittags nimmt sie der Chef mit auf die Jagd. Immer, wenn die Hunde das Lager verlassen, schleppen sie ein paar Heubüschel durchs Büro, die ich daraufhin zusammenzukehren habe.

Mein Telefongespräch mit einem Lieferanten hat das nun verzögert. Die Chefin stöckelt zur Tür herein, die Nase nach oben gerichtet. Sie entdeckt die auf dem Boden verstreuten Halme, scheucht die Hunde vom Lager, greift mit beiden Händen ins Heu, verstreut es über den Boden bis hinein in alle Winkel des Büros und schreit auf mich ein: „Das als Denkzettel! Nun weißt du in Zukunft, was du zu tun hast! Hier rumsitzen, wenn andere arbeiten – so geht das nicht!“


Büroschluss ist, wenn die angefangene Arbeit getan ist. Anschließend, wenn ich Hunger habe, gehe ich in die Hotelküche zur Schüssel mit den Wurstzipfeln, setze mich damit ins Metzgerstübchen. Hier ist es ruhig und beinahe dunkel, die Metzger haben längst Feierabend. Ich bin allein. Jedoch ist das Metzgerstübchen der Durchgang zum Esszimmer der Familie. Ich habe große Angst, die Chefin könnte mich hier ertappen.


Wenn ich mein Brot mit Wurst gegessen habe, gehe ich ins Lokal.

Da muss ich mit Frau Minz zusammenarbeiten.

Das Stimmengewirr der Gäste wird zum mich einhüllenden Murmeln. Doch aus der Küche kommen die Kommandorufe wie Peitschenhiebe, wenn Frau Theas strenges Gesicht an der Durchreiche auftaucht und sie mir ein frisches Menü anvertraut. Das schiebe ich erst mal zur Seite. Denn Frau Minz hat mir den Plattenspieler anvertraut und wird nicht schimpfen, wenn ich mich zu allererst um die Musik kümmere.

Sie schwärmt für Heidi Brühl und eben hatte sie noch laufen: „Wir wollen niemals auseinandergeh`n“.

Es gibt hier keinen Elvis und keinen Bill Haley, kein „Just walkin` in the rain“, aber es gibt meinen Lieblingswalzer „An der schönen blauen Donau“ und viele Schlager. Ich lege den Banana-Boat-Song auf und danach „Ciao, Ciao, Bambina“.

Im Nebenzimmer sitzt Jenny rauchend an ihrem Stammplatz. Eigentlich heißt sie Helga, die „Jenny“ hat sie sich selbst zugelegt, weil sie Jenny viel toller finde, vertraut sie mir an.

Jenny arbeitet beim Zahnarzt nebenan als Sprechstundenhilfe.

Gestern Abend gab mir Frau Minz frei. Das hatte Gertrud beobachtet. Sie schleppte zwei Fahrräder mit Gießkannen an. „Du solltest mit mir zum Friedhof fahren, Gräber gießen.“

Daran anschließend rannte ich ins Nebenzimmer. Jenny saß noch rauchend an ihrem Stammplatz, heute im Sackkleid, allerneueste Mode. „Guck mal!“ sagte sie und zog den Ausschnitt ein wenig vom Körper. „Aber du bist ja nackt unter dem Kleid!“ Ich sagte es, als würde ich mich darüber freuen, weil ich außer Jenny hier keine Freundin habe und Angst habe, sie zu verlieren.

Ja eben“, sagte Jenny, „gleich kommen die Franzosen von der Garnison, du kannst hier nicht sitzen bleiben. Ich gehe mit denen eh woanders hin.“

Frau Minz winkt mich beiseite: „Die hat`s mit den Franzosen, Zustände wie bei der Nitribitt! Nur kann man ihr nichts nachweisen. Du musst dich jedenfalls von ihr fern halten, Anweisung von der Chefin und vom Chef!“

Ich erzähle Frau Minz nicht, dass ich Jenny zweihundert Mark geliehen habe.


Sonntag. Am Wochenende hat Jenny ohnehin keine Zeit. Chefin und Chef sind frühmorgens mit Gertrud und Fritz weggefahren. Sie haben einen neuen Mercedes. Das Lokal ist geschlossen, das Haus ist gespenstisch leer und das Dorf liegt im Sonntagnachmittags-Schlaf. Ich ziehe mein Sonntags-Jackenkleid an und wandere durchs Dorf. Dabei sehe ich nur Herrn Abele. Er ist im Sonntagsanzug und grüßt freundlich. Bei ihm kaufe ich sehr oft ein paar Gläser Yoghurt, weil es heißt, das Yoghurt mache schlank, es sei im Grund gestandene Milch. Die macht Großmutter immer noch selbst.

Ich vermisse den Wald. So streune ich wieder durch die staubige Kiesgrubenlandschaft.

Überall werden Häuser und Straßen gebaut.

Ich richte es so ein, dass ich zum Hotel komme, bevor die Familie eintrifft. Wenigstens am Sonntag will ich sie nicht sehen. In meinem Zimmer wartet ein Stapel Bücher. Den Rest des Sonntags werde ich mit Lesen feiern und auch mit ein paar Gläsern Yoghurt, damit ich nicht dicker werde. Während der Woche habe ich tagsüber und auch am Abend keine Zeit für Bücher. So lese ich auch mal die ganze Nacht hindurch, wenn das Buch spannend ist. In der Dorfbücherei habe ich einen neuen Nietzsche entdeckt, „Die fröhliche Wissenschaft“. Ich habe ihn mitgenommen zusammen mit Klaus Mehnert, „Der Sowjetmensch“, und noch einem Angelique-Band dazu. Angelique hat ein gefährliches und schweres Leben unter dem Volk der Bettler von Paris, aber sie ist mutig. Ihr Ziel ist der Hof von Versailles. Wird sie es schaffen?


Gestern Abend ist die Neue eingetroffen. Anneliese, die Büglerin. Sie kommt aus Niederbayern. Letzte Nacht hat sie in einem Hotelzimmer geschlafen. Nun sitzt sie mit am Putzfrauen- und Verkäuferinnen-Frühstückstisch. „Weißt du übrigens, dass ich zu dir ins Zimmer komme?“ fragt sie mich, „ich bin fei schon am Einziehen.“

In der Mittagspause helfe ich Anneliese beim Auspacken. Zwischen den beiden Betten ist der Gang so schmal, dass wir uns gegenseitig anrempeln. Das finden wir lustig.

Die Waschschüssel soll Anneliese mit mir teilen.

Ihr Arbeitsplatz ist die Bühne nebenan. Hier besuche ich sie heimlich, wenn Gertrud die Lieferwagen kontrolliert und im Laden so viele Leute sind, dass die Chefin keine Zeit für ihre eigenen Kontrollgänge hat.

Anneliese bügelt bei elektrischem Licht, obwohl draußen die Sonne scheint.

Wenn das die Madame wüsste!“ seufzt sie. Die „Madame“ war ihre einstige Chefin, eine Ungarin. „Wenn überraschend Besuch zu uns gekommen ist, hat die Madame gesagt: Anneliese, du brauchst nur ins Auge putzen, mehr machst du nicht.“

Sie wischt mit dem feuchten Bügeltuch ein paar Tränen ab.

Hier bleib ich nicht. Sowie ich meinen Monatslohn habe, haue ich ab.“

Angelique ist aus dem Buch gestiegen.

Wenn Anneliese zornig mit den Händen fuchtelt, fallen ihr schwarze Haarsträhnen übers Gesicht. Und hinter diesen Strähnen blinken gefährlich grüne Augen.

Anneliese macht mir Mut.

Vor dem Einschlafen schmieden wir Fluchtpläne.

Geh` doch mit!“ sagt sie zu mir. „Ich darf nicht, ich bin noch nicht volljährig“, sage ich in fröhlich singendem Ton, weil ich mich für meine Traurigkeit schäme. Denn wieder werde ich eine Freundin verlieren. Als ich mit Margot am Zug stand, wussten wir beide, wir würden nun getrennte Wege gehen. Die langen Jahre auf den Feldern bei der Ernte, am Waldrand beim Kühehüten – sie waren unsere Freizeit und sie waren schön und schienen nie zu Ende zu gehen. Nun waren sie schon Erinnerung.

Aber wir sagten einander nur: „Schreib` bald!“


Es ist drei Uhr morgens. Annelieses Zug fährt um vier Uhr. Wir packen hastig, aber mäuschenstill, damit Frau Thea nicht aufwacht. Die schweren Koffer ziehen uns beinahe zu Boden, einmal stolpern wir auf der Treppe.Vor dem Hotel ist dicker Nebel.

Anneliese winkt mit ihrem Halstuch lange aus dem abdampfenden Zug, bis wir einander aus den Augen verloren haben.


Du sollst gleich zum Chef kommen!“ So begrüßt mich Gertrud, als ich unausgeschlafen die Treppe herunterkomme.

Da habt ihr beide ganze Arbeit geleistet. Ich hab´ euch gesehen, wie ihr zusammen zum Bahnhof marschiert seid .“ Der Chef sagt es gelassen mit dem immer gleichen, gebieterisch-herrischen Gesichtsausdruck, der nicht wirklich böse sein kann.

Ich möchte heute kündigen“, sage ich, weil mir für eine Entschuldigung nichts einfällt.

Ja, du kannst aufhören. Eine Kündigungsfrist brauchst du nicht einzuhalten“, sagt der Chef fast väterlich. Ich sage „danke".


Lila, hast du auch ein warmes Beinkleid an?“ Schwester Elsa, die Oberin, verabschiedet Lydia, die Chemielehrerin, am Haupteingang. Schwester Lydia ist im Sonntags-Schwarz mit leuchtend weißem Diakonissenhäubchen. Sie fährt fürs Wochenende ins Mutterhaus nach Neuendettelsau.

Ich stehe mit Loll, Mike und Uscha hinterm Vorhang am Fenster. Wir atmen auf und kichern.. Wenigstens zwei Tage lang wird Lydia nicht durch die Zimmer gehen auf ihrer Suche nach Staub, wird nicht mit ihrem langen, weißen Zeigefinger über Bettgestelle und Regale streichen, wird nicht die Symmetrie der Kissen und Leintücher kontrollieren und uns beiseite winken, wenn wir unflätig aus dem Speisesaal drängeln. „Du komm mal her! Ja du! Ich werd´ dir zeigen, wie ein Mädel geht – akkurat und anständig!“ Dabei benutzt sie ihren langen, weißen Zeigefinger, ihre Augen glitzern amüsiert, ihre schmalen Lippen verzerren sich boshaft. Wie Jagdtrophäen übergibt sie die erbeuteten Mädchen an Elsa, die Schwester Oberin. Lydia ist Elsas Freundin.

Weißt du noch, Lila, wie streng wir es bei den Englischen Fräuleins hatten?“, fragt Elsa Lydia in unserer Anwesenheit. „Da wissen unsere Mädels nicht, wie gut sie es hier haben, nicht?“


Ich hatte viele Tage geweint, bis Vater einverstanden war.

Wenn du es bezahlst, kannst du eine Zeitlang dort was lernen. Hauswirtschaft ist ja nichts Verkehrtes.“ Ich rechnete nach, wie lange mir das Geld reichen würde, das ich in der Firma verdient hatte. Mutter hatte immer wieder etwas davon abgezweigt für die Aussteuer. Und oft hat sie Sachen dazugetan, die ich nicht bezahlen musste. „Das ist was ganz Gutes“, sagte sie dann zu mir. Sie schaffte für mich ständig an, Bettzeug aus weißem Damast, weiße Damast-Tischdecken, Kochgeschirr und Schüsselsätze aus Chromargan, tat ständig auch zum Silberbesteck hinzu.

Als ich noch mit Wolf befreundet war, gingen Mutter und Vater zum Schreiner Mack und gaben für mich ein Schleiflackschlafzimmer in Auftrag: Zwei Bettladen mit fünftürigem Schrank, zwei Nachtschränkchen und eine Spiegelkommode.

Aussteuer finde ich doof.


Ich mache nicht bis zur Hauswirtschaftslehrerin“, sagt Waltraud. Ich möchte Jugendrichterin werden. Waltraud nennt mich ihr Botschamberl. Sie kommt aus Nürnberg. „Ich durfte mal dem Hitler die Hand geben. Aber natürlich kannst du dir das nicht vorstellen“, sagt Waltraud leise zu mir, während Schwester Rotraut an die Tafel den Grundriss der Neresheimer Kirche zeichnet. „…hab ihm ein Blumensträußchen überreicht im weißen Tüllkleid mit Kränzchen auf dem Kopf. Ich war ganz fertig – so hat der mich angesehen!“

Wenn in der Nähstunde bei Frau Riemann, der einzigen Weltlichen, das Nähzeug zu Ende gegangen ist und neu gekauft werden muss, melde ich mich. Ich muss Frau Frank, Oberin Elsas Sekretärin, meinen Erlaubniszettel vorzeigen, dann gehe ich in der Sonne den Weg durchs Blumengärtchen und schließlich durch den Torbogen der hohen Mauer, die uns gefangen hält.

Dann galoppiere ich über den hölzernen Boden des Wehrgangs rund um die Stadt, halte mein Gesicht in die Sommerluft und streune zwischen alten Brunnen und Fachwerkhäusern umher.

Im Kurzwarenladen drängeln sich die Kunden. So setze ich mich vor die gegenüberliegende Milchbar und esse Schokoladeneis mit Sahne, bis der letzte Kunde den Laden verlassen hat.

Frau Riemann schimpft auf Kölsch, für heute brauche sie das Nähzeug nicht mehr. Und ein nächstes Mal dürfe ich nicht mehr nach draußen.


Alle Post geht durch Schwester Elsas Hände. Nach dem Mittagessen ruft sie die Namen auf. Von Wolf ist eine Karte gekommen. „Viele Grüße aus Salerno! Auf dem Rückweg besuchen wir die Ewige Stadt. Lern fest, damit du eine tüchtige Hausfrau und Mutter wirst!“

Die Karte verstecke ich in meinem Schrank zwischen den Wäschestücken. Ich krame sie heimlich hervor, sobald Loll und Uscha nicht im Zimmer sind, und ich lese sie Buchstaben für Buchstaben, Wolfs Buchstaben in steiler Füllfederschrift. Wenn ich die Augen zukneife, wird daraus der Schattenriss einer Reihe gotischer Türme. Wolf liebt mich noch.


Schwester Frida ist die Wäschebeschließerin. Das immer beleidigt dreinschauende Vogelgesicht sitzt auf einem langen, dünnen Hals und hat nur eine Andeutung von Kinn. Deshalb schließt die Schleife des Schwesternhäubchens direkt unter dem Mund.

In der Schule geht das Gerücht, Schwester Frida werde schikaniert, aber man hört sie weder klagen noch schimpfen. Schwester Frida unterrichtet nicht, sie beaufsichtigt. Ihr Zimmer liegt am Ende der Schlafsäle.

Jeden Sonntagnachmittag führt sie uns in Paarreihen um die Stadt. Dabei geht sie am Anfang des Zuges und zeigt denen von den vorderen Reihen jede Blume am Wegesrand. Am allerliebsten mag sie die Gänseblümchen. Da macht sie schon mal Halt und riskiert damit, dass die Reihen wild durcheinandergeraten.

Ich gehe mit Mike ganz am Ende des Zuges.

Wir planen einen Streich, überlegen, was alles nicht geht, zum Beispiel nichts gegen Frida oder nichts, was schon mal da war oder weil es schief gelaufen war wie der nächtliche Besuch der Knabenkapelle. Die Jungen waren damals am späten Abend über die Mauer in unsere Zimmer gestiegen. Die liegen in einem vom Hauptgebäude getrennten Haus, das man die Villa nennt..

Wir deckten den Fußboden mit dem ganzen Rest an Säften, Süßigkeiten und aus der Schulküche geraubten Auflaufbrocken und Kuchen. Als alles aufgegessen war, einigten wir uns auf den nächsten Besuch nach der Musikprobe.

Dann verschwanden sie wieder über die Leiter.

Nach dem Frühstück klingelte damals Schwester Elsa mit der Tischglocke: „Heraustreten! Und wer gemeint ist, das wissen die, die es vorziehen, zur Nachtzeit mit Jungens zusammen zu sein.“


Die Knabenkapelle geht nicht mehr. Es war eh nur einer dabei, der mir gefallen hat“, sagt Mike und meint dabei denselben wie ich. Beide würden wir ihn gern wiedersehen. Die Karte von Wolf lese ich nicht mehr jeden Tag.

Wir könnten mal nachts ins Hauptgebäude schleichen und wenn alle schlafen, zu ihnen in die Betten steigen und hineinpupsen.“ „Das geht doch nicht auf Kommando“, sage ich, „und wenn es nicht funktioniert, dann ist es kein richtiger Spaß.“

Man kann sie auch noch zwicken und grunzen, als wäre es ein Pups“, sagt Mike. Schließlich einigen wir uns. Lediglich Dorle und Loll wollen mitmachen, die anderen reden sich feige heraus, es sei kein echter Streich.

Uscha schläft nicht in der Villa, sondern im Hauptgebäude. Wir trauen ihr nicht und ausgerechnet bei ihr fangen wir an, weil wir sie im Dunkeln nicht erkennen können. Sie schreit wie am Spieß und weckt, noch ehe der Spaß beginnen kann, den ganzen Saal auf. Schwester Frida kommt herbeigerannt und führt uns mit beleidigtem Gesicht zurück in die Villa. Unseren misslungenen Streich hat – das haben wir später erfahren – nicht Schwester Frida, sondern Ulla gemeldet.


Elsa klingelt mit der Tischglocke: „Da ist ja wieder einiges gewesen in der vergangenen Nacht, nicht?“ Sie zittert mit dem Kopf in unsere Richtung. Bei diesem Zittern geht es stets um eine Anklage.

Sie ruft Mike, Loll, Dorle und mich auf und heißt uns aufs Podium zu gehen.

Da stellt ihr euch mal in einer Reihe auf und nicht hintereinander!“, sagt Elsa.

Etwas sehr Unsittliches hat sich heut` Nacht zugetragen, nicht? Ihr habt euch beinahe nackt zu den Mädels ins Bett gelegt.“

Nein, wir haben das Nachthemd angehabt!“ sagt Mike, „und wir sind nur bis zur Uscha gekommen.“

Wir wollten nur Spaß machen!“ sagt Dorle in viel zu bravem Ton.

Im Nachthemd ist man doch nicht angezogen, nicht? Oder wollt ihr das nun behaupten? Im Nachthemd schläft man im eigenen Bett und geht nicht sonstwo hin. Man mag sich nicht vorstellen, was ihr euch dabei gedacht habt.“ Elsa zittert nun heftiger mit dem Kopf und ihr Gesicht bekommt hellrote Flecken.

Hier geht es um einen sehr unsittlichen Vorfall an unserer Schule und ich muss mir überlegen, ob ich euch hier behalten kann“, sagt Elsa in ruhigem Ton, während sie hastig etwas in ihr Heft kritzelt.


Ich verharre in Schweigen, blicklos abwesend und doch konzentriert wie ein Vogel, der sich anschickt, seine Flügel auszubreiten.

Es lohnt sich nicht, mich zu verteidigen gegen die Mauer, die sich nun greifbar festigt zwischen mir und ihr. Wenn ich mich verteidigen würde, hätte ich schon verloren. Als Büßerin wäre ich wieder in den Schoß der Schule aufgenommen.

Leid tut mir Großvater. Er hat mir versprochen: „Wenn du kein Geld mehr hast, kann ich die Schule weiter bezahlen.“

Es gibt für dich keinen Grund, das Internat zu verlassen“, sagt Elsa.

Ich möchte etwas ganz anderes machen, Schwester Oberin“, sage ich artig.

In Kunstgeschichte nimmt Schwester Rotraut die Prüfung ab und gibt mir eine Eins, die ich nicht verdient habe.

Vielleicht kann sie mich nur gut leiden. Ich mag sie auch und bin ihr dankbar. Aber ich schäme mich, danke zu sagen.

Zwar – Aber


Bin ich sicher

dass ich

bei dir

umhergehen kann

ohne den Stempel

eines


Zwar – Aber


und ohne den Stempel

deiner Gnade

als eine die

dazugehört

 



Nichts


Warten worauf

und doch


ein Gefäß umschließt

das Nichts


Nichts geschieht

im Gefäß des Nichts


außer dem Hand in Hand

von Gefäß und Nichts






Sechzigerjahre


Ich frage Vater, ob ich nun Kunst studieren könne.

Tante Martha meint, ich solle mich bei der Kirche bewerben. Da wäre zum Beispiel die Evangelische Akademie.

Manch einer wäre froh an so einer Stelle“, sagt Mutter, schaut drein, als finde sie sich endlich mit einer Krankheit ab. Die Krankheit ist ihr Leiden am Abschied. Bald wird sie wieder „schreib bald“ zu mir sagen müssen.

Ich fühle mich gespalten in zwei Teile, die gleichermaßen voneinander wegstreben und zueinander hindrängen, als wären sie nur so ein Ganzes.


Das Schuldgefühl.

Der Wiederaufbau macht meine Eltern zu Arbeitssklaven.

Ich erkenne es, fühle es, trage es mit mir, dieses Gewicht schwerer, schmerzender Wurzeln.

Mutter – Vater. Ich möchte euch zur Hand sein.

Als ich klein war, habe ich dir, Mama, einen Tischkranz geflochten - aus hellblauen Vergissmeinnicht und dunkelblauen Stiefmütterchen. Dazu mit Erstklässlerschrift die Gedicht-Strophe abgeschrieben:

Liebe Mutter, glaube mir, wenn ich groß bin, helf ich dir, dann will ich dir alles tun und du, du sollst im Sessel ruhn.

Heimweh.

Ich möchte bei euch bleiben, kleine Schwester - kleiner Bruder, euch immer Geschichten erzählen.

Ich möchte bei euch sein, Großmutter – Großvater.

Euer Warten im Schweigen - an den Feierabenden in der kleinen Wohnküche beim Ticken der Wanduhr.

Euer Warten trage ich stets mit mir.

Doch ich schäme mich, euch dies zu sagen.


Das Gefühl, nicht bleiben zu können.

Hier wären die immergleichen Dorfsonntage, der Spaziergang der Eltern zum Wald und zurück. Und das Warten auf Wolf.

Den Sonntagsspaziergang verweigere ich seit langem. Die Eltern haben es hingenommen. Sie wussten, ich würde selbst bei schönem Wetter in der Stube sitzen und malen.

Doch ich male nicht mehr.

Es bliebe der Sonntagsspaziergang mit Margot zum Fußballplatz. Doch auch Margot möchte wegziehen.

Es bliebe der Kreis des Christlichen Vereins Junger Mädchen, wo man uns zwingt, Reigen zu tanzen.

Normale Tanzveranstaltungen gibt es nur manchmal, in Verbindung mit Hochzeiten. Da habe ich öfters mit Vater getanzt.


Ich muss mich auf den Weg machen.


Die Akademie hat hohen Besuch, diesmal nicht den Bundespräsidenten, den wir den „Papa Heuss“ nennen. Es ist die Gesandtschaft des Haile Selassie, Negus und Kaiser von Äthiopien. Der sei Christ, sagt Pfarrer Conrad, mein Chef.

Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie Tagungsdienst machen würden!“ Er schreitet lutherisch-beherzt auf meinen unbesetzten Schreibtisch zu. Ich fühle mich beim Haarewaschen ertappt, komme durch die Vorhänge mit nässetriefendem Haar, versuche vergeblich, darauf einen Berg von Frotteetuch zu balancieren, bemühe mich zu schweben mit einem Ausdruck von Folgsamkeit und Eleganz.

Pfarrer Conrad indessen ist noch dabei, sich zu bedanken. „Meinem Chaos haben Sie wahrlich den Garaus gemacht!“ Er wolle sich für dieses gute Werk erkenntlich zeigen und mich zum Familien-Mittagstisch einladen. Es gebe Reisauflauf.

Eine Belohnung habe ich mir längst geholt: Während der Aufräumarbeiten habe ich mir längere Pausen gegönnt und im Chefsessel Bultmann, von Rath, Martin Buber und Jochen Klepper gelesen.

Zu Hannelore sage ich bei Kaffee und Zigarette: „Ich bin zu einem pietistischen Reisauflauf eingeladen.“ „Steh` es einfach durch!“ sagt sie.


Im großen Sitzungssaal läuft die Diskussion mit den Äthiopiern. Es geht um Politik, deshalb warte ich draußen mit Dina, bis ich gebraucht werde. Politik interessiert mich nicht. Ich lese keine Zeitung, nur Bücher.

Dina kommt aus Indonesien, hat in Holland studiert, spricht auch Holländisch und Englisch, aber noch kein Deutsch. Irgendwie kommen wir zurecht. Dinas Hautfarbe ist von stumpfem, dunklem Gelbbraun, die Lippen sind blauschwarz. Die Handflächen der schmalen, unendlich biegsamen Hände sind rosafarben. Dinas Gesicht scheint nur aus Unterkiefer und zwei Reihen makelloser, starker Zähne zu bestehen. Den Lippen gelingt es kaum, sich über dieser Wucht von Zähnen zu schließen.

In Dinas Elternhaus leben viele Bedienstete. Eine Dienerin hat sie jeden Morgen angekleidet und gekämmt, auch als sie schon erwachsen war. Ich erzähle, dass ich als Kindergartenkind gelernt habe, meine Schuhe zu schnüren, erzähle von der Heu-, der Kartoffel- und der Rübenernte, vom Kühehüten, vom Geschirrspülen, Bodenwischen und vom Kuchenbacken. „Alle Kinder mussten bei uns arbeiten, also bei uns im Dorf“, sage ich zu Dina. „Du kannst Kuchen backen!?“ Dina kann es nicht fassen. „Bei uns arbeiten nur die Armen“, sagt Dina. „Aber sie haben zu essen, weil wir ihnen Arbeit geben. So sind sie sehr glücklich. Wir wollen gut sein auch mit den Armen. Sind wir nicht gut, so bestrafen uns die Toten. Die sitzen auf den Bäumen, aber wir können sie nicht sehen.“

Manchmal trägt Dina ihre Nationaltracht, schwere Seide in grellbunten Farben unter Gold- und Silberfäden, dazu Ketten und Armreife aus reinem Gold.

Dina schenkt mir einen Fächer aus Elfenbein mit Ornamenten aus kleinen Elefanten.

Er soll mir Glück bringen.

Wir sitzen auf der Terrasse bei der Rosenhecke und schlürfen unseren Kaffee.

Ich habe wieder keine Post bekommen von zu Hause. Es ist Krieg in Indonesien. Sie wollen Sukarno stürzen.“ Dina weint. „Vielleicht gibt es eine Revolution.“


Nun öffnet sich die Saaltür. Ich bin wieder im Dienst, halte mich bereit für Fragen der Gäste.

Pfarrer Conrad schießt winkend an mir vorbei. Fräulein von Zitzewitz und Frau von Schaeven stöckeln mit beiden Gesandten vorüber, sind ins Gespräch vertieft. Am angewinkelten Arm lassen sie sorgsam die Tagungshandtasche baumeln.

Offiziersgattinnen. Die von Schaeven arbeitet für den General a.D. im Parterre gleich neben der Empfangshalle. Dort planen sie ihre Bundeswehrtagungen. Angewidert drehe ich meinen

Kopf zur Seite, wenn ich an diesem Kriegsbüro vorbeikomme. Mein Jahrgang war der erste, aus dem sie schon wieder Soldaten herausgeholt haben. So musste auch Manfred, mein Sandkasten-Spielkamerad, zur Bundeswehr einrücken. Vater nennt es „einrücken“. Als Manfreds Mutter weinte, sagte Vater, die hätten aus zwei Weltkriegen immer noch nichts gelernt.

Die Gräfin D. mag ich sehr. Sie ist meine Büronachbarin, arbeitet in der Buchhaltung und macht viel Unsinn mit Hannelore und mir. „Wenn Ihr nicht endlich die Gräfin weglässt, dann bin ich böse mit Euch!“, sagt sie und haut uns kräftig auf den Po.

Die von Zitzewitz und die von Schaeven beachten mich nicht, nehmen niemals Blickkontakt mit mir auf.


Im Vorbeigehen dreht sich der eine der Äthiopier blitzartig nach mir um. Er ist tief dunkelbraun, seine Gesichtszüge sind aristokratisch gebieterisch.

Da geht der schönste aller schwarzen Pharaonen – da geht der schönste aller Prinzen aus dem Königreich der Nubier.

Warum hat er sich nach mir umgeschaut?


Das war nicht der Blick der Vikare, stets eifrig bemüht um Geschlechtsneutralität.

Die Theologiestudentin, vielleicht auch die Gemeindehelferin als die spätere Pfarrersfrau, scheint eingeplant in ihren Lebensentwurf, so unumstößlich wie das Examen.

Natürlich gibt es unter diesen Theologen Ausnahmen. Ich kenne Axel, den Film- und Fernsehkritiker. Er schreibt für die Kirchenpresse.

Ich sag`s nur dir: Überallrum in den Cafés hab ich Schulden. Schreiben kann ich halt nur in Cafés“, sagte er mir eines Abends im Akademie-Fernsehraum nach

Richard Kimble in der Serie „Auf der Flucht“. „Du solltest auch deine Filme woanders abarbeiten, dann müsstest du hier nicht immer auf Berlinerisch dazwischenquatschen“, sagte ich zu ihm, wissend, dass Axel nur Menschen mit brutaler Offenheit liebt.

Daraufhin fuhr ich um Mitternacht mit ihm sowie Rudolf, dem Redakteur der Kirchenpresse, mit Udo, dem Akademiechauffeur, und mit Erika aus der Teeküche in die Luna-Bar. Zum ersten Mal sah ich einen Striptease.

Det is ja Vorstadt vom Ordinärsten!“, meckerte Axel und grinste fröhlich in sein Whisky-Glas.


Warum hat er sich nach mir umgeschaut, mein schwarzer Prinz aus dem versunkenen Königreich der Nubier?

Ich sehe nach unter der Rezeptionstheke, in welchem Gebäudeteil sein Zimmer liegt. Es ist die zehnte Tür nach dem Eingang zur Hauskapelle. Nur – was nützt mich, zu wissen, wo sein Zimmer liegt?

Mein Dienst ist zu Ende. Dina hängt sich an mich, wird immer mehr zur Klette. Erika wundert sich, dass ich nicht beim Abtrocknen der Gläser helfe. Ich müsse gleich noch in mein Büro, sage ich. „Soll ich mitkommen?“, fragt Dina weinerlich. „Nein! Pfarrer Conrad kommt gleich!“, schreie ich sie an.


Ich gehe ins Büro, schminke mich am Waschbeckenspiegel hinter dem Vorhang.

Draußen im Vorraum wieder mal Klimpern und ausgerechnet jetzt!

Sollte Pfarrer Conrad hereingestürmt kommen – ich könnte seine Schritte nicht hören wegen dem Blödmann am Flügel.

Die äthiopischen Gäste sitzen im großen Speisesaal beim Abendessen. Ich hole mir einen Happen bei der Köchin und gehe damit ins Nebenzimmer. Dort kann ich es hören, wenn im Saal Aufbruchstimmung ist.

Schon verabschieden sich ein paar Leute.

Ich habe eines der roten Gesangbücher bei mir, die in der Akademie-Kapelle aufliegen. Sollte mir Conrad begegnen und mich auf das Gesangbuch hin ansprechen, werde ich sagen, dieses Gesangbuch hätte ich versehentlich mitgenommen und wolle es nun zurücktun. Niemand begegnet mir, die Tür zur Kapelle steht offen. Hier müsste e r vorbeikommen. Ich müsste also vor der Kapelle rechtzeitig in die entgegengesetzte Richtung gehen, um ihm wie zufällig zu begegnen.

So lege ich mein rotes Gesangbuch auf eine Bank und verstecke mich hinter dem Altar.

Einmal höre ich den Schritt der Wirtschafterin. Sie wäre die Person, die hinter den Altar schauen könnte. Sie hätte eine gewisse Ahnung, weil sie mich nicht leiden kann.

Ich sitze in der Hocke. Nach einer halben Stunde schmerzen die Knie. Dann lege ich mich auf den Bauch neben dem Altar, aber so, dass ich jederzeit den Kopf hinter den Altar zurückziehen kann.


Nun höre ich einen ruhigen, gleichmäßigen Schritt, keinen Akademiepfarrer-Schritt, der ist schnell, nimmt bis zu drei Stufen. Keinen Frauenschritt.

Ich gehe hinaus, er kommt auf mich zu und sagt: „Guten Abend, sind Sie hier beschäftigt? Ich habe Sie heute schon gesehen. Sie haben blaue Augen, eine weiße Haut und schwarzes Haar.

Haben Sie Lust, noch ein bisschen mit mir im Park spazieren zu gehen? Es ist noch zu warm, um zu schlafen. Ich heiße Abebe Wolde Mikael. Der Vorname ist Mikael. Ich bin der Gesandte von Haile Selassie.“

Wir gehen durch die Dunkelheit. Mikaels Hautfarbe verwandelt sich in reines Schwarz. Seine Augen leuchten weiß. Von den Wiesen her duftet es nach Heu und im Park duftet der Jasmin. Es ist Sommer.

Mikael fragt, ob ich ihn einmal in Tübingen besuchen komme. Er habe ein Zimmer in der Neckargasse. „Was machst Du nächstes Wochenende?“

Er fragt, ob er meine Eltern kennenlernen dürfe, zwei Wochen nur sei er noch in Deutschland. „Ich habe viel Zeit. Die Universiät ist nicht so wichtig.“ Mikael spricht gut Deutsch.

Warum willst du meine Eltern kennenlernen?“ frage ich ihn. „Ich möchte Dich heiraten.

Ich bin Christ und werde nur eine einzige Ehefrau haben. Du bekommst Dienerinnen und Diener. Du wirst es gut haben. Und ich liebe Dich.“

Er verabschiedet sich mit einem Kuss auf meine Stirn. „Ich besuche Dich nächstes Wochenende“, sage ich zu ihm.


Vom schmalen Weg an der Neckarpartie gehen Stufen zur Kneipe von Tante Emilie.

Die Kneipe gleicht einer Wohnküche.

Studenten sitzen rauchend vor überquellenden Aschenbechern, diskutieren.

Am Nebentisch sagt einer immer wieder das Wort „systemimmanent“.

Es geht wohl um Politik.

Mikael flirtet artig mit Tante Emilie. Die lässt sich nicht beirren in ihrer robusten Freundlichkeit, entschuldigt sich, sie müsse weitermachen und „ihre Buben“ bedienen.


Auf Mikaels Nachttischchen liegen zwei Bände von Hegel. „Ich verehre Hegel, weißt Du…

seine Philosophie vom Staat und so“, sagt Mikael, als ich mir die Bücher ansehe.

Du wirst ihn einmal lesen und ihn gut finden. Aber heute lesen wir nicht Hegel.“

Er nimmt mich in die Arme, küsst mich auf den Mund.

Ich fühle nichts. Er ist nicht mehr der nubische Prinz, der schwarze Pharao. Er ist ein junger Mann in Rollkragenpulli und Popelinehosen, der Hegel liest. Verlegen steht er neben dem zerwühlten Bett.

Mikaels Verwandlung beschäftigt mich. Ich möchte mich verabschieden.

Wir verloben uns heute“, sagt Mikael. Behutsam legt er mich aufs Bett. Sein Blick ist nun über mir. Dann schiebt sich wie eine Trennscheibe Vaters Gesicht zwischen unsere Blicke. Vater sieht strafend auf mich herunter.


Wann darf ich mit Deinen Eltern reden?“ fragt Mikael, als wir uns anziehen. „Ich sag es Dir später“, antworte ich ihm und weiß, ich werde ihn nicht wiedersehen.

Mikael gibt mir eine Visitenkarte mit seiner Adresse. Auch eine Telefon-Nummer steht dabei. „Da wirst Du mich immer erreichen. Ich warte auf Dich.“


Ich wohne im „Heim der Freundinnen junger Mädchen“.

In München findest du kaum ne Wohnung“, sagt das Mädchen im Stockbett über mir. „Ich such schon wochenlang. Und lass dich hier nicht beim Rauchen erwischen!“ Sie klettert herunter, in einer Hand die brennende Zigarette, mit der anderen greift sie unter mein Bett und schiebt den Kleiderhaufen beiseite, um für meine Koffer Platz zu schaffen.

Ohne Frühstück gehe ich meinen Weg zum Stachus, vorbei an kleinen Milchgeschäften und Bäckereien. Es riecht nach Morgen und frischen Semmeln. geben. Auf dem Trottoir gehen junge Männer mit schulterlangem Haar, einige in Holzsandalen, andere barfüßig, fast alle mit Einkaufsnetz. Ich bin in Schwabing.

Nach einer Weile Fußmarsch stehe ich am Stachus, erlebe seinen Mythos. Oft habe ich davon gehört. Es ist der Mythos von Motorenlärm und wildem Hupen, von Autofahrern, die sich nicht an Regeln halten, von Verkehrsschutzmännern, die über all das hinwegsehen.

In diesem Riesen-Chaos bin ich eine Ameise und zugleich auch eine Münchnerin.

Ich muss lernen, dass beides zusammengehört.

Nun zeigt der Verkehrsschutzmann über den Platz und geleitet mich so in die Arco-Straße.


Meine Süße“, sagt mein Chef, der Rechtsanwalt, „Sie werden lernen müssen, für die einzelnen Vorgänge die richtigen Formulare und die dazugehörigen Durchschläge zu verwenden. Ich mache Ehescheidungen, Verkehrsunfälle, ab sechs Uhr abends ist Besuchszeit. Um sieben bin ich vom Gericht zurück. Bis dahin müssen Sie die Post zur Unterschrift fertig haben. Sie sorgen auch dafür, dass immer Kaffee und Kekse vorrätig sind für die Mandanten. Den Kaffee kochen Sie in der Küche nebenan.

Vor allem, meine Süße, hier wird entweder Hochdeutsch oder Bayrisch gesprochen. Sie tragen bei mir auch bittschön einen Rock und keine Hosen!

Das Büro schließen Sie morgens um acht Uhr auf. Ich bin jetzt mal drüben beim Gericht.“

Nun nehme ich schon mal in stiller Trauer Abschied von meinen Hosen. Die trage ich dreiviertellang in Popeline mit Aufschlag, manchmal dazu einen Nicki mit Nicki-Tuch.

Das passt dann wieder nicht zum Rock.

Als ich an mir heruntersehe, entdecke ich im Schritt der Hose einen großen Blutfleck, der sich in Schmetterlingsform nach beiden Seiten ausgebreitet hat.

Die Periode hätte ich noch nicht erwartet.


Dr. Seidl ist der Partner meines Chefs und arbeitet im Zimmer nebenan. Er kommt erst am späten Vormittag, setzt sich zuerst in Hut und Mantel neben meinen Schreibtisch. „Heut geh ich mit Ihnen rüber zum Landgericht. Da hab ich unlängst dringesessen beim Vera-Brühne-Prozess. Später zeig ich Ihnen die Gerichtsvollzieherei. Dorthin müssen Sie öfters. Aber Sie sollten unbedingt einen Abendlehrgang machen für Anwaltsgehilfen. Ich geb Ihnen schon mal das gute Lehrbuch hier.“


In der Mittagszeit renne ich mit Hilfe des Verkehrsschutzmanns über den Stachus ins nahe Kaufhaus. Das nennt man „Supermarkt“. Noch nie habe ich ein so riesiges Geschäft gesehen mit so vielen Stockwerken. Im Erdgeschoss stehe ich vor der langen Theke, darüber hängt ein Schild: „Selbstbedienungs-Restaurant“. Eine Frau beobachtet mich freundlich.

Jetzt holen`s erst das Tablett, dann die Speis und erst am Schluss bezahlen`s.“

So müssen die Supermärkte in Amerika aussehen.


Mit der gekauften Semmel und dem Fleischsalat gehe ich über den Stachus in den Garten der Kleinen Pinakothek, setze mich dort auf eine Bank und lese, während ich esse, im „Anwaltsgehilfen“.

Zum Abendlehrgang kann ich mich nicht anmelden. Den Abend muss ich nützen, um Kunst zu studieren.

Ich schweife ab mit meinen Gedanken, mache ein paar Notizen: Die Kurse an der Uni beginnen um sieben Uhr. Also müsste ich um sechs Uhr Feierabend haben.

Teilzeitarbeit wäre toll. Doch das Geld würde nicht reichen. Nicht mehr als dreihundert Mark wären es bei meinem Chef, für mein möbliertes Zimmer bezahle ich hundert Mark.

Den Notizzettel werfe ich zusammen mit dem Vesperpapier in den Papierkorb neben mir.

Mein Chef vergibt keine Teilzeitarbeit.


Sonntag. Auf dem Weg zum Englischen Garten treffe ich Straßenmusikanten. Sie tragen Blue Jeans, man sagt dazu Schlaghosen. Die weiten sich nach unten und schleifen beinahe am Boden. In einer Illustrierten habe ich gelesen, in London gebe es schon den Mini-Rock. Er ist eng und reicht nicht mal bis zum Knie. Als wollten sie dagegen protestieren, tragen zwei der Straßensängerinnen lange Röcke und weite, dünne Baumwollblusen ohne BH.

Einer spielt nun auf der E-Gitarre, singt das Lied von den Beatles: „Let it be…“.

Alle singen. Junge Straßenpassanten kommen dazu, stehen im Kreis, ich stelle mich zu ihnen und alle summen mit und wippen mit Hüften und Armen.

Die Heimat der Beatles seien die Industrieviertel Liverpools, dort herrsche pure Armut, heißt es im Radio. Und die Beatles seien „in“, die Jugend höre ihre Lieder im entlegensten Winkel der Erde. Eine neue Musik gehe um die Welt - der Beat.

Nun höre ich häufig die Beatles und nicht mehr so oft Elvis.

Ein paar der Herumstehenden tragen schon den Beatles-Pilzkopf: Wuschelhaar, das die Stirn bedeckt und die Ohren bis zu den Ohrläppchen. Einige der Mädchen tragen das Haar lang bis über die Schultern. Das Pony reicht bis zu den Augenbrauen.

Nun sagt der E-Gitarrist einen Protestsong an von Joan Baez. Sie singe auch schottische Balladen und Folk. Joan Baez singe gegen den Vietnamkrieg an und auch gegen die Atomrüstung. In den Universitäten der USA gebe es schon viele Sit-ins, auch gegen die Politik der Rassentrennung in den Südstaaten. Sit-ins, das seien friedliche Demonstrationen. Und friedlich wollten auch sie demonstrieren mit ihrer Straßenmusik.


Heute sehe ich sie in großer Zahl. Im Englischen Garten sitzen oder liegen sie herum in kleinen Grüppchen, manche mit ihren Hunden. Die Bevölkerung nennt sie „Gammler“ oder „Chaoten“. Sie protestieren mit ungewaschenem Haar, mit zerlumpter Kleidung und mit ihrer Schlafstatt im Freien. Heute protestieren sie teils nackt. Im Radio heißt es, ihre Verweigerung richte sich gegen die bürgerliche Ordnung und gegen das Gehorsamsdiktat des Staates.

Auch James Dean hat protestiert, mit schnellen Autos, mit Zornesattacken gegen die Eltern in „Jenseits von Eden“. Seinen Protest konnte er nicht zu Ende denken. Er ist mit zu hoher Geschwindigkeit gefahren.

Nun trifft die Polizei ein mit Hunden und Schlagstöcken. Eine Gruppe weigert sich geschlossen, den Rasen zu verlassen. „Nun rückt mal alles raus, was ihr so habt an Heroin und Marihuana!“ sagt ein bewaffneter Polizist und grinst auf die Gruppe hinunter, die zu seinen Füßen teilnahmslos im Gras kauert. Einer von denen benutzt das Reizwort. „Ihr Bullen habt uns nichts zu befehlen!“ Als hätten sie nur darauf gewartet, kommen Polizisten aus dem Hinterhalt, prügeln mit ihren Schlagstöcken auf die „Gammler“ ein. Ein paar von ihnen bluten, auch ein Mädchen ist unter den Verletzten.


Amar ist Algerier. Er kommt des Weges im Garten der Kleinen Pinakothek, setzt sich zu mir auf die Bank. Ich reagiere nicht, lerne im „Anwaltsgehilfen“, esse nebenher meine Semmel mit Fleischsalat vom Selbstbedienungsrestaurant, denn es ist Mittag.

Amar nennt seinen Namen, entschuldigt sich auf Französisch, spricht zwischendurch auch gebrochenes Deutsch. Er sei eben aus seinem Land geflohen. Jahrelang habe es Krieg gegen Frankreich gegeben. Nun sei Waffenstillstand und Algerien sei unabhängig, doch seine Familie werde verfolgt. Sein Vater habe für die französische Regierung gearbeitet. Er bekomme keine Post von den Eltern. Vielleicht seien sie im Gefängnis. „Ma famille était très privilégiée.“ 

Ich weiß nichts über Politik“, sage ich zu Amar. „Isch liebe Deine Augen“, sagt er darauf nur.


Mittags lerne ich nun nicht mehr im „Anwaltsgehilfen“.

Mit der Tram fahre ich täglich nach Bogenhausen. Dort arbeitet Amar in einer Wäscherei. Eine Stunde später muss ich zurück an meinem Schreibtisch sein.

Während der Fahrt esse ich ein Vesperbrot. Das heißt im Supermarkt „Sandwich“.

In der Wäscherei arbeite ich mich durch den Wasserdampf, entdecke schließlich Amar und ein paar Frauen, die einander durch den Wasserdampf in derbem Bayrisch etwas zurufen. Sie scheinen über mich und Amar zu lachen.

Hier kann ich nicht arbeiten“, sagt er, „ich habe nie gearbeitet, bin nur zur Schule gegangen, weißt du“, sagt er. Sein Lächeln ist arrogant-nachlässig, hat Leidenszüge, er schickt es in Richtung der Frauen.


Sonntag in Amars Zimmer. Die Küche gehört der Vermieterin. Sie ist sehr alt und stellt sich mir als Fräulein mit ihrem Nachnamen vor. Dann verabschiedet sie sich, sie besuche eine Freundin. Sie freue sich, dass Amar ein so nettes deutsches Mädchen kennengelernt habe.

Wir sollten aber nach dem Kochen die Küche aufräumen.

Als sie gegangen ist, kochen wir Spiegeleier mit Tomatensoße aus der Dose. Seine Lieblingsspeise, sagt Amar, anderes Essen könne er nicht kochen.


Nach dem Essen streiten wir uns lange, weil Amar immer noch Musik vom algerischen Sender hört.

Ich habe Heimweh“, entschuldigt er sich.

Du musst mit mir nach Paris kommen. Dort wirst du Zeit haben, Kunst zu studieren. Wir werden beide nicht mehr so viel arbeiten. „Woher soll das Geld kommen?“ frage ich. „In Paris wohnt ein guter Freund meiner Familie. Er ist sehr reich und er wird uns helfen.“

Etwas verbindet mich mit Amar. Ein Teil von Mikael ist zu mir zurückgekehrt. Ich fühle es, aber ich kann es nicht benennen.

Wir diskutieren immer noch über Amars Plan. Währenddessen läuft das Radio mit algerisch-arabischer Musik. Was mich nervt, ist auch der schlechte Empfang.

Das alte Fräulein kommt am frühen Abend schon zurück, sieht die Küche in absolut verdrecktem Zustand. „Sogar auf dem Boden liegen die Eierschalen und Tomaten!“ schimpft sie zur Tür herein. Wir versprechen, sofort sauber zu machen. „Nein!“, jammert sie, „Ihr kommt mir nimmer in die Küche!“


Meine Eltern reisen mit dem VW-Käfer an zum Oktoberfest. Auch meine kleinen Geschwister sind mitgekommen. Das freut mich unsäglich. Ich erzähle von Amar.

Vater wird zornig: „Die Sorte haben wir im Krieg kennengelernt, ringsum verschlagen. Und dazu sind die alle Mohammedaner. Der wird dich eines Tages mitnehmen nach Algerien!“ .


Ich bin unendlich traurig. Immer schon habe ich mir geglückte Besuche gewünscht.

Besuche, bei denen die Familie mir gehört, Besuche mit Verwandten, Besuche, bei denen jeder gehört wird, jeder wichtig ist und sich glücklich fühlen soll.

Im Elternhaus ist kaum Zeit dafür, denn dort ist immer Besuch, im Geschäft während der Woche, in der Wohnung an den Abenden und an den Sonntagen - wenn die Kunden läuten, um Vergessenes zu kaufen – wenn Vater die Vereinskameraden eingeladen hat und mit ihnen diskutiert, sei es über ein Musikstück oder das geplante Theater. Immer bin ich Teil dieser Besuche, bin ein Teil, der nicht gehört wird.

Nun stehen wir mitten im Tingeltangel der „Wies`n“. Mutter weint, meine Schwester weint mit ihr. Mein kleiner Bruder dreht sich beiseite und trocknet heimlich seine Tränen. Vaters Blick folgt verzweifelt einem Karussell.


Ich habe alles organisiert“, sagt Amar zu mir, während ich am Stachus die Anwaltspost einwerfe. Wie jeden Abend habe ich bis acht Uhr gearbeitet. „Du solltest gleich zu deinem Zimmer gehen und packen, der Zug geht morgen früh um fünf Uhr nach Paris. Unsere Fahrkarten habe ich schon gekauft. Um vier Uhr hole ich dich ab.“

Ich bekomme Angst. Sie diktiert mir, einverstanden zu sein. Während ich versuche, Amars Blick standzuhalten, entwickle ich meinen Plan. Irgendwann vor vier Uhr würde heute Nacht ein Zug fahren, in den ich einsteigen, mit dem ich fliehen könnte.

Mir bleibt wenig Zeit zum Kofferpacken. Ich will es schaffen.

Um drei Uhr nachts stehe ich am Hauptbahnhof, suche den Zug, der sofort fährt. Hauptsache, in irgendeine Richtung. Ich weiß ja nicht, wohin ich fahren soll.

Um vier Uhr fährt ein Zug nach Heidelberg. Nun würde Amar schon vor meiner Tür stehen. Ich bezahle zitternd die Fahrkarte, steige ein. Der Zug fährt an, wird schneller, nichts kann ihn mehr zurückhalten. Mit seinem ansteigenden Tempo gibt er mir mein Urgefühl zurück.

Ich fühle mich befreit, hinweggetragen, ich schwebe.


Auf Heidelberg strahlt die Morgensonne. So liegt es eingebettet zwischen seinen grünen Hügeln.

Erst plane ich, meine Flucht zu feiern, frühstücke gemütlich in einer Weinlaube, genieße die Sommermorgenluft, den guten Kaffee und die frischen Brötchen. Ein junger Mann setzt sich zu mir. Er ist blond und sehr groß, sieht nicht aus wie ein Heidelberger Student, trägt ein weißes Hemd mit Krawatte und einen hellgrauen Anzug. Er fragt, nachdem er schon sitzt, ob er an meinem Tisch frühstücken dürfe.

Er arbeite in Portugal bei einer deutschen Firma, Exportabteilung, spreche fließend Spanisch und Portugiesisch. „Ich kann Sie überzeugen“, sagt er und redet ein paar Sätze Spanisch mit mir, vielleicht ist es auch Portugiesisch.

Was ich so arbeite, fragt er mich. „Ich bin dabei, Arbeit zu suchen“. Von München erzähle ich ihm kein Wort.

Sie könnten in meiner Firma arbeiten und dort auch perfekt Portugiesisch lernen, natürlich auch Spanisch.“ Für einen Moment sage ich mir, jede Firma müsste ihn allein wegen seiner Stimme einstellen.

Er gibt mir die Adresse einer portugiesischen Firma. „Dort bin ich in zwei Wochen wieder zu erreichen.“

Inzwischen hat er mir das Du angeboten.


Nun greift er hektisch in seine Hosen- und Jackentaschen. „Mensch, ich hab total die Zeit vergessen! Und obendrein noch meinen Geldbeutel! Könntest du mir hundert Mark leihen? Mein Freund hat heut Geburtstag. Ich muss ihm schnellstens ein Geschenk kaufen. Wir haben Samstag und bald schließen die Geschäfte. Du glaubst nicht, wie mir das alles peinlich ist!“ „Ich glaub`s dir schon“, sage ich und gebe ihm die hundert Mark.

Dann sitze ich und warte, überlege, wie lange man braucht, um ein Geschenk auszusuchen.

Vielleicht würde er anschließend ins Hotelzimmer gehen und seinen Geldbeutel holen.

Nach einer Stunde Warten kommt die Wirtin an meinen Tisch. Ich bestelle ein Getränk.

Dann hole ich mir eine Zeitung, kann mich nicht konzentrieren, gebe aber vor, zu lesen.

Nach einer weiteren Stunde bezahle ich zwei Frühstücksgedecke und mein Getränk.

Dann gehe ich mit meinen Koffern zum Bahnhof, setze mich in den Zug und fahre nach Hause.



Schneewittchen



Gewandert

über sieben Berge

geträumt

deinen Traum

geschluckt

den Apfel

zurückgekehrt

mit dem Schweigen des Schnees.





Versteck


Sich verstecken

hinter dem Versteck

dass eins minus eins

null macht und

man dich finde

im runden Schweigen

der Null


Da wird keiner

dich suchen

da gehst du zweibeinig

unter zweibeinigen Zitaten

du gehst einkaufen

tust deine Arbeit

und redest

durch eine Wand

aus Glas


Eben habe ich in einen Eimer gepinkelt, in meinen Pinkeleimer eben. Den stelle ich in die Bühnenkammer unter der Dachschräge zu den Koffern. Abends entschließe ich mich doch noch zum Haarewaschen und Duschen, nehme in die eine Hand den mit einem Frotteetuch bedeckten Pinkeleimer, in die andere meinen Schlüsselbund und gehe zwei Stockwerke tiefer zu Bullingers Wohnung. Dort kann ich auch das Bad benützen. In meiner Mansarde gibt es nur ein winziges Waschbecken mit Kaltwasserhahn.

Nach dem Duschen - mein Haar nässt ungemütlich über beide Schultern auf den Bademantel – stellt sich mir Bullinger in den Weg. „Hätten Sie Zeit für ein kleines Schnäpschen?“ Dabei schiebt er mich in sein Wohnzimmer, drückt mich in eine Ecke der Couchgarnitur, geht zur Musiktruhe und legt eine Freddy-Platte auf: Seemann, deine Heimat ist das Meer…

Die Wohnwand hat eigenes Licht. Man sagt dazu „indirekte Beleuchtung“. Bullinger öffnet die Klapptür eines Getränkefachs und holt eine Flasche mit zwei Schnapsgläsern herüber auf den Couchtisch.

Eine Zimmer-Kündigung kann das nicht bedeuten. Seit meiner letzten, wochenlangen Zimmersuche sitzt mir die Angst im Nacken. Die damalige Vermieterin, sie stammt aus Siebenbürgen, fragte mich an der Haustür: „Sind`s Ausländerin? Sie sehen ausländisch aus so mit weißer Teddykappe und schwarzem Haar.“ Und die italienischen Gastarbeiter würden den Deutschen nix wie nur die Arbeitsplätze wegnehmen. „Und wir sind Deutsche!“


Nun stimmt Bullingers Freundlichkeit auch mich freundlicher. „Ich schäme mich, weil ich im Bademantel und nicht angezogen bin“, sage ich. „Ja meinen Sie, ich weiß nicht, wie eine Frau im Badmantel und untendrunter aussieht! Lassen Sie mich aber zuerst sagen: meine Frau ist abgehauen mit samt unserem Kind. Seitdem die arbeitet, ist ihr bei mir nichts mehr gut genug. Zu meiner Mutter hab ich gleich gesagt, kümmere du dich nicht ständig um das Kind, dann bleibt sie auch daheim, nämlich da, wo sie hingehört. Sie können übrigens jetzt, wo meine Frau weg ist, auch mal meine Küche benützen.“ Ich sage „danke“ und lächle nur schwach. Ich habe mich dagegen entschieden, gegen alles, was mich hier umgibt.


Bullinger prostet mir zu, trinkt mit einem Zug das Glas aus. „Trinken Sie doch leer, ich will nachschenken. Auf einem Bein kann man nicht stehen!“ Ich sage, während ich meine Mundwinkel zum Lächeln zwinge, „alkoholische Sachen mag ich nicht so.“ Er bietet mir eine Marlboro an. Ich sage: „Ich rauche nicht.“ Er zieht nervös an seiner Zigarette. Seine Augen werden angriffslustig. „Übrigens, und das wissen Sie besser als ich, gegenüber wohnt der Mieter meiner Nachbarin. Sie hat mir erzählt, Sie beide würden sich öfter von Fenster zu Fenster unterhalten. Was mir aufgefallen ist, Sie sind mit ihm schon mehrmals an meinem Haus vorbeispaziert. Nur der Ordnung halber möchte ich nochmal betonen, was auch im Mietvertrag steht. Also kein Männerbesuch, nicht bei Tag und nicht bei Nacht! Sonst kann man mich schuldig sprechen wegen Kuppelei. Ich hoffe, Sie kennen den Kuppeleiparagraphen.“

Weil mir nichts anderes einfällt, sage ich nur „ja“ und ich sei sehr müde, möchte gehen und mich auch nochmals bedanken.

Dann nehme ich hastig zwei Stufen zum dritten Stockwerk. Wieder ist da die Wohnungstür einen Spalt weit offen. Wieder erschrecke ich für einen Moment, denn dahinter steht Bullingers Mutter und bügelt. So kann sie nebenbei den Treppenabsatz überblicken.

Ich nehme sie nur wahr über die Bügelgeräusche und bin froh, dass ich nicht grüßen muss.

Ein Stockwerk höher mache ich die Tür hinter mir zu und schließe ab. Ich habe Angst.


Die Röcke werden kürzer. Ich sehe es auf der Straße und in den Schaufenstern. Also schneide ich meine Röcke wieder ein Stück weit ab und richte den Saum bis zum Knie.

Es ist Sonntag.

Rüdiger macht Besuch bei seiner ehemaligen Vermieterin. Sie ist um die fünfzig. Rüdiger mag Frauen, die älter sind als er. „Es ist besser, wenn du nicht mitkommst, die wird sonst eifersüchtig. Ich hab ihr viel zu verdanken, den Zugang zur klassischen Musik und den Tipp, das Abi am Abendgymnasium zu machen.“

Ich verstehe. Rüdiger möchte auch nicht auf das Pfännchen zum Wochenende verzichten, zwei Schweinekoteletts, in Butter gebraten. Die essen wir fast immer gemeinsam.

Ich habe Hunger. Draußen stürmt es, also verzichte ich auf die Currywurst vom Kiosk, benütze schon gar nicht Bullingers Küche. Das habe ich mir versprochen.

In die größte von Mutters Cromargan-Schüsseln lasse ich kaltes Wasser einlaufen, bringe es mit dem Tauchsieder zum Kochen. Dann schütte ich Reis in eine Ecke der Schüssel. Wenn er sich durch das Garen langsam ausbreitet, nehme ich den Tauchsieder heraus und rubble unterm Kaltwasserhahn die festgeklebten Reiskörner ab. Sobald das halbfertige Gericht abzukühlen droht, gieße ich Wasser nach und bringe das Ganze mit dem Tauchsieder wieder zum Kochen. Nach etwa einer Stunde ist der Reis weichgekocht. Ich esse ihn mit einem Stück Butter und mit Salz und Curry.


Rüdiger kommt mit einer Liste voller Buchtitel. „Literatur, die man gelesen haben muss bis zum Abi. Nimm sie dir mal vor.“ Ich sage, „die hab ich alle gelesen, sieh bei mir nach, du findest darin meine Notizen.“ Rüdiger wird misstrauisch bei Kleist, prüft nach und ist schließlich zufrieden.

Einmal im Monat gehe ich mit Rüdiger zum Konzert in die Liederhalle. Ich weine bei Brahms Vierter in e-moll. Auf ihr treibe ich verloren wie auf Meereswellen. Ich weine auch bei Gustav Mahler. Nur Bach, Haydn, Mozart geben mir den Schutz des Raumes von Himmel und Erde, bringen mathematische Klarheit, Lösung, Trost, Heiterkeit.

Doch nur Mozart kennt das Wunder. Das Wunder selbst hat ihn auf die Erde entsandt mit einer Botschaft. Sie ist mehr als die Lösung. Sie ist das warme, goldene Licht. Es hat keinen Namen. In diesem Licht stehen die Erzengel und ihre Flügel tragen sie wie Waffen.

Die Sonne tönt nach alter Weise…“, so beginnt der Prolog im Himmel zu Goethes „Faust“. Der Prolog ist eines von Vaters Lieblingsgedichten. Damals, als ein vom Krieg heimgekehrter Soldat, hatte er noch die Zeit, Mutter und mir vorzulesen. Da waren wir noch in einem Schutzraum des Aufbruchs, eines Aufbruchs in Muse. Dann kam der Wiederaufbau.


Rüdiger drängt mich, auch Mahler und Bruckner zu hören. „Wenn du sie nicht so magst, dann lernst du sie wenigstens kennen“, sagt er. „Ich mag nicht, wenn die Leute zum Takt den Kopf wiegen und du es ihnen nachtust“, quengle ich herum.

In der Pause flüstert mir Rüdiger ins Ohr, da sei zu viel Bildungsbürgertum, er möge diese Sorte auch nicht. „Mein Vater war Industriearbeiter. Aber gerade deshalb werd ich`s ihnen noch zeigen.“ „Dann wirst du so werden wie sie und ich werde dir nicht mehr genügen“, sage ich. „Drum werden wir bald aus dir einen Menschen machen“, lacht Rüdiger und legt den Arm um mich. Nun fühle ich mich umsorgt als ein Nichtmensch, als eine Nichtmenschin und Äffin. Und als solche gehöre ich nicht hierher. Ich renne zum Ausgang, Rüdiger rennt hinter mir her, holt mich ein: „Maggie, bleib stehen! Geh nicht fort! Dich muss man einfach provozieren. Warum? Du bist zu wenig ehrgeizig!“ Er nimmt mich unter seine Achselhöhle. Seine Hände sind ganz nahe an meinem Gesicht. Sie sind mit rotgoldenem Härchenflaum bedeckt und sie riechen nach nassem Holz. Ich schweige. „Mein Wikinger“, denke ich. Rüdiger kommt aus dem Norden.


Präsident John F. Kennedy ist tot. Am Radio höre ich, dass jemand aus einem Fenster auf ihn geschossen habe, als er im offenen Wagen durch die Menschenmenge fuhr.

Kennedy sei das Idol und die Hoffnung der Jugend gewesen, auch in Europa, heißt es am Radio. Unvergessen seien seine Worte „ich bin ein Berliner“. Die habe er damals bei seinem Besuch in der geteilten Stadt an die ihm zujubelnden Westberliner gerichtet.

Kennedys Politik interessiert mich nicht. Ich habe ihn verehrt wegen seiner Lässigkeit. Die hat meine Erinnerung wachgerufen an die Zeiten der Besatzung: Sie kamen hochgewachsen, mit federndem Schritt, der aus der Hüfte kam, hingen lässig herum, stützten sich ab, lehnten sich an, kauten Kaugummi und ließen aus den fahrenden Jeeps die Beine heraushängen. Sie brachten den Charme einer fremden Welt.

Ich besitze den John F. Kennedy als Buchzeichen, ausgeschnitten aus einer Illustrierten und aufgeklebt auf einen stabilen Karton. Nun stelle ich ihn auf meinen kleinen Tisch, angelehnt an eine Limonadenflasche.

Rüdiger ist nicht zu Hause. Über der Stadt hängt der Novembernebel, die Straßenpassanten gehen schweigend ihres Wegs.

Bei Woolworth sehe ich einen BH in milchigem Rosa mit weißen Baumwollspitzen. Der müsste auch Rüdiger gefallen. So kaufe ich das Wunder in Weiß und Rosa und vergesse dabei das Kennedy-Attentat.


Auf der Stelle trägst du den BH zurück zu Woolworth“, sagt Rüdiger, „du kannst den Nutten-Fummel ja umtauschen. Du kannst ihn auch gleich in die Altstadt zum `Dreifarbenhaus´ bringen. Deine Kennedy-Ikone kannst du auch in den Papierkorb werfen“, sagt Rüdiger. Der Kennedy hat anfangs hoch und heilig versprochen, er werde Kuba nicht angreifen, dann hat er schließlich doch auf die CIA gehört, hat eine Blockade Kubas errichten lassen mit Kriegsschiffen in der Schweinebucht.. Natürlich war der Chruschtschow ebenso dabei, seine eigenen Raketen in Stellung zu bringen. Die Welt hat ganz nahe am Abgrund eines Atomkriegs gestanden. Nach einem fieberhaften Gedankenaustauch zwischen Kennedy und Chruschtschow hat Chruschtschow schließlich seine Raketen von Kuba abgezogen.“

Ich nehme mir vor, ab jetzt regelmäßig die Zeitung zu lesen und den rosafarbenen in einen weißen BH umzutauschen.


Bullinger hat mir das Zimmer gekündigt. Ich wohne in einem anderen Stadtteil. Küche und Bad teile ich mit zwei Frauen. Rüdiger übernachtet an den Wochenenden bei mir.

Seit zwei Monaten ist die Periode ausgeblieben.

Dr. Berg macht den Froschtext. Der ist positiv. Ich bekomme ein Kind von Rüdiger und bin im zweiten Monat. Ich kann es nicht fassen. In meinem Bauch wächst ein kleines Wunder, das Kind von Rüdiger. Am liebsten hätte ich ein Mädchen. Aber wenn es ein Junge ist, dann soll er Alexander heißen. Und er würde ein kleiner Wikinger sein mit rostrotem Haar.

Wir müssen jetzt klaren Kopf behalten“, sagt Rüdiger. „Ein Kind bedeutet, dass ich dafür sorgen muss und deswegen nicht studieren kann. Dann kann ich mich ja gleich aufhängen. Wir haben also zwei Möglichkeiten: Entweder, du lässt es hier abtreiben, illegal, was anderes ist nicht möglich, oder du fährst nach Jugoslawien. Dort machen sie es in den Krankenhäusern auch bei Ausländerinnen.“

Ich fahre nicht nach Jugoslawien“, sage ich zu Rüdiger, „meine Kollegin war dort in einer Klinik. Sie haben ihr den Fötus ohne Betäubung aus dem Bauch geholt. Und die Schmerzen seien unbeschreiblich gewesen.“


Einem Kollegen erzähle ich nach Geschäftsschluss mein Problem. Der sei medizinisch sehr informiert, sagt Rebekka, meine Freundin vom Empfang.

Ich mache es mit Nadeln, alles kein Problem. Wann soll ich zu dir kommen?“, fragt der Kollege.

Ich entschließe mich für Dr. Berg. Der sagt in der Sprechstunde, er könne nur ausschaben, wenn ich blute. Daraufhin fülle ich zwei Taschen mit Steinen, gehe mit ihnen vor die Stadt und schleppe sie die Rebenhügel hinauf und hinunter, bis mein Bauch zu schmerzen beginnt. Auf der Toilette sehe ich dünne Rinnsale von Blut die Beine entlang laufen.

Dr. Berg sieht besorgt aus. „Sie haben hohes Fieber. Ich müsste sie in die Klinik einweisen.

Aber lassen Sie mich zuerst nachsehen.“ Nach der Untersuchung tröstet er mich: „Ich kann ausschaben. Sie bekommen gleich eine Narkose.“

Als ich aufwache, steht Dr. Berg über mich gebeugt, streichelt väterlich meinen Arm.

Es ist alles überstanden. Sie gehen jetzt heim und legen sich für eine Woche ins Bett.“

Inzwischen war Rüdiger in meinem Zimmer. Er hat mich gesucht.

Ein Zettel liegt auf der Couch. „Du Liebe…“ steht darauf.

 

 

 

Phoenix


Unter dem

Overkill

unter der Asche

nistet

ein Samenkorn

nistet

mein Kind


Zerschlagt die wertfreie Wissenschaft! – Macht kaputt, was euch kaputt macht! – Amis raus aus Vietnam! – Make love not war!“

Von den Wänden der Institute schreien die Parolen, hingepinselt mit roter, in Schlieren abgeflossener Farbe, als wären sie am Bluten.

Wir latschen zur Mensa. Meinen Vormittagsjob habe ich hinter mir. Nun trage ich Sandalen zum Schnüren, mein Hippie-Kleid in Lila aus gebatikter Baumwolle, dazu bunte Blumen-Ohrclips und Zöpfe.

Abends gehen wir ins Kino.

Die Oswald Kolle-Filme laufen in der „Blauen Brücke“, Kung-Fu und Dracula im „Museum“, La Belle et la Bête im „Hirsch“ und der Western im „Bären“.

Einen Kolle werde ich mir nicht mehr ansehen und schon gar nicht mit Rüdiger. Zuletzt belehrte uns Kolle, wie perfekter Sex zwischen Mann und Frau auszusehen habe. Ich schämte mich den ganzen Film hindurch vor Rüdiger und auf dem Heimweg marterten mich schwere Gedanken. Darin überreichte mir Kolle mit melancholischer Grandezza die Note vier bis fünf. Kaum waren wir zu Hause angekommen, brach ich einen Streit vom Zaum. Mit Kolle hatte dieser Streit nichts zu tun.

Wir entschließen uns also für den „Bären“. In den „Bären“ zu gehen, ist Kult und es ist „in“. Während der Film läuft, wird geraucht, getrunken und miteinander geredet, die Western-Helden werden angefeuert. Dazu rollen uns die leeren Bierflaschen der hinteren Reihen zwischen die Füße und wir kicken sie unter die Sitze der Vorderreihen.


Ich arbeite in der Exportabteilung, habe Briefe zu schreiben an englische und französische Buchhandlungen und Verlage. Weder kann ich Business-Englisch noch Business-Französisch. Beworben habe ich mich mit der Zusage, darin sei ich perfekt. Den smarten Verlagschef mit Volontariat in den USA scheint das nicht zu interessieren.

Nun warte ich mit Herzklopfen, bis mein Kollege aus dem Zimmer geht, dann blättere ich zitternd im Lexikon. Sobald er wieder zurück ist, wickle ich Lexikon, Notizblatt und Kugelschreiber in mein Handtuch und verziehe mich damit in Richtung Toilette.

Nachmittags lerne ich zu Hause Business-Englisch und Business-Französisch. Ich hasse diese Floskeln. Bei nächtlichem Zähneknirschen finde ich schließlich Trost: Ich verdiene damit mein Brot.

Bald öffnet sich für mich ein wundersames, winziges Fenster. Dahinter ahne ich die Welt, die ich erkunden möchte, das Universum der Sprache.

Wenn du nur vormittags arbeitest, kannst du nachmittags studieren“, sagt Rüdiger, „du gehst zur Hochschule für Berufstätige, einmal die Woche hin zum Seminar. Also Deutsch, Literatur, Englisch, Französisch. Okay? Mit dem Stipendium reicht uns das Geld.“ Rüdiger schiebt mir das Anmeldeformular hin. „Hier unterschreib. Das packst du.“


Wir heiraten standesamtlich. „Sehen Sie zu, dass ich nicht in die Bredouille komme mit dem Kuppeleiparagraphen“, sagt der Vermieter. Vater organisiert unser Hochzeitsfest, unsere Familien reisen an. Rüdiger hat vergessen, den Brautstrauß zu holen. „Die Zeit reicht nicht. Ein Brautstrauß ist ohnehin spießig, so spießig wie meine Krawatte“, mault Rüdiger und sieht mich streng aus dem Spiegel an. Ich weine, dann galoppiere ich in Hochzeits-Stöckelschuhen den Berg hinunter. Der Florist nimmt den nicht mehr frischen Strauß vom Regal. „Ich hab schon gestern auf Sie gewartet“, sagt er fröhlich, „und viel Glück!“


Wir diskutieren über Jean-Paul Sartre, Das Sein und das Nichts.

Eine Stelle verstehe ich so“, sage ich zu Rüdiger, „das heißt, ich will sie gar nicht verstehen: Sartre sieht sich in einer Kluft zwischen Gedankenwelten. Die hat sich für ihn aufgetan, weil diese Gedankenwelten, nimm die philosophischen, die religiösen, die psychologischen, ja selbst die Kunst, die Literatur, nicht mehr emportragen und stützen. Lies nach in `Der Ekel´.

Aber was sonst kann uns emportragen als unsere Gedankenwelten aus der Kluft, aus dem Nichts, aus der existentiellen Heimatlosigkeit?“

Nimm das mal nicht als ein Evangelium. Der Sartre ist dran interessiert, dass uns seine eigene Philosophie emporträgt, drum muss er erst den Abgrund freischaufeln als die neue Existenzform des modernen Menschen“, meint Rüdiger.

Vergiss nicht den Literaten und mach ihn nicht so runter! Jawohl, der Abgrund leuchtet mir ein“, sage ich, „der Abgrund ist die Entfremdung. Die moderne Welt der Maschinen knebelt uns, verwehrt uns die Entfaltung unserer natürlichen Anlagen, geht nicht ein auf unsere wahren Bedürfnisse.“

Aber das ist nun wirklich nichts Neues“, sagt Rüdiger, „mit der Entfremdung sind wir auch schon bei Karl Marx. Der Mensch als Ware. Und nicht wenig davon hat auch der Rousseau schon gewusst. Eines hat Sartre bestimmt nicht kapiert: Die Kluft, die sich ihm auftut, ist in der puren Wirklichkeit nicht die Kluft zwischen Gedankenwelten, sondern die Kluft zwischen Arm und Reich.“

Wie will er dann politisch handeln?“ frage ich.

Ich suche die Stelle, wo Sartre sagt, er wolle kein Herzblut an Weltbilder verschenken, er wolle sich nicht zum Wähler degradieren lassen.

Du hast Recht“, sagt Rüdiger, „wie will er dann Nägel mit Köpfen machen? Muss er auch nicht als Philosoph. Und doch fordert er die permanente Revolution. Dann aber muss er sich für eine Gedankenwelt, ein Weltbild entscheiden. Nur ein solches zwingt Revolutionäre zum gemeinsamen Handeln. Lassen wir bei Sartre die Kirche im Dorf. Sein Handeln bleibt stecken im Denken und Schreiben. Und hier steht`s doch: Er nennt sich einen Parasiten am Saume des Marxismus“.

Was denkst du, trägt einen Menschen empor aus dem Abgrund, aus der Kluft zwischen Arm und Reich? Der Marxismus?“ bohre ich nach.

Frag mich was Leichteres“, sagt Rüdiger.


Roja ist Pfarrerstochter, studiert Romanistik, wohnt im Studentenheim.

Wir sitzen im Bus, zusammen mit Jens, ihrem Freund. Jens studiert Marxismus bei Ernst Bloch. “So viele Schüler hat der nicht, mit denen treffen wir uns oft bei Blochs privat.

Denk bloß nicht, der Jens sei mein Verlobter“, flüstert mir Roja ins Ohr, „meine beiden anderen Freunde sind verheiratet, noch im Studium, der eine mit Kind. Ich penne mit allen. Der Hausmeister winkt uns einfach durch, ist gar nicht so schwierig, du musst ihn nur anlächeln. Mit Jens gibt es langsam Probleme, der stinkt mir zu arg. Es ist alles nicht so einfach. Auch im Romanistik-Seminar sitzen Stinker.

Der Bus hält auf der Anhöhe vor einer Villa.

Dort siehst du den Horkheimer-Prof, dann sind auch viele Adorno- und Marcuse-Fans da. Die meisten labern nur dumm rum“, versucht mich Roja hier einzuführen und legt den Arm um mich. „Die kommen fast alle von der Frankfurter Schule her, also dem Kritischen Marxismus.“

Ich lese ihn demnächst“, sage ich und im gleichen Atemzug verdamme ich meinen Satz. Er musste sich anhören wie der ganz und gar untertänige Dank für eine Party, die ich mir nicht ausgesucht habe.

Und doch meine ich es ernst. Ich fühle mich so dumm wie schon lang nicht mehr, fühle mich einem Arsenal von Fachwörtern ausgesetzt, die ich nicht wirklich verstehe.


Wie einzelne Geschosse fliegen sie aus der Geräuschkulisse von Diskussion, Jimmy Hendrix, Rolling Stones und Janis Joplin: die Worte von Basis und Überbau, von antiautoritärer Revolte contra sozialistischen Klassenkampf, von Adornos Negation der Negation und Marcuses kritischer Theorie.

Einer trägt ein Stirnband über wallendem Jesushaar, spricht nölend mit langsamer Gestik: „Ihr seht es zu verbissen. Arbeiterbewegung und realer Sozialismus sind doch nur Teil des alten Systems, nicht tauglich für ein Bündnis mit der dritten Kraft, den Studenten, den Ausgestoßenen und der Dritten Welt. Ihre Mittel sind wiederum die Mittel der Macht. Die Natur des Menschen müssten wir als erstes ändern, sagt Marcuse. Also alle Brücken abbrechen! Also das Nein der Arbeiterklasse wiederum negieren. Das wäre die Negation der Negation“.

Mir schwirrt der Kopf.

Schau mal kurz rein bei Lenin, Staat und Revolution.. Mir geht dein bekiffter, kleinbürgerlicher Stuss auf den Senkel!“, sagt einer aus dem Kreis der Umstehenden. Er trägt kürzeres Haar und einen Schnauzbart.

Ein anderer redet von Che Guevara, dann vom Export der Revolution. Roja kontert: „Bist wohl neuerdings bei den Trotzkisten!“


Die Frauen zelebrieren die neue Weiblichkeit, jene Mischung aus Intellekt und Sex.. Frau ist gegen das konventionelle Wunschbild der Frau, ist gleichermaßen intellektuell wie auch sexy, schüttelt energisch ihre Mähne auf den Rücken und streicht in regelmäßigen Abständen die Haarsträhnen hinters Ohr. Eine lässt sich nicht mehr das Wort abschneiden, sagt zum Mann: „Du Chauvi laberst schon eine gute Weile, kannst nur Thesen verbraten und steckst deine Positionen ab, die mir am Arsch vorbeigehen.“


In der Sporthalle sind die Buren zu Gast, eine Volkstanzgruppe, angereist aus Südafrika.

Kommst heut Abend zur Demo?“, ruft mir Roja zu, „da ist was los!“

Rüdiger verzieht sich in die entfernteste Ecke der Demonstranten und mault: „Glaubst du, ich renne der Polizei ins Messer, die haben Schlagstöcke und Wasserwerfer dabei. Schließlich will ich Richter werden!“ Ich stehe mit Roja in vorderster Reihe an der Absperrung.

Immer mehr Demonstranten sammeln sich um die Halle. Wir rufen in Sprechchören: „Freiheit für Südafrika! Freiheit für Nelson Mandela!“ Schwarzafrikaner tragen das Bild von Martin Luther King mit seiner Botschaft „I have a dream…“

An der Turnhallenwand kleben die ersten rohen Eier und Tomatensaft, Fensterscheiben werden eingeworfen, die Buren trauen sich nicht, ins Freie herauszutreten. Inzwischen ist es dunkel geworden. Die Bewohner der umliegenden Häuser schimpfen auf uns ein: „Geht halt rüber in die Ostzone, wenn`s euch hier zu wohl ist!“.

Ein älterer Mann sagt zum Studenten:„Als Allererstes müsst ich dir den Bart und deinen Pelz "abscheren!“ Daraufhin der Student: „Komm, Opa, geh ins Haus rein! Drin läuft `s Ohnsorg-Theater.

 

 

"

Hoffnung


Das Ritual der Einsamkeit

du und ich

am Tropf

der Information

Politik

die Kunst des Machbaren

Lenin auf die Füße gestellt

der DIAMAT

das Scheitern am Irrationalen

Leibnitz und das Gegensätzliche in Harmonie

Ist nicht schon alles

gesagt

erlebt

Bennos Tod

sein Grab aus roten Nelken

Attentat auf Rudi

der heiße Sommer achtundsechzig

die roten Fahnen auf der Sorbonne

die Feten

am Tisch unter Pflaumenbäumen

Deutschland im Herbst

und die bleierne Zeit

Holger

der Kampf geht weiter


Rituale der Einsamkeit

du und ich

am Tropf der Information

ist nicht schon alles

gesagt

erlebt


die nach uns kamen

sind früh gealtert mit

der sterbenden Erde

am sterbenden Himmel

suchen wir den Kometen

fürchten uns

vor der Allmacht des Plutoniums

unter den Trümmern

der Utopien

der Beziehungen

liegt

verborgen

die Droge

Hoffnung

 

 

 

 

Zu eurer Zeit

( Sprechgesang zur Gitarre )


Und wenn du zurückkämst

aus dem Himmel der heimatlosen Linken

nur eine Demo lang


Zu eurer Zeit

war der Osten noch rot

wir latschten zu Tausenden

um die Utopie

und riefen in Sprechchören

weg mit den Berufsverboten

und sangen

und weil der Mensch ein Mensch ist


Unsere Treffen

waren Feten

gewiss auch mit entfernten

Verwandten

wir saßen am Feuer

bei Borschtsch

und Paella

nach den Rezepten der Euros


Und weißt du noch

das Wort `verbissen´

in deinem Schweigen

in deiner Selbstkritik

Oh we can be heroes just for one day

Ho, Ho, Ho Chi Minh

Blue jeans und unser wehendes Haar

All you need is love


Und dann

an einem Sommertag

auf deinem Sarg die

roten Nelken

Mahlers Fünfte

einer im roten Hemd

so hat es dir gefallen

mit dir ging eine Epoche


Und wenn du zurückkämst

aus dem Himmel

der heimatlosen Linken

nur eine Demo lang

zu eurer Zeit

war der Osten noch rot

doch heimatlos sind wir geblieben


Jetzt muss ein Fernseher her! Hab schon einen rausgesucht“, sagt Rüdiger.

Damit du zusätzlich Fußball guckst im Fernsehen! Mir reicht der Sportreport im Radio!“ rufe ich aus der Kochnische. „Das alles in einer Einzimmerwohnung!“

Ich erzähle von Roja. Sie habe von einer freien Zweizimmerwohnung erfahren, also bei ihr im Studentenwohnheim, und eine größere Wohnung sei eh längst fällig bei uns.

Denk doch mal an die Mondlandung! So könnten wir die ganze Nacht von der Bettcouch aus gucken, total lässig! Die Zweizimmerwohnung lohnt sich nicht mehr. In einem Jahr ziehen wir eh von hier weg. Dann wird Geld gescheffelt! Auf meine Scheinchen büffle ich, wenn du im Job bist.“

Rüdiger umarmt mich, strahlt mich an. Sein Strahlen wirkt programmiert. Er erprobt juristische Verhandlungstaktik.

Und wann und wo büffle ich für meine eigene Prüfung?“ wehre ich ab, winde mich aus seiner Umarmung und weiß gleichzeitig, dass Rüdigers Kalkül aufgegangen ist.


Es ist eine Juli-Sommernacht.

Wir sitzen zusammen im Bett und erleben die Mondlandung.

Odyssee 2001“ ist Wirklichkeit geworden, ist nicht mehr nur Kultfilm. Wir sind „live“ dabei. Neil Armstrong betritt im weißen Astronautenanzug als erster den Mondboden, schwerfällig wie ein Teddybär, halb schwebend, halb stapfend, als liefe er über ein Trampolin.

Im Dunkel liegt das Jahrhundert, liegt unser Jahrhundert, liegen die Weltkriege, der Vietnamkrieg und die Notstandsgesetze.

Das neue Jahrtausend hat schon begonnen.

Wir machen uns auf zu fernen Planeten.


Am nächsten Tag schlage ich bei Goethes „Faust“ die Stelle nach über Homunkulus:

`Das ist die Eigenschaft der Dinge: Natürlichem genügt das Weltall kaum, was künstlich ist, verlangt geschloss`nen Raum´.

Versteh ich nicht“, sage ich zu Rüdiger. Um Lichtjahre weit in den Weltraum zu reisen, brauchst du irgendwann auch den künstlichen Menschen, eben den Homunkulus, im Faust hat ihn Wagner erschaffen, aber mit Mephistos Hilfe.“

Klar, alles im Weltall ist Physik, ist pure Natürlichkeit. Das genügt dem Menschen eben nicht. Er muss sich künstlich einen Gott und Götter erschaffen und andere Pseudowissenschaften haben“, sagt Rüdiger.

Also bist du auch gegen den Homunkulus, den künstlichen Menschen? Vielleicht ist mit dem geschlossenen Raum gemeint, dass man künstlich Erschaffenes am besten unter Verschluss hält. Es könnte uns zum Feind werden, was meinst du?“, frage ich Rüdiger mit einem Seitenblick auf seinen Bücherstapel. Da liegt schon längere Zeit das Buch über Menschenzüchtung. Es liegt herum wie ein in seiner Starre lauerndes, bösartiges Krokodil.

Warum liest du so was?“

Ich brauch es fürs Jurastudium Und was hat das alles mit der Mondlandung zu tun?“

Jawohl, mit dem Homunkulus!“, schreie ich ihn an. Nun ist es wieder so weit. Wie eine Mauer stellt sich zwischen uns die alte Streitfrage: Wollen wir ein Kind haben oder nicht? Rüdiger will es nicht, begründet es mit der Krankheit des Vaters. Die könnte sich auf das Kind übertragen.

Wir streiten, ich weine. Den Gedanken, kein Kind haben zu dürfen, ertrage ich nicht länger. Ich gehe in die Apotheke, hole Schlaftabletten, nehme davon vier Stück, lege mich auf die Couch und schlafe ein.

Als ich aufwache, liest Rüdiger die Zeitung und sagt in aufgeräumter Stimmung: „Siehst du, es geht doch auch so. Warum musst du so hysterisch reagieren!“


Von weitem höre ich Gesprächsfetzen, sie zischen heran, schmettern an mein Ohr, entfernen und verlieren sich wieder im fernen Gemurmel. Einmal wird laut gelacht. Dann höre ich, wer nun dran sei mit dem Würfeln.

Meinen Körper fühle ich nicht. Langsam schaffe ich es, die Augen einen Spalt weit zu öffnen. Der Raum scheint grell erleuchtet, fensterlos. Die Wände sind weiß gekachelt.

An der gegenüberliegenden Wand sitzen drei Gestalten um ein kleines Tischchen, zwei junge Frauen und ein junger Mann, alle in Weiß.

Dann schlafe ich ein.

Als ich aufwache, schmerzt die Kanüle am Handgelenk. Ich hänge an der Infusionsflasche. In stoischem Gleichmut gibt sie Tropfen um Tropfen an den Plastikschlauch weiter. Wie eine geduldige Mutter. Ich lebe.

Als ich wieder aufwache, ist ein Gesicht über mir. Es ist Roja.

Sie stellt einen Strauß Palmkätzchen auf den Nachttisch, setzt sich neben mich, hält meine Hand und schweigt. Als sie geht, bleibt sie an der Tür stehen. Sie lächelt und winkt mir zu.

Ich sage „danke“.


Durchs offene Fenster flutet die Vorfrühlingssonne direkt auf mein Bett. Draußen zwitschern die Vögel. Es sind die vom Süden zurückgekehrten. Ich erkenne sie an ihrer Stimme seit meinen Kindertagen.

Vom Gang her duftet der Kaffee. Die Schwester kommt mit dem Frühstückstablett.

Und jetzt denken wir nicht mehr und lassen`s uns schmecken!“ sagt sie und strahlt mich an.

So trinke ich den Kaffee und wieder trinke ich ihn wie ein göttliches Geschenk.

Schluck für Schluck trinke ich das pure Leben.

Es riecht nach Neubeginn.

Nach und nach erinnere ich mich.

Ein offenes Kuvert lag herum, ich las den Brief, geschrieben an Rüdiger von einer ehemaligen Freundin. Sie hatten sich also getroffen.

Meine Welt war die Welt mit Rüdiger. Nun war sie für mich nicht mehr bewohnbar. Ich hatte darin keine Bleibe mehr.

Rüdiger war inzwischen ausgezogen.

Eine Zeitlang irrte ich in der Stadt herum. Es regnete. Dann kaufte ich in zwei Apotheken jeweils eine Schachtel Schlaftabletten. Auf dem Weg zur Wohnung begegnete mir Kuno, Mathematikstudent und wie immer im langen, grauen Soldatenmantel. Kuno lernte ich in der „Tangente“ kennen.

Du kannst dein ganzes Leben mathematisch vorausberechnen“, sagte er. Er hatte nie Interesse am Tanzen, kam nur in die „Tangente“ zum Diskutieren.

Siehst heut aber komisch aus, Dir geht`s nicht gut, komm doch mit in mein Zimmer!“, rief mir Kuno nach, als ich schon an ihm vorbeigegangen war.

Später war ich mit meiner Puppe im Arm schon eingeschlafen, als Iris klingelte.

Ich hab einfach diese Ahnungen, weißt du. Das ist so, seitdem ich meditiere und seitdem ich den Maharischi Mahesch Yogi gesehen habe, weißt du doch, damals an der Uni“, sagte Iris bei ihrem Besuch im Krankenhaus. Sie brauche weder Gras noch LSD noch Heroin und schon gar nicht den Trip nach Katmandu.

Ich wusste es: Iris hat das Studium abgebrochen, sitzt auf ihrem harten, weißen Küchenstuhl mitten im unmöblierten, gardinenlosen Wohnzimmer und meditiert.

Wir haben dich gleich ins Krankenhaus gebracht. Ich schlage vor, du lässt dich in die Meditation einweisen. Es kostet zweihundert Mark. Bring ein sauberes Taschentuch und ein paar frische Blumen mit in die Wohnung . Die werd ich dir genau beschreiben. Dort bekommst du dein Mantra.“


Ich muss überleben – ohne Rüdiger.

Ich brauche eine Krücke, einen Strohhalm.

Düstere Symbolik. Mein Gang ist beschwingt und leicht. Es ist der Gang der Mutter.

Sie ist in meinen Bewegungen, in meiner Gestik.

Mein Körper ist unversehrt. Ich bedanke mich bei ihm und beschließe, mich um ihn zu kümmern.

Von der Wand reiße ich meinen „Strohhalm“, werfe ihn in den Papierkorb. Es ist die aus Thomas Mann, Der Erwählte, abgeschriebene Textstelle. Darin ist der spätere Gregorius „nicht viel größer als ein Igel“, ist in Jahren der Einsiedelei zusammengeschrumpft auf ein moosähnliches Etwas, das sich tagaus, tagein zur Wasserquelle schleppt, um zu überleben.

Ich brauche keine Krücke, keinen Strohhalm, ich brauche Flügel.

Vielleicht doch das Mantra?

Wenngleich ich Iris für bescheuert halte, gehe ich nun doch mit meinen zweihundert Mark, meinem Taschentuch und ein paar Blumen zu jenem Biologiestudenten, der bei einem indischen Guru gelernt haben soll.

Der lässt mich erst mal warten. Die Haustür hat sich nach dem Klingeln geöffnet, ich gehe die Treppe hoch, die Wohnungstür steht offen, ich betrete zögernd den Gang, bleibe stehen und warte mit meinem Blumensträußchen und meinen zweihundert Mark in der Hand.

Dann öffnet sich eine andere Tür, der Biologiestudent windet sich gekünstelt umständlich hindurch, kommt mir mit betonter Schlaksigkeit entgegen und nimmt mir Geld und Blumen ab. Dann lächelt er mit in die Ferne gerichtetem Blick und führt mich in ein kleines Zimmer. Es riecht nach fremden Kräutern. In der Ecke ist ein Altar aufgebaut. Dort thront His Divinity zwischen bunt- und goldglitzerndem Flitterzeug. „Das ist der Lehrer von Maharischi Mahesch Yogi, der große Meister, leider verstorben“, sagt der Biologiestudent und legt meine Blumen zu seinen Füßen nieder.

Er führt mich zu meinem Sitzplatz, einem weichen Hocker aus rotem Samt. Dann zündet er Räucherstäbchen an.

Eine duftende Wolke lullt mich ein, meine Gedanken werden träge, lösen sich schließlich auf. In einer Art Wachkoma höre ich ein Gebet in fremder Sprache. Er betet zu His Divinity, verbeugt sich in Richtung Altar. „Du bist nur noch im reinen Sein. So nimm von mir das Mantra. Gib es niemals an andere weiter. Das ist dir verboten“, höre ich im Halbschlaf. „Sprich mir das Mantra nach.“

Der hat dich glatt verarscht“, sagt Roja. Er braucht die Kohle für sein Studium in Amerika. Ich hab mal einen beknackten Vortrag von ihm gehört. Wie lang warst du bekifft?“

Sogleich verrate ich Roja mein Mantra, denn es soll keine Macht über mich bekommen. Stattdessen erfinde ich meine eigene Meditation.

Ich setze mich auf die Liegecouch, lege bequem die Beine hoch, lehne meinen Rücken aufrecht gegen die harte Wand und vertraue ihrem ganz und gar spartanischen Schutz. Der gewährt mir das freie, ungezügelte Nachdenken. So wird die Wand täglich meine Zuflucht.

Meine Gedanken sortieren sich. Ich muss etwas tun und sei es auch das Falsche.


Abends gehe ich in die Tangente, das erste Mal allein. An der Theke sitzt einer ohne Bart mit Messerhaarschnitt und Jackett, hebt sich ab von all den Langhaarigen, den Kraushaarigen im Afro- oder Rasta-Look, von den Karl-Marx-, Ho-Chi-Minh- und Jesus-Bärten.

Ich gehe zur Tanzfläche.

Die Band spielt und singt Bob Marley, „Get up, stand up for your right…”,

dann folgt Scott McKenzie, “If you go to San Francisco, be sure to wear some flowers in your hair…” Alle wiegen sich, einige in der Erinnerung an Woodstock.


Ich heiße Jörg und arbeite als Pilot am Flughafen von Fiumicino, Bodenpersonal.“

Und ich dachte, Du arbeitest als Dressman“, sage ich zu ihm und nehme einen Schluck Cola.

Jörg bestellt Sekt für uns .“Du solltest mich bald in Rom besuchen“, prostet er mir zu.


Die Villa ist ein altes, baufälliges Haus im Stil der Renaissance. Das einst lebensfrohe Ocker ist verwittert. Über die sonnenwarme Terrasse wuchern Rosen, Oleander und Yasmin.

In diesem Augenblick entsteht schon Erinnerung.

Es ist der Frühling in Rom und es ist diese Stadt, die dabei ist, sich an mich zu verschwenden.


Jörg ist früh aufgestanden und zum Flughafen gefahren. „Noch nie hab ich eine Frau so geliebt wie dich“, sagt Jörg an der Haustür, „du bist so wunderschön!“

Ich lächle. Vielleicht ist es ein starres Puppenlächeln.

Seitdem ich hier bin, fühle ich mich eher hässlich. In jeder Sekunde mit Jörg bin ich gehemmt und nicht locker. Der Grund sind meine Pickel. Diese wiederum sind das böse Werk der Pille. Ich nehme sie seit meiner Abreise. Zwei Tage danach waren es erst zwei, jetzt sind es schon fünf Pickel. Ich nehme mir vor: sobald ich zu Hause bin, werfe ich die Pille in den Mülleimer.


Langsam habe ich Lust auf einen Frühstücks-Espresso.

Jörgs Kühlschrank ist gähnend leer, als wäre er eben gekauft worden. Einen Topf kann ich auch nicht finden. Mir kommt der Gedanke, dass Jörgs Interesse an mir nicht so weit reichen dürfte, dass er sich für meine Pickel interessiert.

Ich gehe nun Einkaufen, mache mir dann den Espresso und nehme mir vor, höchstens zwei Tage noch zu bleiben und meine Rolle mit Charme zu Ende zu bringen, sie einfach abzuarbeiten.


Dann schlüpfe ich in mein hellgrünes Minikleid, stecke Blumenclips ans Ohr und den Stadtplan in den Rucksack, setze die Sonnenbrille auf und nehme den Bus zur Innenstadt.

Entlang der Spanischen Treppe sitzen die Hippies, einige tragen Stirnbänder.

Hippies sitzen am Fontana di Trevi, sie singen zur Gitarre, wechseln zwischen Folk, Soul und Blues.

Steppenwolf. Born to be wild.

Ich drehe mich mit dem Rücken zum Brunnen, werfe eine Münze über die Schulter. Das heißt: ich komme wieder.

Die Stadt mache ich zu Fuß, streune übers Forum Romanum, durch die Sixtinische Kapelle, über den Hof von Sankt Peter. Am Hauptportal betrachtet ein Padre amüsiert mein Minikleid. Ich lächle bittend und mache einen kleinen Knicks. Er lächelt zurück, reißt meine Eintrittskarte an und lässt mich ein.


Nach drei Tagen fahre ich zurück. Am Bahnhof fragt mich Jörg, ob ich ihm nicht hundert Mark leihen könne. Er sei knapp bei Kasse. „Deinen Kühlschrank hab ich gefüllt. Hast du das gesehen?“, frage ich ihn und gebe ihm das Geld. „Dafür bekommst du von mir auch was“, sagt er und gibt mir ein Parfum. „Ciao Bella! Ich komm dich bald besuchen!“

Als der Zug über den Großglockner fährt, ist es inzwischen Winter geworden. Es schneit.

Und als ich zu Hause ankomme, schneit es ebenso.

Es ist April.

Jörg meldet sich nie wieder.




Siebzigerjahre


Im April lag überall noch Schnee.

Nun schmilzt er unter der warmen Maisonne.

Über den Wiesen wogt im lauen Wind die Kirsch- und Obstbaumblüte.

Die Weinberge liegen im zarten Grün und auf dem Neckar fahren wieder Stocherkähne.

Der Frühling gebärdet sich im Überschwang, scheint sich zu verschwenden an die Jugend dieser Stadt. Immer wieder ist es ihre Jugend, zurückgekehrt mit lautem Zwitschern wie die Vögel aus dem Süden.

Ich streune durch die engen, sonnenwarmen Gassen, komme schließlich in einen Winkel an altem, von Weinlaub umranktem Gemäuer. Da ist die Kneipe von Marco. Oft habe ich hier mit Roja gesessen. Sie studiert nun in Paris. Neulich hat sie mir geschrieben, sie habe dort einen Franzosen kennengelernt und sei momentan total auf den abgefahren.

Einer vom Tischchen neben mir geht zur Musicbox und wählt Jannis Joplin.

Nun kommt Marco. Ich bestelle einen Chianti und während ich trinke, wechselt der Plattenspieler zu „Black magic woman“ von Carlos Santana.

Immer tiefer sinke ich in meine Schwermut, so tief und weich wie in einen Berg von grauem Flaum.

Ja, das ist meine Schicksalsstadt.

Sie hat mich an sich genommen, sie hat mich von sich gestoßen.

Nun sollte ich gehen.

Und alle, die ihr um mich sitzt an euren Tischchen und euch so angenommen fühlt, wird diese Stadt wieder von sich stoßen.

Auf meinem Heimweg gehe ich durch den Botanischen Garten. Hier hat mein Onkel als Gärtnerlehrling gearbeitet, bevor er als junger Soldat bei Stalingrad den Tod gefunden hat.

Was er mitgebracht hat aus meiner Schicksalsstadt, das war kein Hochschulexamen. Es war die Bindung zu den Pflanzen und eine Mappe voller schöner, selbst gemalter Bilder. Sie sind nicht mehr vorhanden. Aber ich habe sie nicht vergessen.





Topfpflanze



Ich bin Du hast

Topfpflanze Erde

meine Wurzeln so hast du

hungern doch auch

auf dem Grund stets

des Topfes deinen Grund


 

ich bin

transportierbar

ich bin

pflegeleicht

funktional

bis in die Blüte


 

Man trägt jetzt Maxi. Der Mini sei allmählich out, lese ich beim Zahnarzt in der „Petra“.

Ich kaufe mir einen langen, schwarzen, weich fließenden Rock. Ab den Waden ist er zunehmend ausgestellt. Dazu trage ich schwarze Großmutter-Schnürstiefelchen mit Haken und einen eng anliegenden, grünen Rollkragenpulli mit Rippenstrickmuster.

So gehe ich zum Scheidungstermin. Rüdiger soll mich so hübsch finden, dass er bereut.

Die Reue soll ihn unendlich quälen, umso mehr, als es jetzt für ihn kein Zurück mehr gibt. Rüdiger verteidigt sich selbst als angehender Jurist. Ich habe das Formular, das er mir vorgelegt hat, unterschrieben, habe mich einverstanden erklärt mit Konventionalscheidung und Unterhaltsverzichtserklärung.

Vor der Verkündigung des Urteils fordert uns der Richter auf, uns vom Platz zu erheben.

Mir kommt plötzlich der Fritz Teufel in den Sinn. Vor noch nicht langer Zeit saßen die Kommunarden auf der Anklagebank. Die Gründe kannte ich vom Hörensagen. Eines Tages hatte einer von ihnen auf den Richtertisch geschissen, die Groupies hatten geschlossen bei einer richterlichen Vernehmung ihre Brüste entblößt. Bei den Demos trugen ihre Anhänger das Transparent: „Unter den Talaren der Muff von tausend Jahren“.

Nicht, dass ich mir jemals gewünscht hätte, eine Groupie zu sein. Aber in diesem Augenblick erinnere ich mich daran, dass Fritz Teufel, als er aufgefordert wurde, aufzustehen, zum Richter sagte: „Wenn`s der Wahrheitsfindung dient“. Also bleibe ich stur sitzen, während Rüdiger schon aufgestanden ist. Ich schaue zwanghaft auf seinen Nacken, der sich zu versteifen beginnt wie in früheren Zeiten, wenn Rüdiger mir gegenüber Recht behalten wollte. Ab heute werde ich mir nie wieder diesen Nacken antun müssen.

Bitte, stehen Sie doch auf!“, sagt mir mein Anwalt leise ins Ohr. Also erhebe ich mich, stelle mich neben mich als ein neues, ganz reales und völlig abgespaltenes Wesen, bereit zum Abflug.

So höre ich das Scheidungsurteil nicht als Urteil, sondern als frohe Botschaft.

Dann laufe ich aus dem Gerichtsgebäude. Unten, am Fuß des Hügels, erwartet mich Horst mit seinem rostigen, lindgrünen VW.

Horst wartet jeden Tag auf mich. So war es für mich auch nicht mehr möglich, Herbert zu treffen, Herbert, den Physiker aus Bayern, groß, gutaussehend. Herbert ist der Typ „normannischer Kleiderschrank“, Horst der „Südfranzose“.

Ich komme aus dem Kleinbürgertum, damit du das auch gleich weißt“, sagte Herbert, „außerdem habe ich massive sexuelle Störungen im Umgang mit Frauen. Meine Freundin studiert in Paris, zu weit weg für mich.“

Zum letzten, mit Herbert vereinbarten Rendezvous bin ich also nicht mehr gegangen. Horst stand schon vor dem Haus mit seinem lindgrünen, rostigen VW.

Wir gehen zusammen ins „Zum-Zum“. Langsam gibt es überall diese Art von Schnellgaststätten. Man sitzt an der Wand entlang auf einer Holzbank und an einem Holztischchen. Wir essen eine Currywurst mit Pommes frites und Ketchup. Horst raucht seine „Gauloise“, ich rauche meine „Kim“. Sie ist schlanker und länger als die anderen Marken und hat ein Bändchen in Hellblau und Orange am unteren Ende des Filters.

Bei Horst fühle ich mich geborgen. Wir teilen die seltsam ambivalente, süddeutsche Identität: die Lust am Reisen, die Bodenständigkeit und die Liebe zum Dialekt ebenso wie die Liebe zur Hochsprache. Wir diskutieren politisch, ohne uns zu streiten. Der Faschismus ist unser zentrales Thema, der Rassismus im Besonderen und seine Vorgeschichte.

Beide sind wir geborgen im Arm unserer politischen Mutter,

geborgen im Zeitgeist von Achtundsechzig.



 

Brüche mit Präpositionen



Neues bricht ein

Altes bricht zusammen

Ich breche mit...

Ich breche ab

Ich breche aus

Ich breche auf





Die Mauer




Sieh doch

die Mauer

graues Wesen

alt wie die Welt

aus einem Spalt

wächst

grüner Efeu

die Mauer hat

geboren

ging lange schwanger

mit dem

Geheimnis

ganz schweigender Stein

sehnt sich

nach dem Augenblick

als der Wind sie küsste

zurück blieb

ein Samenkorn

das wuchs



Blut



In einem Buch lese ich:

Die gebündelte matriarchale Wandlungsenergie offenbart sich im Mysterium des Blutes.

Ich neige nicht zur Verinnerlichung von Matriarchatstheorien.

Noch nie habe ich Gelesenes total verinnerlicht.

Mysterien machen mich lediglich neugierig.


Hier geht es um ein Stück meiner eigenen Geschichte, um ein Stück Lebensplanung, um Arztpraxen, um die schwäbische Kehrwoche und auch um die Launenhaftigkeit des Blutes, die meine Tage gelingen ließ oder sie verdunkelte in Zeiten der Angst und des bangen Wartens.


Das Blut zeigt sich auf einem Stück Zeitungspapier. Mit Herzklopfen lasse ich es ins Plumpsclo hinunterflattern. Ich bin nun vierzehn und endlich eine richtige Frau.

Morgen werde ich es meinen Freundinnen ins Ohr sagen, die „es“ schon haben. Nur – sie werden es weitersagen und die Buben werden hinter mir her tuscheln und Witze machen.

Aus Mutters Nachtkästchen hole ich heimlich eine Stoffbinde. Weil ich den dazugehörigen rosa Gummigürtel nicht finden kann, lege ich die Binde lose in meine Unterhose. Abends schubse ich das verblutete Ding unter meinen Kleiderschrank. Nach ungefähr einer Woche packt mich der Ordnungssinn. Ich hole einen Besenstiel und schlage mit ihm unter dem Schrank nach den halb steif gewordenen Binden. Das muss sehr schnell geschehen wie bei der Mäusejagd. Ich habe Glück. Niemand sieht es, wie ich auf meinem Entsorgungsgang zum Plumpsclo schleiche.

Einmal sitzt die Großmutter in der Küche. Ich hüpfe ihr übermütig entgegen. Die Binde rutscht aus meiner Unterhose und liegt auf dem Küchenboden. Nie wieder in meinem Leben werde ich mich so sehr schämen wie in diesem Augenblick und nie wieder werde ich der Großmutter in die Augen sehen können.

Doch Großmutter sagt wie beiläufig, da sei was runtergefallen. Blitzschnell schnappe ich nach dem Schandfleck und stecke ihn in meine Schürzentasche .Großmutter dreht unbekümmert den Kopf zum Fenster und plant - nachdenklich mit sich selbst redend – den weiteren Ablauf ihres Tages.


Ich bin Anfang zwanzig. Meine Periode lässt wieder auf sich warten. Nur diesmal fühle ich mich nicht unwohl, dick und aufgebläht. Und ich habe keinen einzigen Pickel. Der Arzt überreicht mir den Froschtest mit dem Vermerk „positiv“.

Das Kind darf ich nicht behalten. Es geht ab mit viel Blut und ist nur zwei Monate alt geworden.


Mit H. warte ich auf unser erstes Kind. Der Mädchenname fliegt mir zu auf dem Montmartre,

aus der Tiefe eines Hinterhofes. „Nadja!“ ruft eine Frau ihr kleines Mädchen. Nachts kriechen Wanzen aus dem dunkelroten Plüsch des Bettes und beißen uns blutende Pusteln unter die Arme.

Der Froschtest meldet „positiv“.


Im zweiten Monat beginnt die Schmierblutung. So heißt das Schreckgespenst, das als braunrote Schmiere den Abort ankündigt. Ist es nicht zu sehen, dann sitzt es in Lauerstellung im Dunkel des Bauches.

Nach dreiwöchigem Krankenhausaufenthalt mit Bettruhe und Valium sagt der Arzt zu mir:

Alles normal!“

Dann wieder Schmierblutung und Arztbesuch.

Ich habe Sie zur Ausschabung angemeldet. Gehen Sie gleich rüber in die Klinik!“

Nein, ich gehe nicht! Allerhöchstens gehe ich nach Hause!“ sagt mein Zweikörper und er bleibt entschlossen auf dem Stuhl sitzen. Der Arzt schweigt, lächelt sorglos, macht eine Drehung hin zu den Karteikarten. „Moment mal, es gibt noch eine Frau mit Ihrem Namen. Ich habe Sie verwechselt und leider in der Klinik mit Ihrem Namen angemeldet.“

Über mir ist der blaue Himmel.

Ich setze an zum Flug.

Ich fliege nach Hause.

Im September kommt Nadja zur Welt.


Nach zwei Jahren bin ich wieder schwanger. H. und ich wünschen uns ein zweites Kind.

Aus einem dicken Namensbuch wähle ich den Namen Melanie aus, sollte es ein Mädchen werden.

Wir leben zu dritt in einer Mietwohnung und vernachlässigen die Kehrwoche. Das bedeutet: im Winter haben wir auch keine Lust, Schnee zu schippen. Nur so schwingen wir im Einklang mit dem Zeitgeist. Seit Achtundsechzig hat man/frau Sinnvolleres zu denken als an die schwäbische Kehrwoche und ans Schneeschippen. Wir wir planen die eigene Familie, wir verändern die Gesellschaft, wir verändern Basis und Überbau.

Und die Kehrwoche ist ein widerwärtiger Bestandteil der repressiven Strategien des Überbaus. Derlei nutzlose Tätigkeiten sollen das Volk davon abhalten, sich politisch zu engagieren.

Der Hausmeister klingelt an der Wohnungstür. H. sagt, er habe die Kehrwoche sehr wohl gemacht. „Nein, Sie haben die Schippe einmal vor sich hergeschoben. So ist der freie Weg nur 40 cm breit. Vorgeschrieben sind 70 cm!“, sagt der Hausmeister.

Mit Ihnen diskutiere ich nicht! Schon gar nicht über Ihre mickrige Kehrwoche!“ schreit H.

Drei Wochen lang habe ich im Krankenhaus gelegen wegen Abortgefahr. Nun fühle ich mich erholt und putzmunter. So stelle ich mich solidarisch neben H. und leiste mir meine heftige Aufregung.

Dann spüre ich in meinem Bauch das altbekannte Rührgefühl. Das Gespenst ist dabei, seine Lauerstellung zu verlassen. Es kriecht in dünnen, roten Fäden meine Schenkel entlang.


Ich liege wieder im Krankenbett. Unter meinem Po breitet sich langsam ein großer, nasser Fleck aus. Die Schwestern schnuppern daran. Todsicher sei es das Fruchtwasser.

Tja, wir müssen ausschaben“, sagt der Professor, „bitte, kommen Sie gleich morgen früh, zehn Uhr.“ In dieser Nacht liege ich wach und reglos auf dem Rücken. Die Schwester kommt zweimal mit der Bettschüssel. „Morgen haben Sie`s hinter sich.“ Mich ärgert die nicht fundierte Mitleidsbekundung. Mich ärgert auch die Form der Stereotype.

Dann liege ich wieder reglos, atme ruhig, bleibe stumm und bin ganz Zweikörper.

Der Zweikörper übernimmt das Kommando.

Morgens kommt die Schwester und führt mich zur Ausschabung.

Ein Wunder ist geschehen!“ schmunzelt der Professor, „Sie können nach Hause gehen.“

Im August kommt Melanie zur Welt.


Wir sind umgezogen. Nadja ist sechs Wochen alt.

In der neuen Wohnung gibt es Platz für eine Waschmaschine. Bisher habe ich in der Kochnische gewaschen. Die Stoffwindeln haben auf dem Herd im alten Topf vor sich hingeköchelt bis sie sauber waren. Dann habe ich sie in der Duschwanne durchgespült und anschließend im Gemeinschaftstrockenraum aufgehängt.

Zum Glück gibt es seit kurzem als Einlage fürs Grobe die schmale Wegwerfwindel. Sie ist aus Zellstoff und ähnelt der Damenbinde Camelia, die nicht mehr aus waschbarem, weißem Strick ist. Die modernste Ausführung hat einen Klebestreifen, der auf dem Slip haftet. Meine zum Teil ausgeleierten Bindengürtel habe ich endlich in den Mülleimer geworfen.

Nadjas Gummihöschen, die über der Stoffwindel schließen sollen, muss ich von Hand auswaschen, denn die Waschmaschine entlässt sie brettsteif.


Der Tennisverein hat uns eingeladen.

Bei denen geht`s doch bloß um eines: Wer gewinnt, wer hat verloren? Und dann der Starkult! Wir kennen die doch gar nicht. Da musst du mitreden können. Das Ganze eine einzige Vereinshuberei!“, sagt Horst.

Wir entschließen uns für den Tischtennisverein.

Hier ist uns das Gemeinschaftsduschen zu repressiv. Während wir den Ball hin und herschlagen, einigen wir uns darauf, dass diese verordnete Duscherei nicht als Duscherei an sich repressiv sei, sondern eben weil man sie blind befolgen soll. „Die Gaskammern lassen grüßen“, sagt Horst.

Zumindest stempelt uns das Ritual zu Außenseitern, wenn wir nicht mitduschen“, sage ich , während ich den Ball vom Boden hole.

Mit dem Vorwand, mein Haar wäre beim Duschen zu arg verdampft worden, setze ich mich zu den nackten Frauen, gespielt schuldbewusst. Ich fühle mich in meinen Kleidern wie ein lebender Schandfleck.

Was ist der Sinn dieser Nacktheit um mich herum? Vielleicht liegt er allein im Zelebrieren der Nacktheit als einem Gemeinschaftsritual. Ist die Banalität des Gesprächstoffes deshalb zwangsläufig? Achtundsechzig hat uns gelehrt, es sei in hohem Maße unpolitisch, elitär über andere zu denken. Man berücksichtige zuerst die Verhältnisse, die Situationen.

Bei Karl Marx steht: Das Sein prägt das Bewusstsein.

Laut genug klingt uns in den Ohren nach: „Ihr elitäres Pack!“ Das haben uns die am Straßenrand stehenden Bürger hinterhergeschrien, als wir gegen Notstandsgesetze und Vietnamkrieg demonstrierten.

Die Frau des Vorsitzenden gibt als Obernackte die Themen vor. Sie ist die Gewichtigste von allen, sitzt füllig auf der Bank wie eine archaische Stammesmutter.

Gespräche und Nacktheit scheinen allmählich ineinander überzugehen und bedrohlich anzuwachsen zu einem Riesenklumpen Mief, der auf mich zurückt und mich zu ersticken droht.

Später sitzen wir in der Pizzeria.

An unserem Tisch ist Politik angesagt. Der Vorsitzende ruft vom Nebentisch zu uns herüber: „In unserem Verein wird nicht politisch diskutiert! Also haltet euch dran!“

Das wär´s dann gewesen“, sagt Horst entmutigt auf dem Heimweg.

Hab schon wieder eine Gruppe für uns“, sage ich noch im Nachdenken. Dann singe ich es mehr als ich es sage: „Ich gehe zu den Jusos!“


Habt Ihr die papers dabei über die Stamokaptheorie?“ Niemand hat sie dabei.

Wir wollten doch drüber diskutieren“, sagt Thomas.

Was der Johano Strasser da verbraten hat, kannst du bei Lenin nachlesen.“ Manne sagt es grinsend und mehr in sich hinein. Er zieht ein Buch aus seiner Plastiktüte. „Hier! Band zwei, Kapitel sieben. Der Imperialismus als besonderes Stadium des Kapitalismus. Marx konnte - wer bezweifelt das! - die heutige Entwicklung nicht absehen.

Also hört einfach zu!

Lenin nennt das Monopol den direkten Gegensatz zur freien Konkurrenz. Und wörtlich sagt er hier: Die freie Konkurrenz hat das Monopol erschaffen, indem sie die Großproduktion schuf, den Kleinbetrieb verdrängte, die großen Betriebe durch noch größere ersetzte, die Konzentration der Produktion und des Kapitals so weit trieb, dass daraus das Monopol entstand, nämlich Kartelle, Syndikate, Trusts und das mit ihnen verschmelzende Kapital eines Dutzends von Banken, die mit Milliarden schalten und walten.“

Also sind wir jetzt ein Debattierclub? Dann gehen wir gleich zur DKP!“, mault Thomas.

Da bin ich grad dabei“, lacht Manne. Ihr Godesbergler hinkt doch allem hinterher.“

Manne kommt vom Evangelischen Stift, hat sein Theologiestudium abgebrochen.

Viele sind bei uns abgehauen. Inzwischen ist das Stift die Kaderschmiede der DKP“, sagt Manne zu mir hin. „Was machst du jetzt?“ frage ich. „Politologie oder Soziologie, Heidelberg, Berlin oder so.“

Wenn wir beim Thema Debattierclub sind“, sage ich in die Runde, „dann geht doch mal öfters rein in die Mutterpartei. Nichts als Satzungsdiskussionen und Kommunalpolitik!

Und wer von euch findet es korrekt, dass sich der Genosse vom Gemeinderat mit Doktor Brendel anreden lässt?“ Das sei abartig, höre ich heraus aus dem allgemeinen Grummeln.

Da müsse man sich von der Juso-Seite aus beschweren. Ob das nicht ich machen könne.

TOP 2“, sagt Bernd. „Wer macht den Juso-Pressesprecher?“ Und zu mir hin: „Du hast Zeit, du bist Hausfrau!“. „Deine sexistische Begründung baut ungeheuer auf! Stell dir vor, ich hab ein zweijähriges Mädchen zu Hause. Der Tag gehört ihm und nicht der Partei. Dann – solltet ihr das noch nicht gemerkt haben – ich bin im achten Monat schwanger.

Den Artikel kannst du vielleicht abends schreiben“, meint Bernd. Also nehme ich an.

Klaus fragt, wer zur Berufsverbotsdemo gehe. „Der Willy Brandt war doch selbst mal ein Radikaler. Warum um Himmels willen steht er dann hinter dem Radikalenerlass? Die DKP einerseits zulassen und andererseits Berufsverbote aussprechen an Leute im öffentlichen Dienst, was soll der Scheiß! Ich kenne viele Jusos, die deswegen aus der Partei austreten.

Also die gibt es auch noch und nicht nur Feiglinge und Karrieristen, die den Marsch durch die Institutionen planen.“

Noch mehr Austritte gibt`s durch den Vietnamkrieg. Demos gibt es weltweit. Und der Willy kriegt dazu das Maul nicht auf. Wir von der Basis müssen handeln“, seufzt Manne.

Dann willst du dich mit der RAF zusammentun oder mit den autonomen Schlägertrupps, die bewusst unsere Demos versauen?“ fragt ihn Thomas. „Das ist doch nicht dein Ernst, du Arsch!“ brüllt Manne. „Wir müssen Bündnisse suchen, Frieden schaffen ohne Waffen, kapiert?“ „Yes, make love not war! Die DKP ist unter die Hippies gegangen“, murmelt Thomas gequält vor sich hin.

Beim Hinausgehen aus dem Versammlungsraum fragt mich Manne, ob ich zum DKP-Seminar mitkommen möchte. „Da ist die Mehrwerttheorie dran. Aber bald gibt`s auch das Pressefest mit Hannes Wader, Degenhardt, Süverkrüpp und klasse Rockbands.

Manne drückt mir zwei zusammengerollte Poster in die Hand. „Schenk ich dir.“

Das eine ist ein Che Guevara-Poster, auf dem anderen sind drei Köpfe hintereinander im Profil abgebildet: Engels, Marx, Lenin. Darunter steht geschrieben: „Alle reden vom Wetter.

Wir nicht.“


Ich habe noch nicht nachgedacht über das Wunder. Ich habe es nur gefühlt.

Es hat mich sprachlos gemacht. Meine Antwort darauf ist das Staunen.

Ich habe zwei Töchter zur Welt gebracht, Nadja im September, Melanie im August.

Nie ist mir Natur so nah gewesen, so mütterlich, so schwesterlich, mit warmer Sommerluft, mit dem Duft der Obstgärten und der Kornfelder.

So schwinge ich in absolutem Einklang in der Freude mit Horst, mit Eltern, Schwester, Bruder. Sie sind Glieder in der Kette hin zu meinen Wundern.

Ich sitze im Krankenhaus beim Frühstückskaffee, Sonnenstrahlen hüpfen ausgelassen über meine Bettdecke. Zu meinem Bruder sage ich am Telefon: „Ich bin Kleopatra nach dem Bade“.


Dann mache ich mir philosophische Gedanken.

Was geschehen ist vor der Geburt der Mädchen, ist aufgehoben, hat seinen Platz in der Kette der Kausalität, der Millionen von Ereignissen, der guten und der schlechten.

Hätte Rüdiger mich nicht verlassen oder wäre er zurückgekommen, so hätte ich jetzt nicht meine Kinder.

Ich denke nach über das Scheitern. Immer gibt es doch Rätsel auf. Die griechische Tragödie kündet davon und auch das Alte und das Neue Testament.

Die Philosophen suchen ihre eigenen Erklärungen. Das Scheitern sei der Widerspruch an sich, das Gegenläufige zur These. Der Widerspruch als die Antithese. Und er hat viele Gesichter, ist nicht immer das Schlechte, das Böse an sich, ist die Entwicklungsstufe hin zur Synthese.

Bei Marx lese ich, auch die Gesellschaft entwickle sich in Widersprüchen. Aus dem Chaos, aus den Kriegen und Kämpfen entwickle sich die Antwort hin zum Guten, zur Synthese. Sie entwickle sich nur durch das Handeln. Der Mensch sei von Natur aus gut, sagt Marx im Sinne von Rousseau, nur die Verhältnisse machten ihn schlecht. Also seien sie zu ändern.

Marx hat nachgelesen bei Rousseau und bei Hegel. Sie alle haben nachgelesen bei Kant und bei Leibniz bis hin zu Sokrates.

Sokrates hat nichts aufgeschrieben. Er pflegte nur den mündlichen Dialog, die Rede und die Gegenrede auf dem Weg der Wahrheitssuche. Sein Schüler Platon hat es aufgeschrieben.

Ich frage mich: Gibt es den Dialog im Mikrokosmos?

Die Elementarteilchen, ja selbst Materie und Antimaterie, sie kommunizieren, tauschen ihre Botschaft aus, reagieren gegeneinander, miteinander.

Im „Faust“ lässt Goethe den Mephisto sagen: Ich bin der Geist, der stets verneint…“

Gott ist der Weltgeist, so auch bei Leibniz und bei Kant. Aristoteles nennt ihn den Logos. Aber warum lässt Gott das Leid zu?

Und Leibniz fügte noch hinzu: …in dieser besten aller Welten?

Ähnlich fragten schon die Epikuräer. Nur wollten sie beweisen im Zuge ihrer Gleichung, dass Gott nicht existiert. Dagegen meinten Leibniz und auch Kant, das Leid sei der Preis der gottgewollten, absoluten Freiheit. In diese Freiheit habe uns der Weltgeist entlassen mit seinem göttlichen Impuls. Das sei der Impuls zu verantwortlichem Handeln.

Spätere Philosophen nennen andere Impulse, darunter die Ästhetik. Sie ist nicht gut, nicht böse. Sie befasst sich mit dem Schönen und auch mit dem Hässlichen. So handelt sie mitunter gegen die Verantwortung, denn sie schreit nach absoluter Freiheit, schreit nach Freiheit in der Literatur, in der Kunst der Renaissance, des Expressionismus. Und wird niemals müde von diesem Schrei.

Braucht die Ästhetik die Verantwortung?


Ich stelle mich meinen Wundern.

Sie greifen sich Raum in meinem Alltag, in meinem Leben, in meiner Beziehung.

Ich stelle mich der Verantwortung.

Und ich kaufe Spielzeug aus Holz, auch Lego-Steine. Ich schneide Puppenhausteile zurecht aus Pappe. Die Außenwände beklebe ich mit DC-fix. Ich bastle einen Weihnachtskalender aus Jute und Filz, nähe Puppen aus weichem Stoff und sticke dunkle, staunende Knopfaugen in die knäuelrunden Köpfe. Darüber knüpfe ich Haarmähnen aus dunkelbrauner und rostroter Wolle zum Zöpfeflechten.

So sitzen sie und staunen und warten auf das Knuddeln und Betatschen.

Die Barbie-Puppe kommt uns nicht ins Haus! Nicht diese Plastik-Gliederstecken, nicht dieses Serienprodukt, nicht dieses falsche Frauenidol! Nicht diese Barbie mit der Botschaft: Werdet so wie ich, so spindeldürr, so löwenmähnig, so modisch und so up to date! Kauft meine Kleider, meine Perücken, meine Kosmetiksachen, kauft meinen Hausstand im Stil der Eigenheime, seriell gefertigt und mit Rasen, Pool und Hollywoodschaukel, mit Wohnwand und Gummibaum! Eltern, kauft den zeitunglesenden Can dazu, denn Barbie braucht auch einen Ehemann! Barbie liest keine Zeitung. Barbie als Serienzeichen. Damit ist man bei den anderen. Damit ist das Kind nicht mehr allein. Die Industrie hat die Angst vor dem Alleinsein entdeckt. Man kauft sich Heimat in der Masse mit der Marlboro, man kauft sich Heimat bei den Individualisten mit der Roth-Händle. Manchmal ist es auch die Gauloise. „Die Gauloise hast du geraucht“, sage ich zu Horst, „aber nur bis zur Geburt der Kinder.“

Wir mögen keine Comics. Wir mögen keinen Donald Duck.

Die Tiergesichter sind verzerrt, sind Schablonen bis hinein ins Obszöne. Dazu kommt die krächzende Geräuschkulisse.

Wir sehen Sesamstraße. Bert und Earnie machen Experimente. Es herrscht geheimnisvolle Stille. Sie gießen Wasser von einem knallbunten Becher in den anderen und es fließt und gluckst und plätschert. „Wasser“ sagt Bert fachkundig zu Earnie. Und Earnie staunt. Und wie Earnie staunt, so staunt auch Melanie. Nadja ist drei Jahre älter. Deshalb ist sie Bert und weiß auch längst: es ist Wasser.

Wir sehen die Sendung mit der Maus, die Augsburger Puppenkiste und die Mumins, lesen und hören Geschichten und Märchen aus aller Welt, blättern in Kunstmappen.

Wir gehen in den Supermarkt. Wenn wir wieder zu Hause sind, veranstalten wir das „Einkaufsessen“. Ich rufe es durchs Haus wie der Muezzin sein Gebet.

Wir geben den Wegen Namen. Im Wald steigen wir bergauf über Baumwurzeln. Das sind die Treppen der Zwerge.

Ich hole Nachbarskinder ins Haus. Mit ihnen feiern wir Kinderfeste.

Der Fernseher hat drei Programme. Vordrucke kommen mit der Post. Auf ihnen könnten wir zusätzlich Kanäle beantragen. Ich werfe das Zeug in den Papierkorb. Auch Horst soll nichts davon erfahren.

Die Medienkrake ist im Begriff, sich nach den Kindern auszustrecken.


Kann dies alles der Erziehungshimmel sein? Kann der Erziehungshimmel alles sein?

Wir brauchen Freunde“, sage ich zu Horst, „unsere Freizeit reduziert sich nur noch auf Familie. Familienbesuche an den Sonntagen, die ewiggleiche Themenschallplatte zu Kaffee und Kuchen, eure früheren Lehrerinnen und Lehrer? Eure Hausmusik? In meiner Familie gab es keine Hausmusik. Was soll die Frage, ob nicht auch Achtundsechzig Dreck am Stecken habe? Geschenkt! Ich weiß, du schlägst dich mutig. Nur du! Indessen geht Frau an die Arbeit, wir spülen das Kaffeegeschirr und die Kinder rennen uns zwischen die Füße. Ich steh im Regen.

Ich weiß wohl“, sagt Horst.






Fliegen



Kleine Fäuste

wie

Knospen

weich und weiß

und rot

fallen

vom grünen Uterus

Im Geäst

meiner Hände

öffnen sie sich

zum Fliegen



Ich suche angestrengt nach einer Heimat in der Gruppe. Ich suche sie auch für Horst.

Das Wort „strukturieren“ ist in Mode. Ich strukturiere meinen Tag. Er gehört der Familie, gehört den Kindern. Wenn ich für sie die Gutenacht-Geschichten gelesen oder die selbst gedichteten erzählt habe, mache ich mich an meine Bücher, Zeitungen und Periodica, darunter die Marxistischen Blätter, die Roten Blätter, die Blätter für deutsche und internationale Politik, die Deutsche Volkszeitung, die Frankfurter Rundschau und die regionale Zeitung.

Wenn du ein gutes Einschlafmittel brauchst, dann lies einfach die Parteizeitung“, sagt Rolf vom DKP-Vorstand der Ortsgruppe. „Weiter empfehle ich die Stalin-Biographie – alle paar Sätze liest du ‚frenetischer Beifall’ – selbst als Gehirnwäsche nicht intelligent genug.“

Es stimmt, wir vom Vorstand langweilen uns zu Tode mit der Parteizeitung. „Die schreiben alles ab vom Neuen Deutschland“, sagt Max.

Das abendliche Pensum schaffe ich nur mit einer Schachtel Zigaretten. Ich lese quer im Wettlauf mit der Zeit, mache mir Notizen auf Karteikarten, bereite mich auf das Referat vor: die Geschichte der italienischen KP.

Bin nun Mitglied der DKP und zuständig für die Bildung, wie es heißt, gehe regelmäßig zur Schulung nach Stuttgart-Sillenbuch ins Waldheim. Es ist ein traditionelles Haus der linken Stuttgarter Arbeiterbewegung. Andere nennen es das Clara-Zetkin-Haus.


Ich habe das starke Gefühl, dazuzugehören, nicht mehr am Rand zu stehen, am Zaun der Gesellschaft als irgendwie Außenseiterin, als eine, die nicht wirklich dazugehört, sich nicht einbringen kann, als eine Zwar-Aber im Bereich zwischen den gesellschaftlichen Schichten.

Mein Eintritt begann mit einem Seminar über die Mehrwerttheorie von Karl Marx, mit Geburtstagsfeiern der Genossen und Genossinnen, mit Feten, Rock-Bands und den Liedermachern Franz Josef Degenhardt, Hannes Wader und Konstantin Wecker, mit den Kabarettisten Dieter Süverkrüpp, Dietrich Kittner und Hans-Werner Hüsch, mit dem Heine-Rezitator Lutz Görner, mit den Schriftstellern Bernt Engelmann und Günter Wallraff, „Ihr da oben – wir da unten“, und vielen anderen, die es ebenso Wert wären, genannt zu werden. Sie alle schienen aufzutauchen aus einem utopischen Himmel, sie schenkten uns die Vision einer besseren, gerechteren Gesellschaft und das Gefühl von Zusammengehörigkeit.

Das Wort „Szene“ war geboren.

Wir haben Freunde, die ins Haus kommen, die klassenlose Gesellschaft auch als informelle Gruppe, Akademiker, blitzgescheite Arbeiter und Arbeiterinnen, Angestellte.

Ein Schimpfwort kursiert in der DKP: das „Lumpenproletariat“. Diese Leute, teils parteilos, sitzen im Naturfreunde-Haus mit am Tisch und machen schlüpfrige Witze. „Sprachlichen Sexismus“ nennen es die autonomen Frauengruppen.

Die Stimmen werden laut, überschreiten die Grenze des guten Stils, die Peinlichkeit wird unerträglich. Horst flüstere ich zu, „den Sexismus müssen wir uns nicht gefallen lassen“. Ich bin schon am Aufstehen. Er gibt mir einen Puff in die Seite. Wie Horst es betrachtet, weiß ich. Ein Lehrerkollege schimpft es „Proletkult“. Ich bleibe sitzen. Wir wollen die Tischgenossen nicht verletzen, nicht durch soziale Arroganz, indem wir den Tisch vorzeitig verlassen.


Vor allen Dingen bin ich eingetreten, um eine Gruppenfamilie zu haben, und auch wegen der vielen Feten. Was mir gefällt: Man favorisiert die Bündnispolitik mit den fortschrittlichen Gruppen der Gesellschaft, wie es heißt bei Robert Steigerwald, dem bundesrepublikanischen Theoretiker der DKP. Man habe als Partei die antimonopolistische Demokratie anzustreben und nicht die Revolution, diese sei das völlig falsche Konzept der Trotzkisten und der übrigen K-Gruppen, also seien sie unsere politischen Gegner. Dem Radikalen-Erlass, an dem der Willy Brandt mitgewirkt habe, müsse die DKP den demokratischen Widerstand bieten. Das Establishment wolle Angst schüren in der Bevölkerung, die psychologische Kriegführung einleiten, wie Franz- Joseph Strauß es bezeichne.


Wenn Robert seine Veranstaltungen macht, sitzen die Maoisten-Leninisten in den vorderen Reihen und stören die Diskussion mit Lenin-Zitaten oder Sprüchen aus der roten Mao-Bibel. “Warum seid ihr nicht im Stande, dies mal im historischen Zusammenhang zu sehen, ihr eifrigen Bibelforscher?!“, frotzelt Robert vom Rednerpult herunter. Die Ironie scheint beabsichtigt, sie polarisiert das Publikum. Dann ruft es aus dem Saal: „Habt ihr schon eine Fabrik von innen gesehen, ihr naiven Spontis? Die Revolution macht man nicht auf dem Reißbrett und schon gar nicht nach einem Achtstundentag. Da genießen wir mit Recht unseren Teil am Wohlstandskuchen!“ Die gegnerischen Parteisoldaten der Maoisten-Leninisten und des Kommunistischen Arbeiterbundes brechen in strategisches Gelächter aus: „Dann lasst euch getrost abspeisen mit diesem Almosen! Euch ist doch nicht zu helfen, ihr Revisionisten!“


Wir treffen uns im Club Manufaktur.

Armin, Mitglied der Jungdemokraten, sammelt Unterschriften. Armin ist Fabrikantensohn, hat jedoch der Firma seines Vaters den Rücken gekehrt und betreibt ein kleines Tee- und Gewürzlädchen. Heute geht es Armin darum, zwei Studenten vor dem Urteil der Vorstrafe zu retten. Sie sollen laut Anklage mitverantwortlich sein für die Formulierung „klammheimliche Freude“, so zu lesen in einer Ausgabe der Druckerei Fantasia. Dabei geht es um die Ermordung des Generalbundesanwalts Buback durch die RAF.

Dass du mir bloß nicht unterschreibst“, sagt Rolf mir über die Schulter. Die sind im Grund nur geil drauf, uns unter einer Decke mit der RAF zu sehen.“

Tom, Sportlehrer mit Politologiestudium und Trotzkist, steht betont lässig am Tresen, in seiner Hand eine Bierflasche. „Du bist ein absolut feiges Stück“, sagt er aufgebracht, als ich die Unterschrift verweigere, „jetzt habt ihr die Maske fallen lassen. Ist es das, was ihr unter Solidarität versteht? Wisst Ihr, was es heißt, wenn zwei nicht weiterstudieren können?“ Stefan schlägt zurück mit eigenen Waffen, seinen kleinen, blitzenden Augen, listig und gefährlich bis zur Verschlagenheit, die Augen eines russischen Bauern aus dem Gefolge Lenin’scher Bolschewiki. Geschmeidig seine Bierflasche schwenkend, geht er an uns vorbei, dreht sich kurz hin zu Tom und sagt lächelnd: „Parteidisziplin“.


Wir sitzen am Lagerfeuer, unsere Kinder tollen mit den Kindern der anderen über die Wiese, klettern auf Zäunen herum, spielen Verstecken in der Scheune. Sie wissen nicht, dass ihre Eltern unterschiedlichen K-Gruppen angehören. Franz rührt in seinem großen Gulaschkessel, pfeffert nach im Übermaß, und Mario von den Euros taucht seine Holunderblüten ungewaschen in die Teigschüssel, dann in einen Topf mit siedendheißem Fett.

Barde Franz Josef Degenhardt singt vom Band in die laue Nacht hinein: „Kommt an den Tisch unter Pflaumenbäumen, der Hammel ist gar überm Lauch…“ und die Ballade vom Bauernführer Jos Fritz mit dem Refrain: „…lasst nicht die roten Hähne flattern, ehe der Habicht schreit, vor der Zeit, vor der Zeit“. Und unheildrohende Habichtschreie begleiten seinen Gesang.

Einer stimmt zu fortgeschrittener, wein- und bierseliger Stunde das Lied an: „Auf auf zum Kampf, zum Kampf sind wir geboren…“ Nur ein paar kennen den Text auswendig, die anderen johlen mit.

Maoisten aus den Nachbarorten kommen mit Frauen und Kleinkindern an Franzens Gulaschkessel. „Was sagt denn euer Großer Vorsitzender dazu, wenn ihr zu uns zum Essen kommt?“, fragt Franz, „der wird sagen, wann macht ihr eigentlich eure Revolution? Doch nicht beim vielen Gulaschfressen!“


Das kann nicht wahr sein!“ Horst kramt in seiner über die Maßen vollen Männer-Handtasche und leert das Handschuhfach. „Ich hab die Autopapiere vergessen, so kommen wir nicht rüber!“ Wir stehen am Grenzübergang nach Ostberlin. Ein Polizist kommt ans heruntergekurbelte Fenster. „Nanu! Auf Ihrem Rücksitz liegt der ‚Spiegel’, den dürfen Sie gleich hier abgeben. „Wir haben ein ganz anderes Problem“, sage ich gespielt solidarisch. „Mein Mann hat die Auto-Papiere vergessen.“ Der Polizist verärgert: „Immerhin haben Sie Ihre beiden Kinder nicht vergessen! Ich muss Sie zurückschicken.“ Horst reagiert verärgert: „Jetzt rufen wir den Paul vom Bezirk an.“ Paul ist der Leiter des Bezirks Dresden. Ich bin als Kader eingeladen samt Ehemann und Kindern zu einem dreiwöchigen Urlaub auf einem ehemaligen Schloss. Ich habe angenommen, obwohl ich nicht weiß, womit ich diesen kostenlosen Urlaub verdient haben sollte. „Mit Gehirnwäsche können sie uns nicht kommen“, sagte Horst damals, „wir sollten es aber riskieren. So billig kommen wir nirgendwo hin.“

Ich hole mit zittrigen Fingern mein Parteibuch aus der Tasche. Nadja und Melanie streiten sich aus Langeweile auf den Rücksitzen. Ich steige aus und gehe zum Checkpoint.

Hier bitte, ich bin Kader aus der BRD. Hier ist die Adresse unseres Gastgebers, oder kann ich dort wohl selbst anrufen?“, frage ich in höflichem Befehlston. „Das machen wir schon“, sagt der Grenzbeamte und betätigt die Wählscheibe. Die Kollegen lächeln misstrauisch. Einer isst genüsslich sein Vesperbrot.

Paul ist am Telefon.

Geht alles in Ordnung, Ihr könnt rüber“, sagt der Grenzbeamte mit sächsischem Akzent.

Er geht mit mir zum Auto und sagt zu den Kindern hin, „na, ihr zwee Kessen!“

Ich brauch unbedingt ein Einlegevisum, Sie wissen, wie’s bei uns zugeht mit dem Radikalenerlass.“ „Was issn das?“, fragt der Grenzbeamte. „Ja, eben die Berufsverbote“, sagt Horst, „zwar bin ich parteiloser Lehrer, aber ein DDR-Urlaub ist für mich trotzdem nicht drin, wie Sie wissen.“ Der Beamte nickt kameradschaftlich. „Das regeln wir gleich.“

Hinter uns warten die Grenzübergänger. Die Autoschlange wird immer länger.

Der Beamte beugt sich durchs Autofenster, gibt Horst den Pass samt Einlegevisum, übersieht den ‚Spiegel’ auf dem Rücksitz. „Alles ‚roger’? fragt er, „wie ist denn das Wetter bei Euch im Süden?“

Horst erkundigt sich, wie er am besten nach Weimar weiterfahre. „Wir wollen auch zum KZ Buchenwald.“ Der Beamte geht zum Checkpoint, kommt gemächlich zurück und entfaltet eine Landkarte.

Dann gute Fahrt und macht’s gut!“ sagt er durchs Autofenster und tippt an seine Mütze.


Wir sind auf dem Ettersberg und fahren über den fast leeren, großen Parkplatz. Die ehemals weißen Markierungen der Boxen sind verblasst bis zur Unkenntlichkeit. Horst bringt das Auto irgendwo zum Halten. Ein Volkspolizist rennt herbei. „Sie fahrn bitte sofort aus der Box wieder raus und schdelln sich oorndlisch wieder rein!“

Vielleicht zeigen Sie mir mal, wo hier eine Box ist, Sie mickriger Typ!“, mault Horst zurück. Der Vopo: „Wenn Sie misch mickrisch nennen, dann geem Se mir sofort Ihrn Führerschein und gomm gleisch mit zu meim Chef!“ Er spielt mit der linken Hand an seiner Waffe, streckt die rechte nach dem Führerschein aus und schnippt mit den Fingern.

Erstens sehe ich hier auf dem Platz nur drei Autos. Zweitens bringen Sie mich auf der Stelle zu Ihrem Chef!“, sage ich in dem am Grenzübergang erprobten Tonfall. „Hier ist mein Parteibuch samt Adresse unserer Gastgeber. Wir sind eingeladen von Ihrem Dresdner Regierungsbezirk.“

Nu, dann Entschuldigung, war ja nischt bös gemeint“. Mit schuldbewusst hängendem Kopf latscht er über den Platz.

Nu dann entschuldige ich misch, war ja nischt bös gemeint.“ Er zog seinen Kopf schuldbewusst zwischen die Schultern und latschte ängstlich zwischen die Schultern und latschte


Wir fahren durch Obstbaumalleen auf kurvigen, holprigen Straßen hin zum Schloss. Es versteckt sich zwischen hohen Bäumen. Beim Näherkommen gibt es die Schamröte seiner Mauern frei.

Auf der weiträumigen Terrasse – sie grenzt an die Wiesen der Nachbar-LPG – sitzen die schon angereisten Genossen in kleinen Gruppen beisammen, lesen, diskutieren oder halten das Gesicht in die Nachmittagssonne. Zwischen den Stühlen spielen ihre Kinder Fange und Verstecken.

Paul beginnt mit der Begrüßung.

Ihr seid eingeladen, hier euren Urlaub zu machen. Früher war das Schloss im Besitz der Baronin, heute gehört es der Partei. Macht also euren Urlaub hier, esst und trinkt und lasst`s euch schmecken, aber macht mir nicht Urlaub vom Klassenkampf! Es gibt im Haus die Bibliothek, Vorträge und Gelegenheit zur Diskussion. Private Ausflüge haltet in Grenzen! Frühstück gibt`s um neun. Erscheint bitte pünktlich. Einer, der zu spät zum Frühstück kommt, kommt auch zu spät zur Revolution.“

Die meisten lachen artig.

Ich steh auf, wenn`s mir passt“, mault mir Horst ins Ohr.

Anja kommt vom Einkaufen. „Im Dorf gibt`s keinen Saft, nur Sirup. Den nehmen sie zum Verdünnen mit Wasser. Die Buben haben aber Durst! Was sollen sie jetzt trinken? Was machen die bloß mit den vielen Kirschen?!“ „Du siehst doch, die stehen bei uns auf dem Tisch. Jeden Tag Kirschsaft pur und abends Wein, was willst du mehr!“, frotzelt Horst.


Ein Kader der Bezirksleitung referiert über das Thema „die Agrarwirtschaft in der Deutschen Demokratischen Republik“ und rühmt die Größe der Rüben. Ich melde mich:

Könnte diese Größe nicht von der Überdüngung herrühren, da ihr mit dem Flugzeug düngt? Und ein Zuviel an Chemie schadet, wie ich meine, der Qualität.“ „Qualität und Ertrag, Genossin, sind außerordentlich und darauf kommt es doch an“, sagt der Referent. Er lächelt höflich. Es folgen langweilige Passagen über Plan-Soll und Planerfüllung.

Nächstes Thema mit neuem Referenten anderentags: „Das Wesen des Trotzkismus in unserer Zeit“.

Trotzki habe nicht im Entferntesten daran geglaubt, dass ein einzelnes Land im Stande sein könne, seine eigene, seiner wirtschaftlichen und politischen Situation angemessene Revolution zu machen. Bei den nationalen Befreiungsbewegungen komme es den Trotzkisten einzig und allein auf den bewaffneten Kampf, Aufstände und Bürgerkriege an. Somit verhinderten sie einen Zusammenschluss im Kampf gegen Imperialismus und Feudalismus. Auch in der BRD gehe es um das demokratische Bündnis gegen den Klassenfeind, hier im Besonderen gegen die Monopole, eben um das breite antimonopolistische Bündnis. Die 1968er-Revolten seien als antirevolutionäre und kleinbürgerliche Umtriebe anzusehen und nicht als Aktionen, die ernsthaft das Bündnis mit der Arbeiterklasse gesucht hätten. Ein Ableger davon sei die RAF gewesen, verstrickt in kleinbürgerlichen Nihilismus und anarchistische Disziplinlosigkeit.

Ich frage, wie die DDR zu dem Gerücht stehe, sie gewähre Personen aus der RAF Asyl im Fall eines Fluchtversuches. „Die Frage beantwortet sich von selbst. Du kennst unsere Haltung gegenüber kleinbürgerlichen Revoluzzern und Pseudokommunisten“.

So bleibt meine Frage unbeantwortet.

Im Nachbarort läuft ein Spielfilm über das Potsdamer Abkommen, wo Stalin von Truman erfährt, Amerika sei im Besitz der Atombombe. Der Film laufe erst abends, sagt uns der Filmvorführer. Abends hätten wir keine Zeit, wir seien als Delegierte aus der BRD zu einer Veranstaltung eingeladen, sage ich ihm und zeige ihm mein Parteibuch. Respektvoll geleitet er uns in den leeren Kinosaal und lässt den Film für uns laufen.


Auf der Rückfahrt nahe der Grenze Hof bleibt das Auto stehen. Wir schieben es von der Fahrbahn auf den Standstreifen. Horst macht sich zu Fuß in den nächsten Ort zur Autowerkstatt. Ich bleibe bei den Kindern. Ein Vopo-Auto kommt angefahren, die Streife der Volkspolizei. „Hier gönn Se uff gar keen Fall schtehnbleim!“ „Was sollen wir sonst machen, wenn der Motor kaputtgegangen ist? Mein Mann holt eben Hilfe“, maule ich gleichfalls unfreundlich zurück, „bisher sind wir jedenfalls nur über Schlaglöcher gefahren!“ „Das interessiert uns im Moment überhaupt nicht, Sie machen sich strafbar, denn Sie dürfen hier nicht halten!“, sagt ein anderer. „Toll, wenn man sich als Gast der Partei auch noch strafbar macht!“, meckere ich und halte ihnen mein Parteibuch unter die Nase. In dieser Sekunde werden aus Polizeirobotern kontaktfreudige Kumpel. Oder ist diese Kontaktfreudigkeit nur gespielt? Versteckt sich dahinter nicht die Angst, ich könnte mich über sie bei der Parteileitung beschweren? Zwei lehnen sich lässig gegen die Autotür, zünden sich eine Zigarette an, die anderen stützen sich rückwärts gegen die Motorhaube, die Füße weit von sich gespreizt. „Stimmt das eischentlisch bei euch mit den Berufsverboten?“ Ich habe Angst, mich aufs Glatteis zu begeben. Meinen Gedankenfluss blockiert ein Schlagbaum. Der besteht aus den fünf Buchstaben: STASI. „Warum fragt ihr mich? Glaubt ihr euren Medien nicht?“, frage ich zurück. „Woher gönn denn wir immer wissen, was stimmt und was nischt?!“ Die Vopos schauen wie pubertierende Jungen, verlegen, hilflos, zutraulich und zugleich misstrauisch. Ich versuche zu erklären, ärgere mich aber darüber, dass ich abrutsche ins Dozieren.

Offiziell ist es der Radikalenerlass, sprich Radikale im Öffentlichen Dienst, zum Beispiel Lehrer mit DKP-Mitgliedschaft. Ein paar von denen hat der Staat die Berufserlaubnis verweigert oder entzogen. Die DKP hat sich aber zum Grundgesetz bekannt. Deswegen ist sie auch zugelassen und vom Verfassungsgericht nicht für verfassungsfeindlich erklärt worden.“ Meine Erklärung scheint nicht anzukommen. Die Vopos verändern gelangweilt ihre Stellung, signalisieren Desinteresse und Ungeduld, wittern womöglich ideologische Belehrung. Die wollte ich ihnen nicht antun. Wir stehen einander gegenüber wie Aliens von fernen Planeten.

Einer sagt schließlich nach einer Pause des Schweigens: „Also da mach dir mal keine weiteren Gedanken wegen der falschen Spur. Wir müssen weiter. Dann gute Fahrt euch und alles Gute in der BRD!“

Horst kommt von der Werkstatt zurück Ein Autofahrer aus dem Westen schleppt uns ab in Richtung Grenze.

Bitte rrrechts rrranfahrn!“ Der bayrische Grenzpolizist steckt seinen Kopf durchs Autofenster. „Wo kommts ihr denn her? Habts Truppenbewegungen beobachtet unterwegs?“ Zu den Kindern auf dem Rücksitz: „Gebt´s zu! Ihr wart im Lager!“ Nadja und Melanie sagen kein Wort. Horst zeigt dem Beamten sein Einlegevisum. Wir seien auf der Heimfahrt von Berlin über die DDR. Er wird in die Stube der Grenzpolizisten beordert. Ich bleibe mit den Kindern zurück im Auto. „Wenn der versucht, euch auszufragen, dann sagt ihr kein Wort, kein einziges Wort! Kann ich mich auf euch verlassen?“, flehe ich sie an. Der Polizist kommt zurück ohne Horst. „Wo warts ihr also im Lager?“ Stille. „Gut erzogen seids auch noch!“ „Jetzt glauben sie uns bitte! Wir sind auf der Durchreise von Berlin in die Heimat!“, sage ich und schaue ihm gespielt treuherzig in die Augen. Die antworten lauernd und belustigt misstrauisch und mir wird plötzlich bewusst: Ich trage Afro-Look, die in Mode gekommene Angela Davis-Frisur, einen Wuschelpelz aus pechschwarzen Kräusellocken. In den USA wird Angela Davis, Vietnamkriegs-Gegnerin und seit Martin Luther King Gallionsfigur der Black Power-Bewegung, gefangen gehalten. Die Medien berichten über ein mögliches Todesurteil.

Nach einer Weile kommt Horst zurück. Wir können weiterfahren. Das Einlege-Visum hat uns gerettet.




Der Garten



Morgens

träumte ich

das Haus

im grünen Meer

mit einem Strauch von weißen Rosen

das Blau vom Rittersporn

zum Rot der Beeren


Mittags

träumte ich

die Sonne in den Zweigen

Rosenrot

saß am Klavier

und im Gras

Schneeweißchen


Abends

fühlte ich

die Schatten wuchsen länger

mit den Bäumen

und deine Hätschelblume

Schlinggewächs

kroch über Rittersporn und Rosen


Achtzigerjahre


Hey, was machst du hier?“ Mechthild humpelt mir auf dem langen Krankenhausgang entgegen.

Ich hab den Blinddarm rausbekommen und die Gebärmutter“, sage ich. „Alles gutartig.“

Bei mir Fehlgeburt.“ Immer noch trägt sie ihre Gudrun-Ensslin-Mähne, langes Blondhaar, Fransen bis zu den Augenbrauen.

Wo steckst du zur Zeit, hast du noch Berufsverbot?“

Ja schon, ich bin beim Bundesvorstand. Bei uns brodelt`s, du glaubst es nicht.“

Musst mir nichts erzählen, wenn du Schmerzen hast“, sage ich.

Mechthild bekommt rosa Flecken aufs blasse Gesicht.“Und was machst du?“

Bin ausgetreten seit der Ausbürgerung von Wolf Biermann und jetzt in der Friedensbewegung. Dort triffst du auch wieder die Unsrigen. Die Inge und der Peter sind jetzt bei „Ohne Rüstung leben“, gewaltfreier Widerstand und so. Die machen Seminare über den Dienst nach Vorschrift, falls die NATO hier das militärische Kommando übernimmt. Du arbeitest quasi absolut lahmarschig, nur noch das Nötigste, zum Beispiel beim Versand, bei der Post und der ganzen Nachrichtenübermittlung.“

Ist doch okay, wenn alle zusammenhalten. Die ewige Selbstbeweihräucherung der K- und sonstigen Gruppen geht mir inzwischen auf den Geist“, sagt Mechthild. Was denkt sich bloß der Helmut Schmidt mit seinem Doppelbeschluss? Wenn die Pershings und Cruise Missiles stationiert sind, dann greift keine Doppelstrategie mehr. Die Russen löschen hier die Raketen aus per Erstschlag. Dann kannst du auch die Nato-Erstschlagstheorie vergessen. In den USA verkaufen sie jetzt irre Spiele. Da geht`s ums „nukleare Theater Europa.“

Wir gehen diskutierend den Gang entlang, leicht nach vorne gebeugt, die Hand am frisch operierten Bauch.


Meine Beziehung ist total am Arsch“, sagt mir Gabriele am Telefon. Sie heule seit gestern, im Moment heule sie wegen der Stationierung. „Der Marcel hat mich angerufen. Er verkriecht sich im Bett und liest nur noch Science fiction.“

Wir können uns das nicht leisten“, sage ich, „der Marcel schon, mit seinen paar mickrigen Sportstunden, eventuell noch Politologie und keine Spur von Haushalt.. Ist der eigentlich noch Trotzkist oder was? Möglich wäre KBW oder KPDML. Bei denen lag mal die Mao-Bibel auf dem Küchenbüfett. Neuerdings versucht er, Karriere in der Graswurzelbewegung zu machen. Dort kursiert der Name DIE GRÜNEN. Super, wenn die mitmachen gegen den Nachrüstungsbeschluss. Nur tun die jetzt so, als hätten sie die Anti-Atomkraft-Bewegung erfunden.

Weißt du noch – Wyhl, mit dem Balthasar Ehret? Denk auch an Wackersdorf, Wiederaufbereitungsanlage. Ohne den Widerstand der Bevölkerung hätten wir den Baustopp nicht hinbekommen. Bei der Blockade waren die Christen vom „gewaltfreien Widerstand“ mitten im CS-Gas. Die Ines hat eine Augenverletzung abbekommen. Wie kannst du damit Unterricht machen!


Dorothee Sölle hat es damals auf den Punkt gebracht. Es war am Tag, als der christliche Widerstand die Holzkreuze den Hang hinaufgetragen hatte bis vor den Zaun. Sie hat danach mit Pfarrer Albertz auf dem Podium gestanden und in die Menge gerufen: `Was ist heute Kirche, liebe Freundinnen und Freunde?! Kirche ist das Kruzifix am Bauzaun von Wackersdorf!´

Was Mutlangen angeht: Ich blockiere. Sollen die Promis nur mitmachen..Die ganze intellektuelle Linke hat sich angekündigt.“


Edo hat mir einen Übernachtungsplatz freigehalten im Zelt der ehemaligen KZ-Häftlinge.

Wir liegen Schlafsack an Schlafsack auf dem plattgetretenen Wiesenboden.

Das Surren eines Rasierapparates kommt dicht an mein Ohr, reißt mich aus dem Blockade-Halbschlaf. „Gut rasiert ist halb blockiert!“, sagt einer. Alle lachen, während sie gemächlich in ihre Sträflingsanzüge schlüpfen.

Es ist vier Uhr morgens. Mit brennenden Fackeln gehen wir über das Friedenscamp in Richtung Raketenzaun. Ich stolpere über die Heringe eines Einmannzeltes. „Mensch, pass doch auf!“, schreit es heraus. Eine Waschschüssel kippt um, kaltes Wasser läuft mir über die Füße. Der Friedensfreund liegt – verheddert in seine Zeltplane – auf dem Boden. „Sorry, tut mir so leid!“, rufe ich auf das Bündel hinunter und renne schnell davon. Ich darf den Anschluss an die Gruppe nicht verlieren.


Wir sitzen eng aneinandergedrängt auf dem Boden vor dem Haupttor des Raketendepots.

Ich mit ungewaschenem und unausgeschlafenem Gesicht, weil im nächstliegenden Toilettenwagen der Wasserhahn nicht funktioniert hat. Über uns kreisen die Hubschrauber der NATO. Keiner weiß, was es bedeutet. Um uns tummeln sich die Reporter der internationalen Presse. Durch das Blitzlichtgewitter sehe ich die berittenen Polizisten. Wir tragen alle das hellblaue Dreieck-Halstuch mit der Aufschrift „Das weiche Wasser bricht den Stein“.

Die Patengruppe rahmt uns solidarisch ein. Zwei spielen die Gitarre und alle singen:

We shall overcome…”

Tags zuvor ging es immer noch um die Konsensfindung. Man kauerte in unzähligen Grüppchen im sonnenwarmen Gras, die Prominenten jeweils in der Mitte, Erhard Eppler an sein aufgestelltes Fahrrad gelehnt, auf dem Kopf ein Taschentuch mit geknoteten Zipfeln. Petra Kelly ging Hand in Hand mit General Bastian. Günter Grass diskutierte mit Blockierern von der Basis.

Ein paar Autonome gestikulierten mit Rolf Hochhuth. Sie hätten beschlossen, die Zufahrtsstraße bis zum Haupttor aufzureißen. Rolf Hochhuth, im Gras sitzend, tat das Seinige, war ganz Dompteur, nur mit dem Oberkörper agierend, während ihm der Schweiß von der Stirn rann. Die Friedensbewegung habe etwas mit Pazifismus zu tun. Im Weggehen riefen ihm die Autonomen zu, er solle seine Sonntagspredigt für sich behalten. Von einer Nachbargruppe rief es herüber, man könne auf der Zufahrtsstraße doch Blumen pflanzen. Die seien samt der Erde schnell herbeigeschafft.


Gegen Nachmittag kommt Horst mit den Kindern. Ein berittener Polizist hält sein Pferd im Zaum, damit Nadja und Melanie es streicheln können. Dann gehen sie mit mir zum Haupttor und malen mit bunter Kreide Blumen auf die Zufahrtsstraße.

Horst macht Fotos fürs Familienalbum.


Ich lass mich scheiden“, sagt Gabriele.

Das krieg ich nicht fertig. Scheidung ist schlimmer noch als Sterben“, schluchze ich ins Telefon. „Mein Leben – das sind die Kinder, vergiss die ganze Scheißpolitik!“

Ich gehe jetzt in die Selbsterfahrungsgruppe, also Feminismus, Selbstverwirklichung und so“, sagt Gabriele.

Kannst ja hingehen. Die Alternativen schießen bloß so aus dem Boden mit Kräusellocken-Mähnen und lila Halstüchern, silberfädendurchwirkt, Zipfel vorne auf dem Schlabber-T-Shirt überm Schlabberbusen, langer Rock gebatikt und Birkenstocksandalen. Lass dich mal dort sehen ohne Uniform! Dann gehörst du nicht dazu.“

Unsere Uniform waren die Blue Jeans, stonewashed! Schon vergessen?“ sagt Gabriele.

Okay, aber haben die Birkenstock-Sandalen eine blasse Ahnung von der Frauenbewegung früherer Zeiten oder von der Arbeiterbewegung? Okay, sie mögen sich ja sonst auskennen, beispielsweise auch in Müslisorten.“

Stimmt!“, sagt Gabriele. „Stur ökomäßig verhalten die sich im Verkehr! In Kolonnen von Hausgeburts- und Stillgruppen tappen sie mit ihren Kindern auf die Straße. Hockst du selbst im Auto, dann kannst du gerade noch die Notbremse ziehen“, lacht Gabriele, “und was die Alice Schwarzer angeht: Ich meine nicht, man sollte die Frauen ans Gewehr lassen. Wäre das feministische Politik? Und wer wird die Schwarzer loben? Doch nur die Rüstungskonzerne!“

Nun noch mal zu den Selbsterfahrungs-Logen“, sage ich, „die dort kultivierte Unzufriedenheit trägst du hinein in die Beziehung. Daheim wird dann die Kiste kaputtdiskutiert. Natürlich ohne Konsensfindung.“

Der meinige war kein einziges Mal bereit, zu diskutieren. Ein langer Weg liegt vor uns.

Auch politisch. Die Geschichte unserer Unterdrückung ist jahrtausendealt.“

Dabei hast du als Lehrerin viel weniger zu klagen“, sage ich. „Zehn Jahre warst du zu Hause wegen der Kindererziehung. Nun wirst du wieder in den Staatsdienst übernommen, bist also nach wie vor pensionsberechtigt. Bist beruflich emanzipiert.

Es ist das alte Lied – die Arbeiter haben es uns vor den Fabriktoren an den Kopf geworfen: "Auch bei euch Linken gibt es das Unten und das Oben. Im Kopf habt ihr den Karl Marx.

Kaum seid ihr aber oben angekommen, dann interessieren wir euch einen Scheißdreck!“


Wenn ich ganz neu anfange, dann nicht jetzt.

Dann, wenn die Kinder das Haus verlassen.

Wenn ich ganz neu anfange, dann ohne Geld, aber wieder mit einer Illusion.


Durchs offene Fenster kommen laue Lüfte, kommt die Wärme der Aprilsonne.

Ich plane ein Picknick mit den Kindern, belege in der Küche ein paar Brote und würze den Kartoffelsalat nach.

Das Radio meldet einen nie gehörten Namen: Tschernobyl. Dort gebe es einen Super-Gau.

Aus dem Atommeiler entweiche Radioaktivität. Sie drohe, das Umland zu verseuchen und könne in den nächsten Tagen mit den Regenwolken um die Erde ziehen.

Ich kneife mich in den Hals, möchte spüren, ob ich träume oder lebe.

Ich lebe und es ist kein böser Traum. Es ist die böse Wirklichkeit.

Es ist der Tag X.

Danach wird nichts mehr verlässlich sein und uns Geborgenheit und Hoffnung geben, kein Himmelsblau, nicht die weißen Wolken, nicht die Natur in ihrer frühlingshaften Unschuld.


Die AKW-Bewegung hat versucht, uns aufzurütteln.

Damals war es noch graue Theorie: der als schlimmster Unfall anzunehmende Super-Gau. Mediziner der Bewegung „Ärzte gegen den Atomtod“ informierten mit Vorträgen und Diskussionen über die Notmaßnahmen der Regierung. Es seien Unmengen von Jodtabletten gebunkert. Erste Hilfe sei nur jenen Opfern zu gewähren, die überlebensfähig und daher in der Lage wären, anderen Opfern zu helfen.


Es kommen erste Regenwolken. Sie kontaminieren die Knospen und Feldfrüchte und schwemmen das Cäsium in die Erde.

Der Landwirtschaftsminister lässt den Salat unterpflügen, als könnte er damit die Strahlung hinwegzaubern.

Experten messen landauf, landab mit dem Geigerzähler.

Was man erntet, was man kauft, prüft man nach Bequerel und die Zeitungen liefern dazu ihre Tabellen.

Täglich verfolgen wir am Fernsehen, wie Mitarbeiter des Atommeilers sich bemühen, das Höllenfeuer einzusperren. Die russische Regierung sendet Experten nach Tschernobyl. Schließlich kommt die Meldung, sie hätten das Wunder vollbracht, den Reaktor einzusargen, zumindest einmal auf Jahre hinaus. Sei der Schutzmantel verschlissen, dann müsse ein neuer geschaffen werden.

Diese Männer werden dem Tod geweiht sein. Ich nenne sie Märtyrer und schäme mich für meine egomanischen Aktionen.

Denn das ist alles, was ich tun kann: Ich kaufe eine zweite Tiefkühltruhe, fahre zum Supermarkt und hole Tiefkühlgemüse, Tiefkühlobst, auch Gläser- und Dosenware. An der Kasse entsteht eine endlose Schlange, die Leute murren und schimpfen, reden gehässig vom Weltuntergang, denn ich bin immer noch dabei, das Förderband zu beladen. Beim Metzger kaufe ich Fleisch, aufgeteilt in Familien-Portionen.

So bunkere ich Nahrung aus der Zeit vor Tschernobyl. Wir werden ein Jahr lang damit auskommen. Dann sehen wir weiter.



Die Katze



Die Katze ist lange gelaufen, auf dem Feldweg entlang der Autostraße. Manchmal setzt sie sich unter einen Baum und leckt ihre Wunden. Sie fühlt Geborgenheit, ihre Augen werden schmal, sind plötzlich wieder grüne Blitze im schwarzglänzenden Fell, folgen hin und her dem Tagwerk einer Ameisenkolonne.

Die Katze ist hungrig. Das Mäusefangen macht ihr kein Vergnügen. Doch damit verdient sie ihr Schälchen Milch. Sie bekam es immer, wenn sie die tote Maus dem Herrn zu Füßen legte.

Die Katze wurde satt, nur – es blieb der Hunger danach, dass die Hand des Herrn sie streicheln möge. Der Herr indessen beachtete sie nicht.


Übers Jahr hatte sie zwei Kätzchen geboren. Die liebte sie über alles und leckte sie liebkosend. Bald fingen auch die Kinder Mäuse und legten sie dem Herrn zu Füßen. Dafür bekamen sie das Schälchen Milch.

Die Zeit verging. Nach und nach entfernten sich die Katzenkinder aus der Obhut der Katze.

Da war sie einsam. Sie legte sich zu Füßen ihres Herrn und wollte gestreichelt werden.

Doch je länger sie miaute, desto wütender wurde der Herr, bis er sie schließlich – gegen ihren leichten Widerstand – zur Tür hinausbeförderte.

Da beschloss die Katze eines Tages, ihren Kindern Lebewohl zu sagen und sich auf den Weg zu machen. Wenn sie hungerte und in der morgendlichen Kälte stumm wartend vor den Türen

saß, gab man ihr hier und da das Schälchen Milch. Die Tür aber schloss sich wieder, denn man hielt sie für eine Wildkatze.


Einmal lockte sie ein Mann ins Haus.

Er streichelte sie sanft, während er an seinem Whisky schlürfte. Die Katze hatte nun ein neues Heim, fing wieder Mäuse und legte sie dem Herrn zu Füßen. Doch mehr und mehr fühlte sie, dass der Herr im Grunde ohne Katze leben wollte, allein mit seinem Whisky.

Nachdem der Herr nun abermals betrunken war und sie zur Tür hinausgeworfen hatte, machte sich die Katze leise auf den Weg.


Nun läuft sie entlang der Autostraße. Im strömenden Regen findet sie ein Mann. Er nimmt sie auf den Arm und nennt sie zärtlich seine Wildkatze. Er streichelt ihr schwarzes, regennasses Fell. Nachts schläft sie an seinem warmen Körper, tags läuft sie über weiche Teppiche und sitzt auf seinem Stuhl. Allmählich beginnen ihre Wunden zu heilen.

Eines Abends – die Katze ist über Felder gestreunt, hat unter Bäumen gesessen und den Ameisen zugesehen – verliert sie auf dem Teppich ein Büschelchen Heu. Das macht den Herrn wütend, er redet nun von Katzenhaar auf Teppichen und Stühlen.

Die Katze versteht nicht, denn sie liebt das Heu über die Maßen, und sie liebt auch ihr Fell. Der Herr bleibt unnachgiebig.


So läuft die Katze nun tagtäglich hin und her und sammelt Katzenhaar von Teppichen und Stühlen. Immer öfter aber kriecht sie scheu in ihr Versteck .Dann wieder fängt sie Mäuse und legt sie ihrem Herrn zu Füßen. Der nimmt sie zärtlich auf dem Arm. Er gibt ihr liebevoll das Schälchen Milch und nennt sie seine schwarze Wildkatze.




Neunzigerjahre


Ich habe beschlossen, mich von Horst zu trennen. Es bedeutet für mich, das gemeinsame Haus zu verlassen.

Nadja und Melanie sagen Ja dazu. Was verbirgt sich hinter dem mutigen Ja meiner Kinder? Ein blutendes Herz. Ihre stumme Weisheit. Das Wissen um die endgültige räumliche Trennung. Der Trost, wir würden ohnehin bald nicht mehr zusammenwohnen, denn auch sie würden an einem entfernten Ort leben, um dort das Studium zu beginnen.


Ich gehe ohne Geld, nur mit ein paar Möbeln und Geschirr für die Wohnung bei Viktor.

Er erwartet meine Mithilfe im Lokal. Daneben werde ich eine bezahlte Ausbildung in der Altenpflege beginnen. Das einjährige Praktikum habe ich hier am Ort gemacht. Vor diesem Praktikum habe ich versucht, im Schülernachhilfe-Institut einen Job zu bekommen. Doch davon hätte ich meinen Lebensunterhalt nicht bestreiten können. Schließlich habe ich kein Staatsexamen. Über zwanzig Jahre lang war ich Hausfrau.

Cousine Ingrid schenkt mir spontan 500 D-Mark.


Heiliger Abend. Die Heimbewohner sitzen an weißgedeckten Tischen, einige zusammengekauert in ihren Rollstühlen, ihr Blick geht durch den Tischschmuck ins Leere.

Durch die Gänge und Räume klingt es „Jingle bell, jingle bell durch den grünen Wald…“.

Frau Kusterer nestelt an ihrem weißen Latz, faltet ihn hastig zusammen, auseinander, zusammen. Ich denke an meine Reitze-Großmutter, wie sie war in den letzten Jahren vor ihrem Tod. Im Vorbeigehen möchte ich Frau K. in den Arm nehmen, bemerke aber rechtzeitig die nach Zuwendung hungernden Blicke der anderen Heimbewohner. Am Fenster hinter den Tischen hat eine Kollegin ihren Beobachtungsposten eingenommen. Sie verfolgt mein Tun mit Habichtsaugen. Mit sadistischer Hingabe macht sie seit Wochen Jagd auf die Fehler, die ich gemacht habe oder machen könnte und dann auch mache, denn mir fehlt die Freiheit zum Atmen. Unbeteiligt reagierte sie, als ich ihr das Ergebnis meiner ersten Praxisprüfung gezeigt hatte. Note 1,6. An einer ständig bettlägerigen Schwerstkranken musste ich mein Schulwissen demonstrieren. Dabei waren fünfzig Pflegeschritte zu beachten. Zuvor hatte ich starkes Nasebluten.

Nun beten sie das Vaterunser. Die sadistische Schwester betet laut und inbrünstig, dann singt sie mit krächzender Stimme „O du fröhliche…“.

Aus dem Halbdunkel des Ganges kommen Betten mit Schwerkranken angefahren.

Frau Hiller ist nicht dabei. Sie ist eine von den Stummen. Ich bahne mir meinen Weg durch das geschwätzig-wichtigtuerische Gewühle der Spitze der Heimhierarchie samt Pfarrer.

Frau Hiller sitzt allein in ihrem Zimmer und starrt fest entschlossen die Wand an. Wegen eines sogenannten Kunstfehlers lag sie ein halbes Jahr im Koma. Seitdem ist sie stumm und halbseitig gelähmt. Ihre Gehirnfunktion ist normal. Als Schülerin muss ich die Dokumentation der Stationsinsaßen kennen. Ich lege meinen Arm um Frau H. und frage, ob sie nicht zur Weihnachtsfeier kommen möchte. Sie schüttelt heftig den Kopf, ihr Blick ist voller Panik. Ich gehe in die Hocke. Das Gesicht von Frau H. ist mit dem meinigen auf gleicher Höhe und ich sage: „Ich bin auch allein. Früher habe ich mit meiner Familie Weihnachten gefeiert. Ich habe zwei Mädchen, zwanzig und siebzehn Jahre alt.“

Sie nickt ernst und eifrig mit dem Kopf, als hätte sie mit mir zusammen eine Aufgabe gelöst. Dann schaut sie mir eine Weile fest in die Augen. Mütter. Noch ein Händedruck, dann husche ich schnell aus dem Zimmer.

Draußen warten sie auf meinen Einsatz. Ich habe keines meiner eigenen Gedichte gewählt, sondern „Knecht Ruprecht: Von drauß´ vom Walde komm ich her…“.

Nun verstummen auch Frau Heizmann und Frau Lörcher, die ansonsten ständig miteinander diskutieren und dabei aneinander vorbeireden. Frau Rothfuß spricht mit: „…Alt und Junge sollen nun von der Last des Lebens einmal ruhn…“


Während ich spreche, überwältigen mich Bilder aus der Erinnerung. Ich sehe mich inmitten meiner Familie. Es riecht nach Tannenbaum, nach Kerzenwachs, Bratäpfeln und Rehbraten. An der Wand hängt unser Weihnachtskalender, von mir gebastelt aus Jutestoff und Filz in Grün- und Rosatönen und einem Glitzerband. Die beiden letzten Päckchen hängen noch an einem Ring. Es sind die für den Heiligen Abend bestimmten. Die Kinder werden sie nach dem Essen öffnen. Nadja hat für mich eine Kunstkerze aus bunten Kerzenresten geschmolzen. Ihren Arbeitsraum, die Küche, hatte sie ganz mit Zeitungspapier ausgelegt. Sauberes Arbeiten sollte ein Teil ihres Geschenkes sein. Doch das warme Wachs drang auf den Fußboden an vielen Stellen, wo die Kanten des Papiers nicht eng aneinander lagen. Melanie hatte sich am Vormittag in ihrem Zimmer verbarrikadiert, auf dem Fußboden sitzend, mit dem Rücken gegen die Tür. So verzierte sie mit eigenen graphischen Kunstwerken die Geschenke.

Stunden verbringen sie damit, individuell zu schenken, setzen sich ans Klavier und produzieren Kassetten mit selbstkomponierten Liedchen und Nonsenstexten.

Mama! Jetzt kommt dein Lieblingslied!“ Es ist das Wiegenlied der Maria aus dem Weihnachtsoratorium von Bach: „Bereite dich, Zion…“.

Ich lege „Aber Haitschi-bumbaitschi, schlaf lange…“ auf. Meine Mutter hat es mir gesungen, als am Heiligen Abend die Bomben fielen und Vater im Krieg war.


Nun entdecke ich Herrn Hohl. Erreicht ihn meine Stimme? Sie haben ihn doch noch herbeigekarrt, einen der ganz langsam und geduldig Sterbenden. Ich denke an meinen Reitze-Großvater. Sie haben Herrn H. in einen dunklen, steifen Anzug gezwängt. Seine Augen sind wie immer geschlossen, der Kopf fällt schwer und ganz allmählich gegen das unberührte Tortenstück. Am Morgen noch habe ich Herrn H. in seinem Bett mit einer total verkoteten Schlafanzughose angetroffen. Er lag gekrümmt wie ein Fötus. Die Nachtschwester hatte bei ihm abgeführt. Ich suchte im Vorratsschrank hastig nach einer sauberen Hose, denn Herr H. besitzt kaum eigene Wäsche. Aber ich fand nichts, auch nicht auf der anderen Etage.

Wieder zurück im Zimmer von Herrn H., stellte sich mir das eine der beiden Schwestern-Monster in den Weg: „Ist das jetzt das Wichtigste, für Herrn H. eine Hose zu suchen? Er bleibt doch heute sowieso im Bett, da tut`s auch eine Windel. Außerdem hattest du bei Frau B. anzufangen!“ Von dieser Reihenfolge hatte man mir nichts gesagt. Ich hüte mich vor Rechtfertigungen. Sie werden den Schülerinnen in der Weise attestiert, sie könnten nicht mit Kritik umgehen.

Ich weinte in einer dunklen Ecke des Putzraumes. Die Küchenfrau entdeckte mich: „Genau so habe ich viele Wochen geweint, als ich hier angefangen habe. Ich hatte immer Magenkrämpfe. Und jetzt sagen wir auch Du zueinander.“ Ein Weihnachtsgeschenk für mich am frühen Morgen des Heiligen Abend.


Ich ging zu Frau Kek ins nächste Zimmer, nicht ahnend, dass ich hier mein zweites Weihnachtspräsentchen bekommen sollte. „Haben Sie gut geschlafen, Frau Kek?“

Noi! Gar net!“ „Ja, warum denn net?“ „I han zweimol heit Nacht nach Dir g`rufa.“

Ja wisset Sie denn net, wie i heiß?“, fragte ich sie. „Ja! - Mama!“ Ich legte meinen Kopf an den ihrigen .“I heiß net Frau Kek, i heiß Berta!“

Dann kam das Monster ins Zimmer und kontrollierte meine Arbeit.


Nach der Weihnachtsfeier bringe ich ein Getränk zu Herrn Illeson. Er sitzt in seinem Rollstuhl und liest in einem Sachbuch. Ich beuge mich zu ihm hinunter und frage, was er lese. „Raus, raus!“ tobt er und schlägt nach mir. Ich gehe schnell aus dem Zimmer. Danach lässt sich Herr I. aus dem Rollstuhl fallen und sagt den herbeieilenden Kolleginnen, ich hätte ihn nicht vom Boden aufheben wollen. Eine Schwester meldet diese Information eines Schizophrenen der Stationsleiterin. Diese wiederum wundert sich nicht über Illesons Taktik, sondern wundert sich kopfschüttelnd über meine Reaktion, nicht bestürzt zu sein darüber, dass Herr I. aus dem Rollstuhl gefallen war. Wäre ich selbst zu meinen Gunsten vorgegangen, dann hätte ich nicht richtigstellen dürfen, dass Illeson noch im Rollstuhl gesessen hatte, als ich aus dem Zimmer ging. Meine Reaktionsweise müsse sie dem Pflegedienst- und Schulleiter melden, sagt die Stationsleiterin.

Nocheinmal heißt man mich ein Getränk in Illesons Zimmer zu bringen. Wo ist er? Gleich links neben mir nach der Nasszellentür hängt er angeschnallt wie der gekreuzigte Christus an seinem senkrecht aufgestellten Spezialbett – eine Behandlungsmaßnahme. In diesem Zustand leistet er sich keinerlei Aggressivität, schaut gleichgültig an mir vorbei wie ein Gorilla an den gaffenden Zoobesuchern. Ich schäme mich sehr für diesen Vergleich, stelle das Glas korrekt und ohne Worte auf den Nachttisch und gehe schnell aus dem Zimmer.


In der Klasse sind etwa zwanzig Schüler aus der ehemaligen DDR, darunter ein Lehrer, ein Offizier der Nationalen Volksarmee, eine Studentin der Tiermedizin. Sechs „Ossis“ haben sie schon ausgesiebt, weil sie mal eine Nacht in einer Disco verbracht haben und am nächsten Morgen nicht zum Unterricht gekommen sind. Einmal sagte die leitende Lehrerin bei einer Ansprache zu ihnen: „Von euch können wir einfach nicht alles erwarten. Ihr seid in einem völlig anderen System aufgewachsen. Aber wartet, in drei Jahren werden wir aus euch etwas gemacht haben!“ Das führte in der Pause zu aufgeregten Diskussionen. Einige zogen heftig an ihren Zigaretten. Diese sich ansonsten unpolitisch verhaltenden Mitschüler bemühten sich, ihren ehemaligen Staat zu verteidigen: „Bei uns is nischt allet schlecht jewesen, kuckt doch ma euern Schrottstaat an! Und wat soll denn dieser Scheiß-Reljonsunterricht, total vafälschte Jeschichte! Bei uns wurde Wissenschaft jelehrt - trotz Marxismus-Leninismus - wat uns natürlich auch jeschtunken hat!“

In Deutsch nimmt man mit uns einige Literaturgattungen durch. Für mich die Wiederholung der Wiederholung. Die Soziologie-Lehrerin lobt mich für mein Referat nach Stichworten: Die Sprache der Regenbogenpresse an Hand der Zeitung „Heim und Welt“.

Wir fragen uns in den Pausengesprächen, was wir wohl in der Praxis anwenden könnten von den noch zu bewältigenden Fächern wie Anatomie, Krankheitslehre, Altenpsychiatrie, Rechtslehre, Ernährungslehre, Arzneimittellehre, Beschäftigungstherapie, Krankengymnastik.

Im Praxisblock sind wir fast ausschließlich beschäftigt mit Waschen, Trockenlegen, „Füttern“ (wie es hier heißt), An- und Auskleiden der Heiminsaßen, mit deren Begleitung zur Toilette oder mit der Verabreichung der Medikamente. Darunter sind jene, die der Ruhigstellung dienen und manche der Heimbewohner von ihren Fluchtversuchen abhalten, bis sie nach ein paar Wochen apathisch, kraftlos und bleich auf der Bettkante sitzend einem viel zu frühen Tod entgegendämmern.



Am zweiten Weihnachtsfeiertag stirbt Frau Lethe. Sie stirbt beim morgendlichen Waschen leise und friedlich. Ihre Finger umklammern mein Handgelenk wie Vogelkrallen. Der Blick bleibt stehen, das Gesicht wird gelb und die Züge spannen sich.

Nun muss sie „gerichtet“ werden, das bedeutet: das Kinn hochbinden, bevor die Leichenstarre eintritt, die Augen mit nassen Tupfern schließen. Die beiden Prothesen zwänge ich – es geht nicht ohne Gewaltanwendung – zwischen Ober- und Unterkiefer. Zwei Kolleginnen schleppen mit rasender Geschwindigkeit die Zinkwanne an. Wir wechseln zu zweit schnell die Windel. Der Pflegedienstleiter erklärt mir kurz die Symptome der Verstorbenen. „Jetzt ab in den Kühlraum!“, sagt er, „ein Arzt kommt heute nicht mehr.“

Hab ich gestern Abend nicht noch mit dir gewettet, dass sie über kurz oder lang sterben wird? Aber mir habt ihr nicht geglaubt!“, sagt eine ältere Schwester zur Kollegin.

Ich gehe in den Toilettenvorraum, um mich auszuweinen. Frau L. war eine Obdachlose. Nie hatte sie Besuch. Beim Sterben war ich mit ihr allein und ich hielt sie fest in meinem Arm.

Die Stationsleiterin stürmt in den Vorraum, entdeckt mich beim Weinen und sagt feixend: „Mit Ihrer Übersensibilität suchen Sie sich am besten einen anderen Beruf. Ich muss diesen Vorfall leider der Pflegedienstleitung melden.“


Bevor ich mich nach dem Weihnachtsdienst auf den Rückweg mache, gehe ich zum Spind und ziehe mich um. Vom Nachbarspind her kommt das Monster auf mich zu: „Ich muss dir noch schnell was sagen. Eigentlich wollte ich es schon früher tun. Ich bin psychisch krank, muss täglich starke Psychopharmaka und Antidepressiva einnehmen. Ich bin manisch-depressiv. Darum muss ich mich immer so aggressiv abreagieren.“ Das Monster ist stellvertretende Stationsleiterin. Nun kann ich sie besser einschätzen. Ich werde sie nicht mehr in Gedanken „das Monster“ nennen.


Schon beim Aufwachen spüre ich die pochende Schläfe, Schwäche und Zittern in den Beinen, Übelkeit.

In meinem Kopf ist schemenhaft der Tagesplan.

Zuerst der Kampf gegen das Ungeheuer. Es schleicht sich über Nacht in meinen Körper, nistet sich dort ein für drei Tage, wenn ich es zulasse. Deshalb flüchte ich aus dem Bett, nehme ein Schmerzmittel, koche Pfefferminztee, trinke ihn schluckweise, beschwöre die Heilkraft der Natur, während ich im Zimmer auf und ab gehe.

Ich fühle keine Heimat in meinem Körper, nicht im Liegen, nicht im Stehen. Im Ruhezustand baumle ich zwischen Nichtleben- und Nichtsterbenkönnen. So muss die Hölle sein.

Immerhin habe ich noch meinen Kopf, meinen alten Kampfgefährten.

Die Medizin beginnt zu wirken. „Die Erde hat mich wieder…“!

Der Tee erzeugt Wärme.

Ich schaue durchs Fenster auf die Straße hinunter. Kenan fegt vor seinem Lokal den Gehweg. Ins Fenster hat er einen Adventsstern gestellt .Er flackert Tag und Nacht in leuchtenden Farben.

Kenans Schwester Sevin putzt die Fenster. „Hallo Christel!“

Ich gehe über die Straße.

Hallo Sevin, du bist schon am Putzen und heute Nacht hast du noch bedient“, begrüße ich sie. „Ja“, sagt sie, „aber heute habe ich bisschen Kopfweh.“

Wir einigen uns darauf, dass wir eigentlich die „Mädchen für alles“ sind. „Was wir können machen?“, sagt sie.

Bruder Kenan steht beim türkischen Nachbarn, gestikuliert elegant und weit ausladend, trägt ein blütenweißes Hemd und eine schwarze, modisch weit geschnittene Bundfaltenhose.

Tschau Sevin, tschau Kenan!“, rufe ich und gehe über die Straße zurück in Viktors Lokal.

Ich mache den Einkaufszettel.

Der Bierfahrer, diesmal der ehrliche, kommt durch die Hintertür. Er ist beleidigt, weil ich das Leergut kontrolliere. „Bei mir musst du nicht nachchecken!“

Okay!“, sage ich, „aber wo sind die alkoholfreien Sachen?“. Sie sind nicht dabei.

Ich telefoniere mit der Brauerei, bis morgen müsse die Nachlieferung her, komme was da wolle, falsch gelieferte Fässer müssten außerdem sofort zurückgenommen und gutgeschrieben werden, morgen Abend sei „Happy hour“ und da sei im Lokal die Hölle los.

Ich solle morgen früh um sieben bei der Fahrer-Einteilung anrufen.

Ich weiß – ich werde es schaffen. Nur, wenn ich den Wecker auf sieben stelle, dann werde ich vier Stunden geschlafen haben. Mein Lokaldienst an der Theke wird erst gegen zwei Uhr beendet sein. Danach muss ich das eingenommene Geld zählen und die Abrechnung machen.


Ich gehe die knarrende Treppe hoch in die Wohnung, rühre einen großen Batzen Gips an, schmiere ihn in die Löcher der Wände und nagle darüber engmaschigen Draht.

Als die Mäuse begannen, gemütlich zwischen Küche und Toilette hin und her zu watscheln, als bezahlten sie Untermiete, habe ich zuerst die Toilette renoviert. Dunkelrosa Teppichboden, Spitzenvorhängchen am Fensterloch der Tür, Cezanne, Picasso und Matisse an den Wänden, dazwischen Viktors Bilder am alten Platz: ein Mann, der die Keule schwingt gegen den Mann mit Sense, ein anderes Bild mit jenem Baum, dessen Stamm eine zart hingemalte Aura umgibt.


In Viktors Zimmer hängt die Landkarte der Karibikinsel Dominica, drumherum sind mit Stecknadeln Fotos aufgespießt: Viktor braungebrannt mit langen Hippielocken und Bart, Viktor vor der grünen Hütte mit zottelhaarigen Rastas.

An der gegenüberliegenden Wand ein Bild von einem Künstlerfreund aus der Münchner Zeit: Schäbige, baufällige Hauswand in Grau und Braun, im Mittelpunkt groß die alte Tür. Im dunklen Türspalt erscheint schemenhaft ein leicht gebücktes, menschliches Etwas, will offenbar heraustreten, scheint aber zu verharren und dann schamhaft zu zerfließen mit Tür und Wand. Ich habe dem Bild einen dunklen, wurmstichigen Holzrahmen gegeben, den ich in einer Rumpelkammer des Hinterhofes gefunden habe.


Abends Dienst im Lokal. Es nimmt mich auf wie ein warmer Bauch. Dunkle Holztäfelung, dunkle, antiquarische Gläserschränke, lange Theke im rechten Winkel mit vielen Barhockern, runde Stehtischchen, die rechteckigen, alten Holztische für die Skat- und Schachspieler mit eingeritzten, kaum noch lesbaren Namen. Ich richte die Kaffeemaschine, spüle herumstehende Gläser, lege CDs und Kassetten bereit, verstecke Techno-CDs. Denn öfters kommen – wenngleich verboten - die Schüler hinter die Theke und jammern: „Nicht schon wieder Santana und die Stones! Das ist doch alles mega-out!!“

Dann wieder verlangen sie den Elvis.

Ich wische über Tische und Theke und stelle die Aschenbecher auf.

An der Wand hängt das große James Dean-Poster: Boulevard of broken dreams.

James Dean geht allein im schwarzen Ledermantel mit hochgestelltem Kragen, Zigarette im Mundwinkel, Hände in den Taschen, den nächtlichen, regennassen Boulevard entlang.

Manchmal stehen die jungen Gäste - Viktor nennt sie seine Kids oder seinen Kindergarten – vor dem Idol meiner eigenen Teenagerjahre wie vor einer Ikone.

Hey Christa! Wo kann man das Teil kaufen?“

Generation der Neunzigerjahre, der Computer- und Handy-Gesellschaft - mit Millionen von Arbeitslosen. Am Horizont der Jahrtausendwende zieht die digitale Scheinwelt herauf.

Wir hatten den Kometen von Achtundsechzig, den Kometen der Illusion und der Hoffnung.


Mir läuft die Zeit davon. Ich setze mich geschwind aufs Gästeclo, ärgere mich darüber, wie nachlässig Ulf wieder geputzt hat. An der Clotür lese ich Hermann-Hesse-Sprüche, darunter den Satz in anderer Schrift: „Hey Kleine, wie wär`s, wenn du mal versuchst, selbst was auf die Reihe zu kriegen, anstatt diese obersaudämlichen Binsenweisheiten aus Müsli-Tantes Nähkästchen auszukotzen?!“

Viktors Meinung über Ulf: „Du kannst von einem Schwulen nicht verlangen, dass er das Frauenclo gründlich putzt.“ Also werde ich es morgen selbst putzen.

Erika ist am Telefon. Sie wohnt hier in Calw.

Erika jammert über die viele Arbeit mit der Kelly-Nachlassverwaltung und der Kelly-Kinder-Krebshilfe. Das sei sie ihrer besten Freundin Petra schuldig. Bärbel Boley vom Bündnis Neunzig habe gestern angerufen und auch gejammert, aber die Grünen seien ja schon immer irgendwie kritisch gewesen mit der Petra. Dann erzählt Erika weiter von ihrer neuen Konfrontation mit der Alice Schwarzer. Es gehe dabei um das Buch der Schwarzer über die Beziehung Kelly-Bastian aus der Sicht der Feministin. Dann kommt Erika ins Schwärmen über ihre Begegnung mit dem Dalai Lama, den sie einmal mit Petra zusammen besucht hat.

Ich schaue auf die Uhr. In fünf Minuten muss ich das Lokal öffnen.

Mein Siebenuhr-Gast setzt sich zu mir an die Theke. Älteres Semester, ehemaliger SPD-Genosse und Rechtsanwalt. Er erzählt von seinen Begegnungen mit Lattmann, Schmude und Walter Scheel während dessen Zeit als Bundespräsident. In Lattmanns Buch „Die lieblose Republik“ fühle er sich nicht ganz so gut behandelt.


Arne, Medizinstudent im dritten Semester, kommt an die Theke mit Freundin, diese völlig ungeschminkt, mit Zopf und mit „Das-ist-nicht-meine-Welt-Blick“.

Arne referiert nach links und rechts über das Thema Wasserverlust und wieviel ein Mensch ertragen kann.

Er verlangt Carlos Santana. Dafür kann ich ihn gut leiden.

Nun kommen die Bibliothekarinnen, lustig zwitschernd.

Micha, frisch gebackener Straßenbaumeister, betritt das Lokal mit „Hossa!“, läuft an den Mädchen vorbei, bolzgerade und hocherhobenen, kahlgeschorenen Hauptes und mit Extasy-gesteuertem Schritt.

Für Joachim, früher Polizist, heute in der Ausbildung als Sozialtherapeut, muss ich wieder Pfefferminztee kochen. Das bedeutet: ein paarmal in die Küche rennen und nachsehen, ob das Wasser kocht. Aus dem Lokal ruft es unflätig: „Chrrrrista!“ Tschelko, der hier wegen des Krieges in Bosnien untergetaucht ist, will einen Vodka haben. Tschelko macht mir einen Heiratsantrag, während ich ihm einschenke.

Eine französische Austausch-Schülerin schmust dezent mit ihrem senegalesischen Freund. Der bestellt leise auf Englisch.

Ulf sitzt an seinem Thekenstammplatz, dreht sich langsam zum Lokal hin, sieht träge, aber mit Kennerblick in die Runde der Gäste. Ulf sucht einen Mann mit Ausstrahlung. Langes Haar langweile ihn tierisch, sagt er mir. Die Socken seien ihm wichtig.

Einmal, an einem schwül-heißen Sommertag, war ich fast ohnmächtig. Ulf hat mich auf die hölzerne Wandbank gelegt, sich dann zu mir gesetzt, mich im Arm gehalten und mich getröstet, wie eine Mutter ihr Kind tröstet.

Ein Mann mit Rucksack, wie ihn Obdachlose tragen, kommt herein. Viktor duldet keine Obdachlosen im Lokal. „Kommt einer herein, dann hast du sie alle da!“

Der Mann sucht das Trockene. Ich streife ihn mit dem distanzierten „Hallo!“, das fremde Gäste bekommen. Die Stammgäste erwarten das Küsschen auf beide Wangen.

Der Obdachlose kommt schüchtern auf mich zu, hält Abstand zur Theke, bestellt ein kleines Bier. Niemand registriert ihn. Es ist hier nicht üblich, hinter Leuten herzustarren.

Olaf, Journalist und Moderator beim Fernsehen, küsst und drückt mich und hält mich zehn Zentimeter in die Höhe. Dann erst stellt er sich an die Theke und beginnt seine Monologe nach allen Seiten hin.

Der Obdachlose bezahlt. Ich schäme mich, ihm das Bier zu schenken. Er scheint meine Gedanken zu erraten. Um den Mann bildet sich eine publikumsfreie Zone. Ich nutze diese Lücke, um ein Tablett voll leerer Gläser zu holen. Jemand rempelt mich an, wirft mich gegen den Obdachlosen. Ich spüre keinen Widerstand, scheine durch ihn hindurchzufallen. Plötzlich ist er verschwunden. An die Stelle, wo er gestanden hat, sind andere nachgerückt.

Ich renne auf die Straße. Es regnet, nur ein paar Autos fahren durch die Pfützen.


Fette, graue Mäuse watscheln wiederum gemächlich durch den Spalt der Clotür, nehmen frech und selbstbewusst einen Bogen zur Küche und verschwinden dort durch irgendwelche Löcher in die Wände.

Morgens finde ich zwei Mäuse im Spülbecken. Eigentlich habe ich eine Mäusephobie. Ich nehme eine große, leere Kaffeedose vom Regal, stülpe sie auf die schockstarren grauen Pelzknäuel und schiebe den Plastikdeckel der Kaffeedose zwischen Spülbeckenboden und umgestülpte Dose. Dann gehe ich mit dem verschlossenen Gefäß zum alten Bahnhof.

Wenn ich den Deckel öffne, kriechen die Mäuse sehr langsam und betäubt aus der Dose heraus. Nun sind sie in der Freiheit.


Viktor wollte alkoholfrei machen. Das bedeutet, er trinkt nur Wein und keinen Schnaps oder Whisky.

Tina kommt ins Lokal im Dreißigerjahre-Outfit mit knallroten Lippen, Marlene-Dietrich-Augenbrauen und Bubikopf. Vom Seitenscheitel aus läuft eine weißblonde, breite Haarwelle über die Stirn und eng anliegend zum Nacken hin. Ich hasse Tina, weil sie das personifizierte Aus ist für Viktors Vorsätze. Beide würfeln sie nun um Tequilas, die ich einschenken muss, weil ich Theken-Dienst habe. „Du wirst nie und nimmer eine Spielerin“, sagte Viktor einmal zu mir mit kapitulierender Handbewegung. Es stimmt. In meinem Gehirn ist kein Bereich vorgesehen für das Kapieren von Spielregeln.

Gegen zwei Uhr morgens schließe ich nocheinmal laut hörbar die Lokaltür auf. Meine Aufforderung an die letzten Gäste, zu gehen. Es sind zwei Schachspieler. Sie trinken vorzugsweise Schorle und Mineralwasser. Viktor verachtet sie deswegen. So pflichtet er mir bei und versucht, sie mit unsanftem Karibik-Englisch in Richtung Ausgang zu schieben. Als die Tür abgeschlossen ist, gerate ich mit ihm in Streit, weil ich ihm vorwerfe, seinen Vorsatz gebrochen zu haben, beim Wein zu bleiben.

Als wir zusammen die schmale, steile Treppe hochsteigen, muss ich ihn abwechslungsweise schieben und abstützen, damit er nicht rückwärts hinunterfällt. In seinem Zimmer lässt er sich aufs Bett plumpsen. Ich ziehe ihm Schuhe, Socken und die Hose aus und merke, dass die Unterwäsche durchnässt und verkotet ist. Während ich die Wäsche in Seifenwasser einweiche, ist Viktor unter seiner Bettdecke schon am Schnarchen.

Ich gehe in mein Zimmer, versuche zu schlafen, denn um sechs Uhr spätestens muss ich aufstehen. Ich habe Dienst auf der Station.

Dann höre ich Geräusche. Ich sehe nach. Viktor steht aufrecht und mit kampfeslustigem Blick in der Küche. Ich fasse ihn am Arm, will ihn wieder ins Bett befördern. Dann reißt er mit dem anderen Arm das drei Meter lange Regal samt Dübeln von der Wand. Es fällt mit dem ganzen Inhalt zu Boden.

Am nächsten Morgen habe ich keine begehbare Küche.

Ich bin pünktlich auf der Station.

Nach dem Dienst habe ich immer noch keine begehbare Küche. Ich schlage neue, starke Nägel in die Wand, hieve das Regal hoch und befestige es provisorisch an den Nägeln mit Schnüren. Dann lese ich vom Fußboden die Scherben aus der Schmiere von Marmelade, Mehl, Honig und Reiskörnern, am Schluss das noch Brauchbare samt der Pfannen und Töpfe. Viktor kommt verkatert aus der Dusche, entschuldigt sich und wirft die paar letzten Glasscherben in den Mülleimer.

Ich beschließe, zu kündigen und mir eine Wohnung zu suchen. Mein Geld wird dafür nicht ausreichen. Morgen werde ich darüber nachdenken. Morgen und die weiteren Tage.


Die Stationsleiterin fordert mich auf, mit ihr zum Heimleiter zu gehen, der außerdem auch der Leiter der Altenpflegeschule ist. Es gebe etwas zu besprechen.

Ich fühle mich auf der Anklagebank. Offensichtlich sei ich nicht allzu gut geeignet für den Beruf der Altenpflegerin.

Folgende Punkte werden mir zur Last gelegt:

Ich sei weinend in den Toilettenvorraum verschwunden, als eine von mir betreute Heimbewohnerin verstorben gewesen sei.

Ich sei auch beobachtet worden beim Weihnachtsplätzchenbacken mit den Heimbewohnerinnen. Und zwar sei ich nicht im Stande gewesen, eine Frau davon abzuhalten, Schokoladenglasur auf den blanken Teig zu schmieren. Diese gehöre – was ich offenbar nicht wisse – auf die fertig gebackenen Plätzchen.

Dann hätte ich einmal nach Dienstschluss Angst gehabt, durch die doppelte Haupteingangstür hinaus zu gehen und hätte deswegen gewartet, bis die Stationsleiterin Dienstschluss gehabt habe, um mit ihr zusammen die Tür passieren zu können.

Ich sei einmal den Anweisungen einer examinierten, älteren Pflegerin nicht gefolgt und habe die Reihenfolge der Pflegeschritte nicht eingehalten, indem ich der Heimbewohnerin das Kleid schon vor dem Kämmen angezogen hätte.

Das ist mein Sündenregister.

Ich frage, ob es in der Schule etwas zu beanstanden gebe. Meine letzte Note für die Praxisprüfung war die beste der Klasse mit Einskommavier.

Mit Schulnoten allein bewältige man nicht das tägliche Pensum. Zwar sei ich immer flink, aber zu sensibel.

Ich wurde gefragt, wie ich mich gegen diese Beanstandungspunkte rechtfertigen möchte.

Nun weine ich und weiß: Damit habe ich schon verloren.

Die verstorbene Heimbewohnerin sei eine Obdachlose gewesen und sie habe mir besonders leid getan.

Dass man Schokoladenglasur nicht auf den Teig streichen könne, das wisse ich, weil ich mit meinen beiden Töchtern jedes Jahr in der Adventszeit Plätzchen gebacken hätte. Nur sei in dem Moment, als mein Versehen passiert sei, ein Fotograf im Raum gewesen und habe Bilder für die Zeitung gemacht. Das habe mich für einen Moment abgelenkt und schon sei es passiert gewesen.

Durch diese doppelte Glastür sei ich nur in meiner Anfangszeit nicht gern gegangen. Ich hätte eine Art Platzangst gehabt, weil man beim Durchgehen einen Moment zwischen den beiden Glastüren eingeschlossen sei, bevor die äußere Tür aufmache.

Bei der morgendlichen Toilette der Heimbewohnerin sei ich der Meinung gewesen, es wäre besser, zuerst das Kleid überzuziehen, damit die fertige Frisur nicht wieder zerstört würde.

Ich weine. Zwei Kolleginnen werden herbeigerufen als angebliche Zeuginnen für meine Verfehlungen. Der Heimleiter empfiehlt mir, eine Pause zu machen. „Ich werde Sie morgen zu unserem Arzt ins Gebäude nebenan schicken. Er ist auch ein hervorragender Psychiater.“

Ich weiß – nicht wenigen Heimbewohnern werden allein aus Gründen der Ruhigstellung Psychopharmaka und Neuroleptika verabreicht, bis sie dann bewegungslos, in sich zusammengesackt und mit erstorbenem Blick auf der Bettkante verharren und nicht mehr weglaufen mögen.

Ich gehe zum Spind, stopfe blitzschnell meine weiße Berufskleidung in die Tasche, schaue um mich, ob mich jemand beobachtet. Dann fahre ich mit dem Auto direkt in die Praxis meines Hausarztes und erzähle ihm, was vorgefallen ist. „Die Station ist mir bekannt“, sagt er mit besorgter Miene. „Sie beenden am besten sofort das Dienstverhältnis. Ich schreibe sie krank und sie gehen heim, ruhen sich aus und sorgen für Abstand. Das Übrige regeln Sie schriftlich.“


Ich bin umgezogen und stehe in einem der langen, öden Gänge des Sozialamtes. Es riecht nach Akten und Bohnerwachs und es gibt nur zwei Stühle. Die sind schon besetzt. Etwa eine Stunde warte ich stehend, es kommen neue Wartende hinzu. Meine Bandscheiben fangen an zu brennen, ein Relikt aus der Altenpflege, weil es dort heldenhaft war, die Schwerkranken ohne Lifter aus dem Bett zu hieven. Ich gehe den Gang auf und ab mit ständigem Blick auf die Tür, die sich nicht öffnen will, damit ich hören könnte: „Der Nächste bitte!“

Ich möchte nur Wohngeld beantragen“, sage ich.


Marions Rat habe ich nicht befolgt.

Marion ist vierzig, hatte früher ein Lokal auf Ibiza und trägt immer noch Brigit-Bardot-Mähne in strohigem Blond. „Du gibst das Haus nicht an! Ich kenne alle Tricks“, hat sie mir geraten.

Ich habe zeitweise in Marions Trödelladen gearbeitet, habe an einigen Samstagen in der Kälte und bei Regen hinter dem Marktstand auf Kunden gewartet, während sie sich in einiger Entfernung mit Leuten unterhielt. In der Mittagszeit schickte sie mich immer weg, um für uns Crêpes zu holen. Nach Marktschluss stellte sie dann fest: „Ich fass es nicht, wieder fehlt ein Ring, einer von den wertvollen!“ Ich suchte daraufhin alle Schmuckkissen ab. Dann fand ich inmitten der Ringe die leere Stelle. Sie könne mich nicht bezahlen, sagte sie, es sei denn mit diesem kleinen Regal und den zwei Spitzenvorhängen, unbezahlbar und heute nirgends mehr zu kriegen. Immerhin sei sie während meiner Arbeitszeit bestohlen worden. Natürlich verdächtige sie mich nicht. Was bringe ihr das auch ein.


Die Angestellte hilft mir beim Ausfüllen der Fragebogen.

Was ist mit dem gemeinsamen Haus?“, fragt sie. „Das möchte ich meinem Mann überlassen. Er hat noch eine Menge abzubezahlen und meine Töchter sind am Anfang des Studiums.“ „Das interessiert nicht“, sagt die Angestellte, „Sie bekommen Wohngeld monatlich als Darlehen.“

Der Vermieter ist freundlich und sagt mit hoher Stimme: „Sie können hier wohnen, obwohl Sie Wohngeld bekommen. Sie machen ja so weit einen guten Eindruck. Ich habe mich beim Amt informiert. Bin selbst in diesem Bereich tätig.“

Ich glaube, er ist ein lieber Mensch.

Morgen werde ich mir Arbeit suchen.

Das Schülernachhilfe-Institut vom Nachbarort sucht Lehrkräfte.

Dr. Rieger betrachtet gönnerhaft meine Bewerbungsunterlagen, darunter Zeugnisse aus

sechs Semestern Fachhochschule für Berufstätige. Weil Schluss war mit Rüdiger, habe ich damals abgebrochen. Ich stand kurz vor der Endprüfung, als ich während einer Klausur den Zusammenbruch hatte.

Tut mir leid“, sagt Dr. Rieger, „ich stelle nur Lehrkräfte ein mit Staatsexamen.“

Er windet sich lässig aus seinem Schreibtischsessel und öffnet mir die Tür.

Am selben Tag noch gehe ich in meiner Stadt unangemeldet zum Institut des gleichen Namens.

Am Schreibtisch sitzt Susanne, die junge Leiterin. Sie blättert flüchtig in meinen Unterlagen. Dann kommt sie mir fröhlich entgegen.

Du hast drei Monate Probezeit, unterrichtest hier Deutsch und Englisch. Es wird klappen! Wir Frauen müssen zusammenhalten“, sagt sie. Sie komme von der Schwäbischen Alb aus einem kinderreichen Haus, habe während des Studiums immer arbeiten müssen.

Die Unterrichtsräume sind hell gestrichen. An den Wänden hängen Zeichnungen von Schülern, Bilder und Landkarten. Durch einige Fenster sieht man den historischen Marktplatz. Es gibt gutes Übungsmaterial.

Schon in der ersten Woche unterrichte ich Grammatik, Aufsatz, Inhaltsangabe, Erörterung und Textarbeit. Für Englisch bin ich bis Klasse zehn eingetragen. Wenn ich mich zu Hause täglich auf den Stoff vorbereite, könnte ich es schaffen. Das Problem ist: Ich habe mich stets neu auf den Schulstoff einzustellen. Das ist manchmal erst im Unterricht möglich. .

Du hast auch immer mal den Kindergarten“, sagt Susanne, „das sind die Schüler bis Klasse

vier der Grundschule. Manche Eltern sind - weil stinkereich – unsere Multiplikatoren und Werbeträger. Ansonsten sollten wir, wenn`s nach denen ginge, die Kids von der Grundschule auf die Realschule oder gar aufs Gymmi rüberzaubern. Die Panik der Eltern, überfüllte Klassen, gestresste Lehrer und Schüler – und wir sollen`s richten. Du bist hier die Lehrkraft zum Anfassen, ich meine die Fachkraft, die Psychotherapeutin und die Mutti in einem“.

Eine ältere Lehrerin ruft im Vorbeigehen: „Und nicht zu vergessen die Clofrau! Man fragt sich manchmal, ob die daheim noch einen Donnerbalken haben.“

Ich bekomme Schüler-Beurteilungsbogen, die ich jeweils selbst ausfüllen muss. Susanne verwendet sie für die Elterngespräche, bei denen Eltern auch die Lehrkräfte beurteilen sollen.


Ein Schüler kündigt mir seine Klassenarbeit an, die Gartenszene zwischen Elisabeth I und Maria Stuart. „Das sagst du mir reichlich spät“, sage ich. „Was weißt du über die Geschichte Englands, die Intrigen am englischen und schottischen Hof und den Aufbau des Dramas?

Was weißt du über den Autor?“ Der Schüler zuckt die Achseln. Uns bleibt ein einziger Block von zwei Unterrichtsstunden und mir bleibt ein Wochenende für die Vorbereitung. Danach ist Klassenarbeit..

Mit Herzklopfen renne ich in die Stadtbibliothek, hole mir Sekundärliteratur und stelle zu Hause mein Unterrichtsmaterial zusammen. Die Vorbereitung wird nicht bezahlt.

Darüber entscheidet nicht Susanne, sondern das Management.

Das Management kontrolliert nicht. Es schenkt Vertrauen und die Freiheit der Unterrichtsgestaltung. Darauf antworten die Lehrkräfte mit Fleiß, Teamgeist und Flexibilität. Bei Vertrauensmissbrauch wird gekündigt.


Ich bin so glücklich, denn ich erlebe Vertrauen. Erst langsam kann ich es wahrhaben:

Ich erlebe Vertrauen als Vorleistung.

Allmählich kann wieder der Glaube an mich selbst wachsen.

Und ich sehe wachen Auges zurück auf meine Zeit im Altenheim, auf diese Hölle der Intrigen und der Bespitzelung, der Knebelung jeglicher Eigeninitiative.

Susanne hat mir die Tür zum Paradies geöffnet.

Susanne, ich werde dich nicht enttäuschen.


Sebastian, ein Grundschüler, hat alle Zeichnungen und Poster von den Wänden gerissen, sie minutiös zerfetzt und die Schnipsel auf dem Boden verstreut.. „Würdest du den Sebastian übernehmen? Ich pack`s nicht mehr!“, fragt mich Anna, „du musst ihm nur vor jedem Unterricht sein Messer abnehmen.“ Anna ist Sozialpädagogin. Der Sebastian hätte ihr gerade noch gefehlt, sagt sie. An ihr hänge alles, ihr Mann sei gestresst und streitsüchtig, seitdem er nun auch noch die Therapie für Paare angefangen habe. Den Umzug in die gemeinsame Wohnung habe sie komplett allein gemacht.

Ich akzeptiere. Meine Bedingung ist jedoch Einzelunterricht.

Sebastian kommt zur Tür herein, grüßt nicht und wirft die Schultasche in hohem Bogen von sich. Dann setzt er sich müde neben mich auf den Stuhl und drückt sein Gesicht auf die Tischplatte. Er bleibt stumm. Ich frage nicht nach seinem Messer, sondern frage, was passiert sei. Er antwortet nicht.

Ich schlage vor, wir tun heute gar nichts. Wir reden nur miteinander über das, was dich so traurig macht. Bist du einverstanden?“ Sebastian bleibt stumm.

Nach einer Weile höre ich ein leises Zischen. Das möchte verborgen bleiben zwischen Gesicht und Tischplatte.

Wenn du den Kopf etwas höher hältst, kann ich dich besser verstehen“, sage ich.

Sebastian richtet sich langsam auf, dreht dann mit schwerem Schritt eine Runde um den Tisch. Dann bleibt er stehen und schaut zum Fenster hinaus.

Wieder Stille.

Leise sagt er: „Jetzt kann ich kein Schach mehr spielen mit dem Opa.“

Ich ahne das Allerschlimmste. „Wo ist dein Opa jetzt?“, frage ich.

Auf dem Friedhof.“

Wir schweigen zusammen. Mir kommt nur diese banale Frage in den Sinn: „Wann ist die Beerdigung?“ „Morgen“, sagt Sebastian.

Kannst du nicht mit deinem Vater oder deiner Mutter Schach spielen?“

Die spielen garnix mit mir“, sagt er.

Wir schweigen zusammen. Ich bin ratlos.

Erinnerungsbilder drängen sich in mein Bewusstsein, machen mich plötzlich zum Kind.

Ich sitze auf den Knien meines Großvaters. Er spielt mit mir das Hoppe-Reiter-Spiel, spielt Backe-Backe-Kuchen, er geht mit mir in den Garten zum Eiersuchen, wenn die Großmutter feierlich verkündet, sie habe gerade den Osterhasen gesehen. Großvater lehrt mich das Fahrradfahren. Großvater übt mit mir auf der Wiese den Kopfstand. Er fängt mich auf, wenn ich vom Baum herunterklettere.

Mein Großvater ist schon viele Jahre auf dem Friedhof. Er hat immer mit mir gespielt, als ich ein Kind war. Ich war so traurig, als ich plötzlich keinen Opa mehr hatte.

Schau her, Sebastian, weißt du, was ich dann gemacht habe? Damit er in mir ein Plätzchen kriegen sollte, hab ich ihn einfach vom Friedhof weggeholt.“

Wie soll das gehen?“, knurrt Sebastian und blickt dabei durchs Fenster.


Es ist ganz einfach“, sage ich vom Tisch aus auf seinen Rücken zu, „du holst den Opa mit deinen Gedanken zu dir und baust ihm ein kleines Gedankenhäuschen tief in deinem Herzen. Er wird da wohnen und bei dir bleiben, wenn du ihn nicht vergisst. Klar, du wirst mit ihm nicht mehr Schach spielen können, aber er hat es dir beigebracht, damit du später mit deinen eigenen Kindern Schach spielen kannst und sogar auch noch mit deinen Enkelkindern, wenn du selber mal ein Opa bist.“

Sebastian dreht sich zu mir hin: „Du hast gesagt, dass ich heut nix tun muss.“

Den Regeln des Instituts entsprechend reden Schüler ihre Lehrkräfte mit „Sie“ an.

Sebastian hat das „Du“ gewählt. Ich will es ihm nicht wieder nehmen.

Danke, dass du mir deinen Kummer erzählt hast“, sage ich und öffne ihm die Tür. Dann sehe ich durchs Fenster. Sebastian steht klein und verloren auf der Straße inmitten der hektisch umhereilenden Erwachsenen. Er scheint unschlüssig, in welche Richtung er gehen soll, schwenkt seine Schultasche ein paar Mal im Kreis. Dann geht er mit mutigen Schritten über den Platz.




Das Lied der ersten Lebensräume



Winter

hinter Tüllgardinen

Fenstersprossen Gartenzaun

weiter draußen ist Krieg

aber in der alten Stube

lässt der warme Kachelofen

gütig die Kartoffeln bähen

aber in der alten Stube

hat Großvaters Schreibtisch Türmchen

und das Wachstuch Tintenkleckse


Frühling

hinterm alten Haus

Hühnergackern Katzenschnurren

weiter draußen ist Krieg

aber hinterm alten Haus

musiziert es vom Holunder

musiziert es von der Schupf

die Stare sind da


Sommer

an der alten Mühle

Bach durchwaten

Enten schnattern

weiter draußen ist Krieg

aber zwischen Sommerwolken

glitzern silberhelle Flieger

Sommervögel ohne Lied


Herbstwind

über Schlehenhecken

Hirtenfeuern Rübenäckern

weiter draußen ist Krieg

aber hintendrauß im Garten

räumt Großvater die Bäume

und das Obst in Weidenkörbe


weiter draußen ist Krieg




Großvater – Großmutter



Hinter weißen Schatten

träumt das Beerengärtchen

träumt der

Apfelbaum

das Kind

es friert

die Beeren sind

aus Glas

Zeit weht

in weißen Schatten

übers

fremde Dorf


Sonntag



Wenn die Kirchenglocken läuten

gehe ich durchs Haus

nehme Großmutters Bild von der Wand und

gebe ihm einen Rahmen

aus dunklem Holz

Großmutter sitzt an der

Nähmaschine

ihre Hände

gichtknotig

ruhen auf dem Stoff

Großmutter

gepresst unter Glas

lächelt scheu

mir ins Herz – Weißt du noch

Mir reicht das Geld nicht. Beim Lidl am alten Bahnhof sehe ich nach Lebensmittel-Sonderangeboten. Ich erfinde ein Rezept und nenne es „mein ehrliches Brot“.

Mit Haferflocken aus der Sparpackung, Salz und Wasser koche ich einen dicken Brei. Wenn er erkaltet ist, lässt er sich mit der Schaufel leicht als dicker Fladen vom Topfboden lösen. Darauf streiche ich mein Mus aus selbst gesammelten Zwetschgen. Sie bieten sich dar im Überfluss als blaue Teppiche unter wild gewachsenen Bäumen. So esse ich eine ganze Woche mein „ehrliches Brot“ mit Zwetschgenmus und freue mich diebisch über die Mahlzeit, die mich nur den Sparpreis von zwei Paketen Haferflocken gekostet hat.


Ich studiere die Zeitungsanzeigen. Eine Putzstelle könnte ich gut einbauen in meinen Unterrichtsjob. Als Putzfrau würde ich meine Gedanken baumeln lassen. Und Putzen kann ich.

Die Frau, bei der ich mich vorstelle, fragt nach meiner sonstigen Tätigkeit.

Sind Sie, wenn Sie unterrichten, auch vertraut mit der Organisation eines Haushalts, mit Aufräumen und so?“

Wöchentlich müssten die Bücher abgestaubt, die Armaturen im Bad trocken poliert und der Parkettboden mit Spezialwachs gepflegt werden. Ich müsste natürlich mit Hausschuhen arbeiten. Sie zeigt mir stolz die Besenkammer, führt mich ganz nahe heran an die Regale. Die Reinigungs- und Pflegemittel sind geordnet aufgereiht nach ihrer jeweiligen Anwendungsmöglichkeit.

In den nächsten Tagen rufe ich Sie an, wenn ich mich entschieden habe.“

Ich bekomme eine Absage.

Als Nächstes bewerbe ich mich in einer Villa. Ich drücke auf die Messingklingel am Eingangsteil der Mauer.

Es sieht nach Alarmanlage aus. Die „Gnädige“ kommt im samtenen Hausanzug, führt mich in eine mit dicken Teppichen ausgelegte Vorhalle. In deren Nischen stehen Sesselchen, Tischchen und Sofas im Stil des Rokoko, offenbar nicht nachgemacht.

Wir sitzen einander gegenüber in einer mit kuscheligem Plüsch ausgestalteten Vertiefung.

Ich bemühe mich, nicht nach der breiten Treppe hinzusehen, die nach oben zu einer rundumlaufenden, offenen Etage führt. Schließlich möchte ich keinen ehrfürchtigen Eindruck hinterlassen.

Mein Mann ist Manager einer großen Firma und arbeitet auch öfters zu Hause. Es wäre möglich, dass er an meiner Stelle hier ist, wenn Sie Ordnung machen. Aber nun sagen Sie mir, was Sie veranlasst, hier eine Putzstelle antreten zu wollen.“

Ich erzähle, mir reiche das Geld nicht, das ich für meine Arbeit mit den Schülern bekomme.

Ich hab noch eine Nachbarin in der engeren Wahl“, sagt die Gnädige, als sie mich zur Tür bringt, „eine Ausländerin, ich werde sie mir mal in den nächsten Tagen ansehen. Sie bekommen auf jeden Fall Bescheid.“

Ich bekomme eine Absage.


Dann bewerbe ich mich bei einer staatlich geförderten Stelle für Sozialarbeit. Es klappt und ich kann hier an zwei Vormittagen Deutsch unterrichten.

Die sind derart unflätig und unberechenbar, kommen teilweise aus dem Knast, erscheinen, wenn Ihnen grad danach ist“, sagt der leitende Sozialarbeiter. „Wenn`s schwierig wird, dann rufen Sie mich einfach. Wir versuchen, die Jugendlichen wieder langsam ins Berufsleben einzugliedern oder ihnen den Weg zurück in die Schule zu erleichtern.“

Der Unterricht hat längst anzufangen. Aus der Schulküche riecht es nach frisch aufgebrühtem Kaffee und Cannabis. Die Schüler hängen im Nebenraum herum, zwei Pärchen liegen kreuz und quer übereinander auf dem Sofa und turteln mit verschlafenem Blick.


Um den großen Tisch sitzen siebzehn Teens.

Hey! Ich glaub, ich pack`s nicht!“, ruft die an Multipler Sklerose erkrankte Achtzehnjährige. „Ihre Grammatikübungen sind voll doof, voll langweilig!“ Im Gymmi haben wir den Max Frisch durchgenommen.“

Wer an diesem Tisch kennt Max Frisch?“, frage ich in die Runde. Schulterzucken rundum. Ich ahne einen Verbündeten. Es ist Bernd, ehemaliger Drogendealer, vor kurzem aus dem Knast entlassen. Er hebt die Hand: „Darf ich mit den Übungen anfangen?“

Stop!“ Die beiden Skinhead-Mädchen heben lässig den Zeigefinger. Sie tragen Glatze und Nasenring. Die hochgekrempelten Jeansjackenärmel geben ihre Tätowierung frei: schwarze, fratzenhafte Hieroglyphen.

Was ist mit Geschichte?!“ Sie schieben mir einen Ausschnitt der Tageszeitung zu.

Wir fordern eine Diskussion zur Auschwitz-Lüge. Konzentrationslager, Vergasung

pi-pa-po…alles erstunken und erlogen!“

Meine Halsschlagader pocht fast hörbar. Ich suche nach Worten.

Einige schweigen gelangweilt, andere plaudern nach beiden Seiten, einer schraubt seinen Kopf leidenschaftlich in den tiefen Ausschnitt der Tischnachbarin.

Sollte ich hier und jetzt meine Antwort apportieren gleich einem braven Hund?

Eine Regel aus der Linguistik kommt mir in den Sinn. Der Bildungsstand als eine der vielen Gesprächssituationen. Für mich hieße das nun, auf den Bildungsstand der Skinheads einzugehen. Schließlich sind sie meine Schüler.

Die Zeit drängt. Ich fasse einen Entschluss, fasse ihn wie einen Rettungsanker:

Von Mephisto lasse ich mir nicht das Thema vorschreiben. Mephisto stellt Fallen, nicht um zu lernen, sondern um zu siegen.

In diesem Raum und an diesem Wochentag mache ich Deutsch-Unterricht und nicht Geschichte“, sage ich gespielt müde gegen das Pochen meiner Halsschlagader. Ich mime jenen apathischen Tonfall, der bei Jugendlichen als cool gilt.

Für den noch vorhandenen, kläglichen Rest der Unterrichtszeit verpasse ich allen ein Diktat.

Beim Einsammeln der Arbeiten sehe ich auf den Blättern der Skinheads Runenzeichen anstatt der Kommas. Damit gehe ich ins Büro der Leitung. Der Sozialarbeiter wirft einen flüchtigen Blick auf die SS-Embleme, unterbricht kurz ein Privatgespräch: “Den Quatsch müssen Sie einfach ignorieren. Die wollen Sie lediglich provozieren.“

Nach Schulschluss finde ich alle wieder im Nebenraum, eingehüllt in Zigarettenrauch und lauten „Punk“. Ich fordere sie auf, das Geschirr in die Spülmaschine einzuräumen.

Sie stehen langsam auf, gähnen und räkeln sich feixend und drängeln geschlossen wie ein Schwarm durch die Küchentür.

Jemand hat mich von außen eingesperrt. Ich klopfe und rufe und komme mir dabei kindisch vor. Draußen höre ich Gekicher. Nun sitze ich gefangen. Ich habe elend verloren.

Alle scheinen weggegangen zu sein.

Dann dreht sich langsam der Schlüssel im Schlüsselloch. Bernd ist zurückgekommen, um mich herauszulassen.

Ich gehe mit ihm zum Parkplatz. Dort stehen die beiden Schüler aus Kasachstan.

Die mit Glatze Sie haben eingesperrrt!“ rufen sie mir beflissen entgegen.

Ich lasse sie in mein Auto einsteigen. „Wo wohnt ihr? Ich bringe euch nach Hause.“

Und dann während der Fahrt: „Was macht ihr so in eurer Freizeit?“

Türken klatschen“, lachen sie unsicher in sich hinein. „Wirrr alle sind deitsch und Türken sind Ausländer.“ Ich bekomme Angst. Noch habe ich sie beide im Rücken und fahre mit ihnen über die Landstraße.


Was bedeutet das, Türken klatschen“, frage ich, um sie gedanklich zu beschäftigen.

Wirrr ziehen Messerrr. Die auch haben Messerrr!“

Ich habe Mühe, ihr Zuhause zu finden. Dann gelange ich in eine aschgraue Betonwüste. Es sind mehrstöckige, wie Gefängnismauern im Kreis stehende Wohnblöcke. Unzählige, winzige Balkone hängen an den Fassaden. Plastikbauchladen aus der Retorte.

Im asphaltierten Hof sitzen schwarz verschleierte Muslimas und tänzeln schwerelos durch ihre Sprache, mal tirilierend zwitschernd, mal melodisch gurrend. Daneben spielen Kinder in einem Sandkasten.

Streiten mit dem Messer ist nicht gut. Wir müssen miteinander reden. Reden, reden, reden! Also müssen wir Deutsch sprechen können. Nächstes Mal reden wir weiter, okay?“, sage ich zu den beiden aus Kasachstan. Dann verschwinden sie durch eine der genormten Eingangstüren.

Mich piesackt das Heimweh – gegen alle Vernunft.

Ich kämpfe dagegen an, flüchte mich in meine Parallelwelt. Hier schreibe ich in Gedanken. Mal sind es Gedichte, mal Geschichten, mal Briefe an meine Kinder. Ich schreibe und dichte bei meinen Spaziergängen, beim Autofahren, stelle mir unsere Küche vor, die nicht mehr unsere gemeinsame ist. Wir stehen an den Türrahmen gelehnt oder sitzen auf der Anrichte, erzählen und kommentieren.

Mich piesackt das Heimweh, und doch gegen alle Vernunft, denn: wäre ich auch in einem Zelt zu Hause, die Mädchen würden mich besuchen.

Immer habe ich versucht, dieses Wort zu verdrängen. Denn nach den Besuchen kommt die Todeserfahrung des Abschieds.

Es sagt sich so leichthin und verkümmert zum Gemeinplatz: Wir sind in Gedanken verbunden.

Und doch – wenn das Kind meinen Körper verlässt, beginnt schon der Abschied.


Nadja studiert Kunst in Madrid, lebt in einem kleinen, fensterlosen Raum bei einem zänkischen Ehepaar.

Melanie wird Kommunikations-Design studieren und von zu Hause ausziehen.

Auch Horst wird Heimweh haben. Nur wird er nie darüber sprechen können.


In den Ferien haben sie beide gejobbt. Die moderne Welt der Sklaven hat sich für sie aufgetan, die Welt der Büro- und Fließbandarbeit, des täglichen Einerleis der Putzkolonnen.

Selbstverwirklichung, das Modewort der Achtzigerjahre - hier ist es Utopie, ein ferner, unerreichbarer Planet.




Überall

Überall

im fremden Haus

auf schweren leeren

Eichenstühlen

körperlos

Schneeweiß und Rosenrot

körperlos

auf abgehackten Ästen und

zwischen Frühlingsblumen

euer Mädchenlachen erreicht

nicht mein Heimweh

In den Nächten

flecht ich mir

ein Kleid aus

weiß und roten Rosen

Ernst Bloch sagt im „Prinzip Hoffnung“, letzte Seite: „Heimat ist dort, wo noch niemand war.“

Heimat besteht wohl aus Teilelementen. Ich suche sie immer als Ganzes, suche sie als Besucherin bei den Eltern – und finde sie nicht. Es ist hohe Kunst, bei einem Besuch Heimat zu gestalten. Besucher und Besuchte sind daran beteiligt.

Heimat gibt und fordert.


Ich bin zu Besuch, mein kläglicher Beitrag zur Großfamilie. Meine Schwester macht Urlaub von den Mühen der Pflege, ist mit Ehemann und Kindern in den Urlaub gefahren.

So sitze ich am kleinen runden Tischchen der Mutter gegenüber.

Seit ihrem letzten Schlaganfall ist sie im Rollstuhl. Ihre Hirnfunktionen erscheinen seltsam widersprüchlich. Alle Gesten und Handgriffe einer Hilfestellung quittiert sie mit „danke“.

Wir lösen zusammen Kreuzworträtsel.

Mama, wie nennt man einen hohen Seeoffizier?“

Das Wort will mir nicht einfallen. „Admiral!“ sagt sie ohne einen Anflug von Stolz in ihrem Gesicht. Schließlich war sie mir überlegen. Ich lobe und bewundere.

Wir machen Pause.

Mir fällt plötzlich ein, was sie mir vor ein paar Jahren erzählt hat und worüber ich nie mehr mit ihr gesprochen habe. Im Zustand der Bewusstlosigkeit, nach ihrem ersten Schlaganfall, sei sie in einer Art Wartezimmer gewesen. Einige inzwischen verstorbene Alte des Dorfes hätten rundum auf Stühlen gesessen. Die Guste, ihre Schulkameradin und Nachbarin, habe gerufen: „Wie schön, Anna, dass du jetzt auch kommst!“

Mama, möchtest du mir alles nochmal erzählen?“, frage ich sie.

Lieber jetzt nicht“, sagt sie schläfrig und lehnt sich zufrieden zurück.

Später bringt sie die Nachtschwester zu Bett.

Es ist früher Morgen. Ich mache das Frühstück. Vater wird es wieder erbrechen. Zitternd sucht er auf dem Küchenbüfett nach seinen Medikamenten. Er ist ständig am Suchen.

Die Chemo richtet mich zugrunde“, sagt er. Er schleppt sich zur Eckbank, sinkt in sich zusammen. So sieht menschliches Elend aus, wollte man es wiedergeben als ein Bild.

Er weint. Früher, vor dem Krieg, habe er immer Architekt werden wollen, schluchzt er wie ein zutiefst verletztes Kind, das Geld habe halt nicht gereicht.

Architekt warst du immer“, tröste ich, „denk an die Kultur. Du hast dem Dorf so viel gegeben. Ich bin stolz auf dich.“

Irgendwie schaffe ich es nicht, ihn in die Arme zu nehmen. Das schmerzt mich noch heute.

Die Schwester kommt herein.„Die Mutter ist ins Koma gefallen.“

Ich benachrichtige meine Geschwister telefonisch.

Aus der Stimme des Bruders spricht die Mühe, den Schmerz zu verbergen - das Leiden an der Heimat.

Der Arzt diagnostiziert das Platzen eines Blutgefäßes. Es sei wohl auch die Ursache gewesen für ihre lebenslangen Kopfschmerzen.

Mutter bleibt im Koma.

Zwei Tage sind vergangen.

Ich erwache im Morgengrauen, höre Vater die Treppe hochkommen. Jeden seiner Schritte begleitet das Klopfen seines Stockes. Er knipst das Licht an, bleibt im Türrahmen stehen und sagt: „Unsere Mutter ist tot.“ Er sei die Nacht bei ihr gewesen.

Mit Vater stehe ich an Mutters Bett. Dann gehe ich roboterähnlich an meine Arbeit.


Das Bestattungsinstitut schickt zwei Männer mit einem Sarg. Sie schauen hilflos, möchten Mutter schön ankleiden. Vater sagt, ich dürfe Mutters bestes Kleid aussuchen.

Das machst du schon richtig.“

Ich nehme Mutters Lieblingsbluse vom Bügel. Es ist die seidenglänzende mit den weißen, goldfarbenen und dunkelblauen Streifen.

Meine schöne Mutter, auch noch im Tod.

Vater steht an der Tür, kleiner, dünner, blasser noch, denn jetzt tragen sie die Mutter hinaus.

Er stützt sich auf seinen Stock, schweigt und sieht zu mir herüber.



Ultra violett

Autobahn

spuckt

roten Oleander

verbrannten Schilf

Sarg

Policia aus Alicante

wozu mir einfällt

Santa Barbara und

Palmen

ein Filmstreifen

aus einem Sommer

am zugemauerten Himmel

von Benidorm

klettert Zarathustra der Affe

über Balkone

Badepuppen Anziehpuppen

Dialoge aus aufgeräumten

Schubladen

und

Träume

mit Gebrauchsanweisung

hinauswachsen über

den Schrei

zum DADA zum DADAlog

Lacoste und Cartier

for men and ladies

vom schwarzen Afrikaner

in seinen Augen schwimmt noch

das Weiß eines Traumes

wilde Hunde gehen ihre Wege

mit gesenktem Blick

harren Pudel in Käfigen

laufen Ponys im Kreis

auf der Fiesta

gekettet an Eisenstäbe

hey viva Espana

verblutet der Stier

auf der Corrida

Augen

Blicke

dahinsterbend

heißer Atem aus dem Stein

vom Castillo

Heimweh

nach Herbstlicht

 

 

 

Die Frau



Er liegt neben ihr, animalisch ausgestreckt. Er schläft. Sein Arm hat sich von ihrem Bauch gelöst. Sie fühlt Liebesentzug, sehnt sich wieder nach der zwillingshaften Körperlichkeit, ist bereit, sie auszuhalten, selbst wenn sich Überdruss einstellen sollte in Momenten, wo er sie degradiert in ihre bloße Weibchenrolle.

Seine Männlichkeit geht ihr vor Schönheit. Gier ist darin enthalten, ja Gier nach ihrem Körper.

Du bist die Frau, die ich immer gesucht habe.“

Man nannte sie die „Softies“, Männer, denen dergleichen nie über die Lippen gekommen wäre. In jedem Softie-Kopf mussten Sätze wie dieser auf den Seziertisch, bevor „mann“ sie entlassen würde. „Frau“ durfte niemals den Wunsch nach Inbesitznahme hineininterpretieren. Man kannte die „Schwanz ab!“-Zensur der Alice Schwarzer.

Der Feminismus in seiner Radikalität scheint allmählich abzuebben. So sieht sie in ihm lediglich noch den notwendigen evolutionären Teil der Geschichte.

Für ihr Weibchen-Glücksgefühl ist sie bereit, zu leiden. Sie leidet, wenn er zuviel getrunken hat, wenn sein Gesicht sie fremd und hämisch anstarrt.

Deine Gedichte werfen nichts ab! Schreib einen Bestseller und häng nicht so verbohrt an deiner Lyrik! Wer kommt zu deinen Lesungen? Nichts als weltfremde Sektierer!“

Kaum atmend liegt sie neben ihm. An der Decke kreist das Scheinwerferlicht der nahen Disco, ein wildgewordener Uhrzeiger. Die Klimaanlage surrt monoton. Durchs geschlossene Fenster drängt Tingeltangelmusik. Die Autoscooter-Anlage läuft bis in die frühen Morgenstunden. Touristensommer in Spanien.

Wir könnten ein halbes Jahr hier wohnen. Ich suche eine Finca für uns beide. Ich halte den deutschen Winter nicht mehr aus“, sagte er, gebetsmühlenhaft vor sich hinnörgelnd und um Verständnis flehend. Er sagt es in jedem dieser Urlaube am Meer.

Für mich ist es eine Frage von Heimat“, sagte sie wieder, „mir fehlt die Muttersprache um mich herum, weißt du, quasi das Biotop.“

Du suchst doch ständig nach Heimat und am wohlsten fühlst du dich, solange du danach suchst! Die schwarze Wildkatze begnügt sich mit dem Schüsselchen Milch.“

Du hast den Text gelesen?“, fragte sie.

Ich lese alle deine Texte.“

Er schien eifersüchtig zu lauern.

Später weckt sie das grelle Licht, das aus der Küche kommt. Im Türausschnitt sieht sie ihn aus der Speisekammer kommen. Zelebrierend schwenkt er eine Whiskyflasche. Dann verweilt er lange beim Trinken.

Sie rennt auf ihn zu, fleht ihn an, er möge aufhören, versucht, ihm die Flasche aus der Hand zu reißen.

Sie weint. Er stößt sie zu Boden, schlägt mit seinen Fäusten auf sie ein.

Nun liegt sie reglos. Er kommt mit Bierflaschen, schlägt wieder auf sie ein, öffnet eine Flasche, gießt das Bier über ihren nackten Rücken, stampft mit seinen Füßen zu und öffnet die nächste Flasche. So geht es im Wechsel.

Irgendwie ist sie in ihr Bett gekrochen, kann noch denken, sie hätte kein Geld bei sich, wollte sie noch heute abreisen.

Dann kommt federleicht ein Strohhalm angeschwommen in diesem Meer von Ausweglosigkeit. Es sind nur ein paar Worte. Sie fügt sie zu einem Gedicht.


Wetten wir? Ich pflück dir noch ein Edelweiß. Die Stelle kenn ich.

Ein Edelweiß für mein Weib, für meine Annerose.“

Mark lacht mich an. Das Geheimnis meiner Liebe sind Marks Züge von den Nasenflügeln hin zum Mund. Jetzt lächeln sie jungenhaft, wagemutig.

Dann wendet er die Augen nachdenklich ins Leere.

Ich schreibe nach langer Pause.

In den letzten Jahren nach Marks Krebsdiagnose sind die Besucher weniger geworden, es kamen spärlich noch Telefonanrufe mit Alibi-Funktion. Dann blieben auch diese aus. Bei unseren Spaziergängen durch den Ort beeilten sich Bekannte, die ihren Schwatz im Freien hielten, schnell ins Haus zu kommen. Meine Töchter – ich mag sie, sagte Mark – besuchten uns wie immer, beide mit Freund. Mark chauffierte uns zu einem Bergrestaurant mit Tanzmusik, präsentierte uns den Blick – seinen Blick – hinüber zu den Schneegipfeln, sagte ihre Namen. Er kannte sie alle – vom Säntis bis zum Wettersteingebirge.

Es folgten Krankenhausaufenthalte, Operationen, Chemotherapien.

Dazwischen gab es diese Hochs: Konzerte, Opern, Mark als Solist in einem Musical, obgleich wir beide Musicals nicht mochten.

Mark spielte auf seiner Gitarre, ich summte dazu, er sang die Protest-Songs seines Allgäuer Barden, er sang im knorrig-widerborstigen Dialekt der Heimatstadt.

Dort, auf dem Friedhof, ruht er mit Blick auf seinen Hausberg, den Grünten.




Du bist fort

Du bist fort

So bist Du in meinem

Schweigen

So lerne ich früh

dass man allein

stirbt


Ich bin umgezogen, arbeite wieder mit Schülern, übe am PC und quäle mich mühsam durchs Internet.

Monatelang reihen sich einsame Abende und einsame Wochenenden aneinander.

Ich strukturiere die jobfreien Tage, wandere eine Stunde lang mit schnellem Schritt.

Im Sommer fehlen mir die Bäume, ihre behütende Anwesenheit. Die Liebe zu den Bäumen habe ich mit Mark geteilt.

Die Kleinstadt langweilt mich. Sie verkümmert zur Puppenstube, durch die sonntags einige Rucksacktouristen schlendern.

Verordnete Sonntags- und Feiertagsruhe mieft mich an, sie ängstigt mich im Vorhinein.

Am allermeisten quälen mich die Schulferien. Noch als erwachsene Frau hatte ich den immer wiederkehrenden Traum:

Es ist Sonntag. Das Licht ist gleißend hell, die Dorfstraße weiß und staubig.

An den Seiten türmen sich Kieshaufen. Die Straße führt ins Nirgendwo. Ich bin allein.


In einer Single-Freizeitgruppe meine ich nichts Heimatliches zu finden und mache kehrt schon an der Eingangstür des Saales, wo sie alle an langen Tischen sitzen, laut lachen oder kichern, einander zuprosten und durcheinanderreden. Ich setze mich ins Auto und fahre durch den Regen in die Nacht.


Übers Internet lerne ich Männer kennen.

Manchmal kommt es zur flüchtigen „Tasse Kaffee“. Ich verordne mir eine Anstandsfrist, zähle die Minuten, bis ich sie ausgesessen habe und wieder am Steuer sitze.

Dann umfängt mich wohltuend die Anonymität der Autobahn.

Süßer Vogel Freiheit…

Allmählich avanciere ich zur eifrigen Mitspielerin im Partner-Monopoly. Es vermittelt mir die Illusion, die Suchenden seien beliebig verfügbar. Und es schockt mich wiederum mit der Erkenntnis, der Mensch nehme Warencharakter an, werde angepriesen, preise sich selber an, nicht selten durch das raffinierteste Understatement.

Es sei „nichts Besonderes“ an ihm, schreibt dieser Er im Partnerprofil, outet sich dann aber profilierungssüchtig mit Segeln, Golfen, Weltreisen, mit Reitsport und einer Labrador-Hündin.

Andere wiederum geben „getrennt lebend“ an.

Ich sage mir, „was nicht ist, kann ja noch werden“, verabrede mich zum obligatorischen Kaffee, werde zu einem weiteren Treffen eingeladen, bekomme von „ihm“ die Telefon-Nummer, Festnetz und Mobil. Ich rufe an und bin diskret. Es meldet sich eine Dame.

Sind Sie die Ehefrau?“, frage ich und fühle mich idiotisch naiv. „Ja wer denn sonst?“, antwortet sie aufgebracht. Ich weiß nicht, was ich antworten soll, lege auf und werfe die Visitenkarte in den Müll.

Ein anderer lädt mich in sein Haus ein. Ich habe Mut. Einem Lehrer, der am Ort bekannt ist, sollte ich Vertrauen schenken.

Er führt mich ins Kellergeschoss, das in den Garten führt und voller selbstgezüchteter Topfpflanzen steht, vom winzigen Setzling bis zum hochgewachsenen Stamm. Seine Monologe über ökologisch sinnvolle Pflanzenzucht lassen mich nicht zu Wort kommen.

Er stinkt ungewaschen, am meisten vom Kopf her.

Ich solle doch zum Abendessen bleiben.

In der Küche schneidet er Petersilie klein samt Stielen. Die seien besonders vitaminreich, sagt er mit hochgezogenen Augenbrauen.

Jetzt erst bemerke ich fahlgelbe, dicke Nagelpilzkrusten an seinen Fingernägeln.

Er schneidet zwei dünne Scheiben Brot vom mehligen Bauernlaib, teilt sie in der Mitte, legt davon zwei auf meinen Teller und zwei auf den seinigen, belegt sie mit je einer hauchdünnen Salamischeibe und streut hingebungsvoll Petersilie darüber.

Mich plagen Hunger und Ekel vor dem Nagelpilz gleichermaßen. Letzten Endes verordne ich mir Wohlerzogenheit. Ich bedanke mich und esse.

Der Ekel hat sich in meiner Erinnerung festgesetzt.


Dann der Andere. Jedes Thema, in das wir uns bei seinen täglichen Anrufen hineinplauderten, brachte uns einander näher. Seine Stimme hatte nichts Störendes. Wir vereinbarten ein nachmittägliches Treffen in seinem Haus. Er wolle mir seinen Garten zeigen und sagte dies in einem seltsam flehenden Ton.

Ich stehe am Vorgartentürchen, drücke auf die Klingel und warte.

Die Haustür geht auf. Ein kleiner, gebückter Mann, schätzungsweise im Greisenalter, schlurft mir in Hausschlappen entgegen. Er lächelt zufrieden blinzelnd und führt mich behutsam durch den Hausflur. Der ist dunkel, riecht ungelüftet und ist ausgekleidet mit Bücherregalen. Es sind fast ausnahmslos Antiquariatsausgaben.

Er zeigt mir stolz sein Wohnzimmer.

Da drohen dunkle Schrankfronten mit finsteren Gesichtern aus einem Wust von Ranken, Schnecken und Rosetten.

Es drohen dunkelbraune Ledermöbel. Die geschwungenen Rückenlehnen sind durchsetzt mit Lederknöpfen. So bildet sich wiederum ein Muster von Lederkissen.

Es drohen Teppiche mit diffusem Design, alle in Schwarzbraun und aggressivem Ocker.

Ich solle auf der Terrasse Platz nehmen.

Auf den Mäuerchen lungern die Gartenzwerge. Ihre Gesichter glänzen fett lackiert und lachen einfältig profitlich.

Was ist ästhetisch an Gartenzwergen? Was ist ästhetisch an der Mittelmäßigkeit?

Ich schüttle die Frage ab wie ein lästiges Insekt.

Nun schenkt er mir den schon flockigen Saft ein, dazu noch einen winzigen Schuss Sekt aus angebrochenen Flaschen. Die Haut an seinen Händen ist welk und blass.

Sie können nachher mit mir die Tagesschau ansehen.“

Er rückt einen zweiten Fernsehsessel mit Hocker herbei zum Beine-auflegen und gibt mir dazu eine weiche Decke.

So lasse ich mich angewidert in diese Philomen-und Baucis-Figuration hineinzwingen.

Auch er liegt nun mit hochgelegten Beinen neben mir, demonstrativ zufrieden.

Ich bin nicht länger gewillt, die Situation mit Artigkeit zu meistern und frage ihn nach der Toilette.

Ja das ist doch ein Bedürfnis, das man nicht unterdrücken soll!“ Er zeigt besorgt in Richtung Flur. Noch läuft der Hauptteil der Nachrichten.

Vorne das Bad für das kleine, hinten das Gäste-WC für das große Geschäft!“

Ich danke, winke ab, als er sich schmunzelnd anschickt, aufzustehen, gehe betont gelassen in Richtung Garderobe, die neben dem Bad ist, zerre hektisch meine Jacke und meine Tasche vom Haken, sehe um die Ecke ins offene Wohnzimmer.

Immer noch liegt er ruhig mit zusammengefalteten Händen und folgt der Tagesschau. Ich reiße ein kleines Stück Papier aus der Tasche, schreibe darauf zitternd einen kurzen Abschiedsgruß und danke für die freundliche Aufnahme.

Dann öffne ich leise die Haustür, renne auf die Straße, renne ohne noch einmal zurückzusehen.

Nach einer Ewigkeit komme ich zur Bushaltestelle. Ich friere.

Der Bus kommt angefahren, gutmütig brummend und schwerfällig,

ein rettendes Riesentier aus der „Unendlichen Geschichte“. Es nimmt mich schützend auf in seinen Bauch und bringt mich fort.

Wieder bin ich umgezogen.

Die Stadt atmet ihr lebensmutig-quirliges Willkommen.

Sie atmet es aus allen Poren. Sie hebt mich auf die Schwingen ihrer ungestümen Luft, die von der Taiga kommt.

Es ist Januar.

Gibt es eine Liebe zwischen Mensch und Stadt?

Ich bin Annerose aus dem Süden. Im Frühjahr bringt der Heimatfluss das Gletscherwasser aus den Alpen. Bei Föhn steht am Horizont die Kulisse der Berge.

Ich kenne viele Abschiede“, sage ich zu dieser Stadt, denke es vielmehr zu ihr hin, wenn ich über den Kudamm schlendere.

Die kenn ick ooch“, höre ich sie durch ihr lautes Getriebe, „meine Menschen - die erzählen dir wat von Abschieden! Da biste nischt alleene.“

Am Brandenburger Tor demonstrieren Türken und Araber für ein demokratisches Ägypten, darunter Frauen im schwarzen Tschador, der eine Luke freigibt für die wunderschönen schwarzen Augen.

Hinterm Bahnhof Zoo stehen Obdachlose für ein warmes Essen an.

An der Mauer der U-Bahn-Unterführung sitzen Junkies inmitten ihrer Hunde und hantieren mit Schlafsäcken und Essgeschirr.

Auf den Bänken am Alexanderplatz tummeln sich Teenies zum „Komasaufen“. Ein Mädchen sammelt herumliegende leere Bierflaschen ein. Zwei Jungen stehen gegeneinander wie Kampfhähne. Es geht um das Mädchen, das weinend abseits steht. Der eine Junge holt mit der Bierflasche zum Schlag aus.

Ich renne nach einem Polizisten. Der steht, seine Zigarette rauchend, in einiger Entfernung.

Ja wat meinen Sie denn, wat ick da jeden Abend zu tun hätte?! Det sieht schlimmer aus als

et is! Sie sind wohl nicht von hier?“

Dann geht er ein paar Schritte weiter, hebt kurz die Hand und grüßt freundlich.

Ich sitze in der U-Bahn. Ein junger Mann döst apathisch vor sich hin. Dann platzt der Weckruf lauter Rap-Musik aus seiner Jackentasche. Er zerrt sein Handy heraus.

Hey Mann, Mann! Isch hab drei Stunden geschlafen!“

Drei Männer, etwa um die Dreißig, gestikulieren elegant und gepflegt-eifrig, lehnen sich mit Standbein – Spielbein gegen die Haltestangen.

Einer erklärt, wie man die bei einer Party übriggebliebene Spaghetti-Bolognese am besten aufbewahren könne.

An der nächsten Haltestelle steigt eine Gruppe Lateinamerikaner zu, walzt durch die Gänge mit Musik aus den Anden. Ein kleiner, magerer Junge sammelt das Geld ein.

Draußen steigt ein Tross Models aus der Bahn.

Es ist Fashion-Woche in Berlin.

Sie staksen linkisch in Stiefeletten, den Blick ins Nichts gerichtet, als wären sie auf dem Laufsteg. Alle über einsachtzig, nachlässig behangen mit schwerem Schal-Mantel-Gewirre.

Es reicht nur knapp bis unter den Po und gibt ab da die langen, in enge Leggins gezwängten Beine frei.

Die Rosenthaler Straße herunter kommt mir majestätisch ein junger Mann in Schlafanzughosen entgegen. Auf dem Kopf balanciert er einen riesigen Badetuch-Turban in leuchtendem Blau.

Ich schaue hin.

Und ich mache mir Gedanken über das Hin- und das Wegschauen.

Das Wegschauen habe ich erlebt anderswo.

Es drängte sich mir auf als pure Ignoranz, als ein Bedürfnis der Einheimischen, sich abzuschotten.

So weckte es in mir das Heimweh nach dem Süden.

So fühlte sich die Gegend an, die meine Eltern „die Fremde“ nannten.

In dieser Stadt scheint das Wegschauen zu verbinden.

Man schaut nicht hin, wenn der Anorak schäbig ist und der andere mit echtem Pelz.

Man schaut nicht hin, wenn auf der Straße Kopftuchfrauen dich im Pulk zur Seite schieben, wenn Hautfarben wechseln zu Bronze oder Kaffeebraun und ins Schwarz der Elfenbeinküste, wenn Gesprächsfetzen fremder Sprachen, fremder Dialekte mit dir Schritt halten oder schnell an dir vorüberhuschen.

Du schaust hin und du schaust wiederum nicht hin. Der Blick geht solidarisch ins Weite.

Ich beende mein Tagebuch, ohne einen Schluss gefunden zu haben.

Ein Schluss sollte sich nicht weise aufspielen, sage ich mir und ich sage es zur Stadt,

also gehe ich hoffnungsvoll inmitten deiner Bäume.

Bald werden sie wieder grün.




Violett

Worte

wie dünnes Glas

Einwegworte

Auge in Auge schon

entsorgt

diesseits

der verbotenen Zonen

wo wir fast alles

pseudo

finden

wir

von violett - wass kan dinsky


aber in meiner

WG am Prenzlauer Berg

sitzt eine

Barbiepuppe

aus Moskau

Nadeschda violett aus Rot und Blau

abends trinken wir

unseren Wodka

mit Büffelgras

du weites Land

deine Augen

brennen wie Feuer

durch Worte

Einwegworte

aus dünnem Glas



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Der Intimfeind

und andere Kurzgeschichten und Gedichte

 

 

42 Geschichten und Gedichte aus zwei Welten,
der realen und der surrealen Wahrnehmung





​Der Intimfeind


Es war einmal in den dunkelsten Tiefen der Vergangenheit.

Fragt nicht nach einem Ort, fragt nicht nach Jahr und Tag, denn Raum und Zeit, die gab es noch nicht.

Es gab weder Materie noch Antimaterie, noch das Atom, noch Quarks, noch Higgs noch Strings und vieles mehr. Und es gab auch kein Schwarzes Loch.

Indessen existierten da zwei Wesen, die standen einander gegenüber, ein jedes ausgestattet mit unendlicher Macht.

Doch fragt mich nicht, wer sie geschaffen hat.

Das eine Wesen nannte sich DAS ETWAS, das andere DAS NICHTS.

Das Etwas hatte Flügel und trug einen Mantel aus leuchtenden Farben, das Nichts einen schneeweißen, weichen Pelz.

Du bist mein Intimfeind, sagte das Etwas freundlich zum Nichts.

Würdest du garnicht existieren, ja dann wärst du mein Todfeind. Und mit dem Tod mag ich nicht reden.

Aber schau her, mein wertes Nichts, nun stehen wir herum und jeder ist für sich allein. Wir könnten zusammen etwas bewegen. Ich brauche dich, brauche, dass du mir widersprichst. Ich brauche dein Schweigen.

Warum antwortest du nicht?

Sollte ich mir denn ein Etwas wünschen, ein Etwas wie einen Zwilling?

Bewahre mich vor diesem Urteil. Bewahre mich vor dieser Langeweile!

Warum rührst du dich nicht? Bist du etwa doch der Tod?


Da plötzlich öffnete das Nichts ärgerlich ein Auge. Es hatte geduldig zugehört.

Sag nicht, ich sei der Tod! Ich existiere. Doch ich existiere als das Nichts und meine Macht reicht in die Ewigkeit!

Dennoch, wertes Etwas, schmeichelst du mir.

Nanntest du mich nicht eben deinen Intimfeind?

Das klingt nach Logik und nach ewiger Wahrheit.

Du überzeugst. So lass mich dein Begleiter werden zu meinen Bedingungen.

Ich will dein ewiger Widerspruch sein.

Ich will mich dir in den Weg stellen, wenn du überquillst vor Schaffensdrang, vor Glück und Freude.

Ich will dich hinter deine Grenzen weisen.

Ich bin dein Vergehen und dein Sterben.

Aber vergiss nicht, nur so kannst du wieder auferstehen.


Das Etwas schlug ungeduldig die Flügel. Es ahnte den Zauber des Aufbruchs. Jedoch das Nichts fuhr fort:

Wir werden Wesen schaffen, die uns nicht gönnen, im Widerspruch ein Paar zu sein.

Mich, das Nichts, werden sie das Böse nennen, den Tod oder den Teufel.

Sie werden nicht aufhören, mich zu verdammen.

Aber einmal, in einer helleren Zukunft, werden wir Wesen schaffen von unserem Geist .

Diese werden uns zusammendenken, dich als das Etwas und mich als deinen Intimfeind, das Nichts, und uns beide als ein ewiges Paar.

Das Etwas schlug die Flügel.

Es fühlte sich glücklich, wippte und tänzelte verführerisch.

Drum, mein Intimfeind, lass uns zusammen aufbrechen!

Lass uns lebendige Welten schaffen!

Lass uns streiten und lass uns kämpfen!

Wir haben keine Wahl.




​Nichts


Warten worauf

und doch


ein Gefäß umschließt

das Nichts


Nichts geschieht

im Gefäß des Nichts


außer dem Hand in Hand

von Gefäß und Nichts





​Brücken


ziellos treiben

auf intervallen

zwischen den inseln

unserer highlights


wachsen sehen

aus intervallen

brücken mit schwingen

von mir zu dir

mein festland

ist fern

da stehen stolze brücken

mit füßen aus beton




​Tante Lene


Liebe Tante Lene,

seit einigen Jahren bist du tot. Ich hab` dich nicht vergessen.

Wo bist du nun?

Mein Brief soll den Weg zu dir finden.

Es geht darin um mein Geheimnis.

Doch - ihr Toten schweigt.


Ich suche nach Worten für die Zeit, die du mit uns gewesen bist.

Du warst das jüngste der neun Geschwister meiner Mutter, zierlich, klein und zerbrechlich.

In den Kriegs- und Nachkriegsjahren hast du für die Leute im Dorf Kleider genäht aus karierten Bettbezügen und Vorhangstoffen. Deine Nähmaschine rasselte den ganzen Tag in der guten Stube.

Eines Tages warst du schwanger von Onkel Fritz. Nach langer Russland-Gefangenschaft hat er dich geheiratet und zu sich auf den Hof geholt.

Da waren noch die beiden Schwestern von Onkel Fritz und seine alte Mutter.

Immer wieder hörtest du von den Schwestern, du seist ohne jede Mitgift gekommen. In der Küche hattest du nichts zu bestimmen. Dein Platz war im Stall und auf den Feldern. Dort musstest du das Heu mit der Gabel wenden und das Getreide kniend zu Garben binden.

So wurde dein Rücken mit den Jahren krumm, du wurdest immer kleiner und musstest selbst zu deinen halbwüchsigen Kindern aufschauen.

Im Stall gab es eine Kuh, die ließ sich nur von dir melken. Den Schwestern haute sie ständig mit dem Schwanz ins Gesicht.


Tante Lene, immer noch trage ich die Schuld mit mir herum, dass ich dich nicht oft genug besucht habe. Nein, ich kann es nicht damit entschuldigen, dass ich in der Fremde war, wie du es immer nanntest.

Weißt du noch, Tante Lene...

Bei meinem Besuch zeigtest du mir deine ganze Menagerie von den Ställen bis zum Hühnerhof und du gabst mir frische Eier und Äpfel.

Als ich mit dir allein hinterm Schuppen stand und dich fragte, wie es jetzt so mit Deinem Mann und seinen Schwestern sei, da sagtest du leise:

Wenn sie böse sind, dann gehe ich in den Wald. Da gibt es einen Jäger-Hochsitz. Ich klettere die Leiter hinauf und setze mich auf die Bank. Dann singe ich das Lied ` So nimm denn meine Hände' und schon geht`s wieder besser.


Einmal hörte ich, du seist im Krankenhaus, es ginge dir nicht gut.

Ich fuhr hin, um dich zu sehen. Du warst an das Beatmungsgerät angeschlossen.

Aus deinem Körper hingen Schläuche auch für die Zu- und Abfuhr der Infusion.

Dein gekrümmter Rücken drückte gewaltsam den Kopf nach unten und dein Körper folgte beständig dem Takt des Beatmungsgerätes, bäumte sich kurz auf und sank wieder in sich zusammen. Aber deine Augen haben zu mir aufgesehen und sagten mir: Es ist unser Abschied.


Ich eilte auf dem Krankenhausflur nach Hilfe.

Einen vorbeieilenden Arzt flehte ich an: Bitte, es geht um meine Tante auf Zimmer 304!

Gibt es eine Patientenverfügung? fragte er. Nicht? Ja dann kann ich nichts tun.

Die Krankenschwester nahm mich am Arm: Da kommt die Visite, sagte sie.


Bitte! Helfen sie mir! Es geht um meine Tante auf Zimmer 304, rief ich wieder und stellte mich einfach in den Weg.

Der Oberarzt gab seinem Tross fliegender Weißkittel das Zeichen, weiterzugehen und er nahm mich beiseite.

Aber er blieb stumm. Dann drückte er mir wortlos die Hand und ging weiter.

Am nächsten Morgen rief mich meine Schwester an:

Tante Lene ist tot, sagte sie, die Krankenschwester meinte, sie sei ganz friedlich eingeschlafen.


Ich war bei deiner Beerdigung, Tante Lene.

Der Chor hat dir zum Abschied das Lied gesungen: 'So nimm denn meine Hände`, dein Lied, das du im Wald auf dem Hochsitz gesungen hast.














​Im Hamsterrad


Sieh zu
dass du Tritt fasst
dass du eins bist mit deinem Tritt
dass du nicht fragst
nicht hoffst nicht wartest
denn du wirst nicht ankommen





​Die Toten


In meinem fernen

Zuhause

reden sie

reden

Alltagsworte

und weinen nicht

über Ungesagtes

ihnen Verwehrtes

und wissen doch

vom großen Nichts

das sie

behutsam

in den Armen wiegt





​Lied der ersten Lebensräume


Winter

hinter Tüllgardinen

Fenstersprossen Gartenzaun

weiter draußen ist Krieg


aber in der alten Stube

lässt der warme Kachelofen

gütig die Kartoffeln bähen

 

aber in der alten Stube

hat Großvaters Schreibtisch Türmchen

und das Wachstuch Tintenkleckse


Frühling

hinterm alten Haus

Hühnergackern Katzenschnurren

weiter draußen ist Krieg


aber hinterm alten Haus

musiziert es vom Holunder

musiziert es von der Schupf

die Stare sind da


Sommer

an der alten Mühle

Bach durchwaten

Enten schnattern

weiter draußen ist Krieg


aber zwischen Sommerwolken

glitzern silberhelle Flieger

Sommervögel ohne Lied

Herbstwind

über Schlehenhecken

Hirtenfeuern Rübenäckern

weiter draußen ist Krieg


aber hintendrauß im Garten

räumt Großvater die Bäume

und das Obst in Weidenkörbe

weiter draußen ist Krieg



​Großmutters Sonntag


Wenn die Kirchenglocken läuten

gehe ich

durchs Haus

nehme Großmutters Bild

von der Wand

und gebe ihm

einen Rahmen

aus dunklem Holz

Großmutter an der Nähmaschine

ihre Hände

gichtknotig

ruhen

auf dem Stoff

Großmutter

gepresst unter Glas

lächelt scheu

mir ins Herz

Weißt du noch .…




​Shopping


Maria wohnt in Berlin-Dahlem mit Robert, Zahnarzt im Ruhestand.

Robert und Maria lieben das Understatement.

Ihr Haus hat keinen Park, dafür im Garten Beerensträucher.

Auch beim neuen Rover achteten sie auf Gediegenheit.

Das grenzt uns ab gegen den Plunder der Berliner Neureichen, sagt Robert, alter Adel braucht keinen Park ums Haus.

Alter Adel - das klingt gut, dachte vor Jahren Maria und holte sich den Salon der Berliner 1820er-Jahre in ihr geräumiges Haus.

Rahel Levin musste Mut beweisen, hat ihren Salon in einer Dachkammer begonnen, die Arme, sagte Maria zu Robert. Na ja, bei Rahel gingen aber Leute wie Hegel, die Brüder Humboldt, Bettina von Arnim und Heinrich Heine ein und aus.

Bei Maria und Robert waren es die Freunde vom Golfclub.

Eines Tages war es dann mit dem Salon zu Ende. Das kam so:

Alexander, Roberts Kollege von der Charité, sagte irgendwann verärgert in die Runde:

Leute, ich bin sackmüde und hab jetzt nichts mehr am Hut mit Goethes `Wahlverwandtschaften'. Zur Zeit sitz ich nur noch am Computer oder fülle Formulare aus. Das wäre Schwesternarbeit. Aber Ihr wisst ja - der Pflegenotstand.

So ging man wenig erbaut auseinander.

Die Sache mit dem Salon war beendet und Maria wollte als die harmoniestiftende Gastgeberin ihr Salonprojekt nicht weiter verfolgen.


Es ist frühmorgens. Maria sitzt mit Robert beim Frühstück und schreibt ihren Einkaufszettel. Vergiss nicht das Meersalz vom KaDeWe, Gourmet-Abteilung, du weißt schon, und...ach ja, der Whisky ist alle.

Tut`s auch das Meersalz vom Bioladen? Da muss ich eh noch hin, fragt Maria.

In einer Woche steigt im Heidelberger Schloss eine Hochzeit. Es ist der Sohn von Roberts Bundesbruder.

Dann hol ich gleich noch am Kudamm das Kleid ab, sagt Maria. Die Heidelbergerinnen, garantiert aufgetakelt, sollen geschockt sein, aber erst auf den zweiten Blick. Hauptstadt-Fashion, weißt du, quasi Jil Sander-Purismus, Etuikleid, graue Seide, leicht übers Knie und Rundausschnitt.

Robert findet daran nichts Überraschendes und liest die Zeitung.

Maria holt den Range Rover aus der Garage und fährt in Richtung Charlottenburg.

Dann plötzlich macht sie eine Vollbremsung.

Eine Frau huscht auf den Zebrastreifen, bleibt auf halbem Weg vor dem Rover stehen, wendet das Gesicht und blickt durch die Frontscheibe Maria direkt in die Augen.

Die Frau lächelt - und Maria kennt dieses Lächeln, Maria kennt diesen Blick.

So freundlich und doch so ängstlich und verwundbar.

Die Frau ist etwa 35 Jahre alt, jünger als Maria, und sie trägt einen etwas schäbigen, mausgrauen Stepp-Anorak. Jedenfalls uncool und vom Textil-Discounter, denkt Maria.

Das pechschwarze Haar der Frau ist im Nacken weich geknotet.

Maria hupt und die Frau geht flink zur anderen Straßenseite.

Mit unbewusster Grandezza - und Maria kennt diese Bewegung - wendet sich die Frau nocheimnal hin zum Rover, als möchte sie etwas sagen.

Maria weiß in diesem Moment: Es ist die Mutter ihrer Kindertage.

Dann folgt sie ihr bis zum Parkplatz eines Supermarktes.

Die Mutter verschwindet durch den Hintereingang.

Warum heute nicht hier einkaufen? sagt sich Maria.

Mit dem voll beladenen Einkaufswagen stellt sie sich in die Schlange.

An deren Ende sitzt die Mutter als Kassiererin.

Mutter, denkt Maria, so hast du hier Arbeit gefunden.

Die Mutter lächelt, als habe sie verstanden, aber sie blickt den Kunden nicht ins Gesicht.

Hallo! sagt die Mutter.

Hallo! sagt Maria zurück.

Dann klingt es wie eine kleine, schüchterne Melodie: Und Ihnen noch einen schönen Tag!

Ja, danke, Ihnen auch, sagt Maria.

Es gibt keinen Blickkontakt, denn schon dreht sich die Mutter hin zum Förderband.

Maria schiebt den Einkaufswagen zum Parkplatz und belädt den Kofferraum.

Dann setzt sie sich ins Auto und wartet.

Sie weiß nicht, wie lange sie so gesessen und gewartet hat.

Nun ist der Parkplatz gähnend leer. Es sieht nach Ladenschluss aus.

Im Innern des Supermarktes löschen sie die Lichter.

Ein Mann vom Personal verlässt mit Rucksack den Hintereingang und fährt auf seinem Fahrrad davon.

Maria wartet.

Langsam wird es dunkel.

Die Mutter kommt nicht mehr.




​Am Fenster


Damals

saß ich am Fenster

wartend

auf dich

und

dann kamst du

und

es war mir

eine Ewigkeit von Glück

und

dann kamst du

ein letztes Mal





​Katerfrühstück


Er liegt neben ihr, animalisch ausgestreckt. Es ist gegen drei Uhr morgens.

Sein Arm hatte sich langsam von ihrem Bauch gelöst. Sie fühlt Liebesentzug, sehnt sich nach der zwillingshaften Körperlichkeit und ist bereit, sie auszuhalten, auch wenn sich Überdruss einstellen sollte, auch wenn er sie wieder wortlos degradieren würde auf ihre bloße Weibchenrolle.

Dennoch war es ihm gelungen, sie an sich zu binden. „Du bist die Frau, die ich immer gesucht habe“, war seine Liebeserklärung. Von ihren Eltern hatte sie niemals gehört: „Du bist das Mädchen, das wir uns immer gewünscht haben.“

Entgegen aller Emanzipationstheorien hütete sie ihr Geheimnis und nannte es „ihr idiotisches und bescheidenes Weibchen-Glücksgefühl“. Dafür ist sie bereit, zu leiden. Sie leidet, wenn er zu viel getrunken hat und dann unvermittelt sagt: „Deine Texte werfen doch nichts ab! Wer geilt sich schon daran auf?! Schreib einen Bestseller und häng` auch nicht so verbissen an deiner Lyrik. Und deine Philosophen haben nie etwas anderes getan als sich gegenseitig zu bekriegen.“


Sie hält den Atem an. An der Decke kreist das Scheinwerferlicht der nahen Disco zum Surren der Klimaanlage. Touristensommer in Spanien.

Wir könnten gut ein halbes Jahr hier wohnen. Ich suche eine Finca für uns beide. Den deutschen Winter halte ich nicht mehr lang aus.“ Wieder nörgelt er es vor sich hin und wieder sagt sie darauf:

Für mich ist es eine Frage von Heimat. Mir fehlt hier die Muttersprache, weißt du... quasi das Biotop.“

Du suchst doch ständig nach Heimat und am wohlsten fühlst du dich, solange du danach suchst! Und seh´ ich recht? Jetzt blärrst du bestimmt nach deinem gewesenen Ehemann!?“


Sie war wohl eingeschlafen. Nun weckt sie grelles Licht, das aus der Küche kommt. Im Türausschnitt sieht sie ihn aus der Speisekammer kommen.

Katerfrühstück, denkt sie. Am Abend zuvor waren sie noch in Rodrigos Botega zur Weinprobe gewesen.

Zelebrierend schwenkt er eine Whiskyflasche und trinkt daraus auf schwankenden Beinen. Sie rennt auf ihn zu, fleht „hör auf!“ und will ihm die Flasche aus der Hand reißen. Sie weint. Er drückt sie zu Boden und schlägt auf sie ein, dann liegt sie reglos. Nun kommt er mit vollen Bierflaschen, stößt mit den Füßen auf sie ein und gießt das Bier über ihren nackten Rücken. Sie versucht, aufzustehen, doch schon fühlt sie den nächsten Guss. So geht es im Wechsel.


Irgendwie ist sie in ihr Bett gekrochen, kann noch denken, sie hätte nicht das Geld für die Abreise bei sich.

Dann kommt federleicht ein Strohhalm angeschwommen auf diesem Meer von Ausweglosigkeit.

Es sind nur ein paar Worte.

Sie fügt sie zu einem Gedicht:


Unter dem Overkill

unter der Asche

nistet ein Samenkorn

nistet mein Kind.



​Schneewittchen


Gewandert über sieben Berge

Geträumt deinen Traum

Geschluckt den Apfel

Zurückgekehrt

mit dem Schweigen des Schnees




​Überall


Überall

im fremden Haus

auf schweren leeren

Eichenstühlen

körperlos

Schneeweiß und Rosenrot

körperlos

auf abgehackten Ästen

und zwischen Frühlingsblumen

euer Mädchenlachen

erreicht nicht

mein Heimweh

In den Nächten flecht ich

mir ein Kleid

aus weiß

und roten

Rosen



​Bin ich schön?


Mo kommt aus der Dusche, schaut in den Spiegel und fragt sich: Bin ich schön?

Schön klingt kitschig, hat die Patina einer früheren Epoche. Denn allseits ist Schönheit wohlfeil und billig zu haben, auch bei Ralf um die Ecke, dem Bodydesigner. Bei Mo`s Urgroßmutter war es noch das Friseurgeschäft. Aber was Ralf noch nicht kann: ein paar Rippen entsorgen.

Sevin ist dafür in die Stadt gefahren. Nun ist sie stolz auf ihre vierzig Zentimeter Taillenumfang.

Ed kommt ins Bad.

Verstehe ich dich richtig, fragt Mo, wenn du diese Abart einer Taille auch noch schön findest?

Nicht bei zehn Zentimeter Gehirnumfang, sagt Ed. Mo`s Eifersucht ist damit nicht heruntergekühlt.

Aber dann sag mir, Ed, warum wolltest du gestern den Haushaltsrobot ‚Emmeline‘ kaufen?

Der gleicht Sevin doch aufs Haar!

Schau doch mal rüber, Mo, zu den Nachbarn. Robby hat sich eine Sex-Robotdame angeschafft.

Ja Robby, den du immer so charmant findest! Und er geht mit ihr sogar shoppen! Du würdest mich steinigen, wenn ich mir eine Robotdame wenigstens fürs Schach zulegen würde. Dabei hast du dich noch nie für Schach interessiert. Was willst du eigentlich?

Was ich will – du wirst es erfahren. Und sag jetzt nicht, du seist mir wegen meiner Wesensart treu geblieben. Ich möchte dir gefallen, Ed.

Wo ist das Problem? nuschelt Ed, während der Rasier-Robot sanft über sein Gesicht gleitet, mir gefallen gut aussehende Frauen.

Nicht F r a u – e n , Ed !

Aber ihr seht doch alle gleich aus. Urahne Barbie wäre stolz auf euch.

Mo geht zur Garderobe, holt einen Koffer und weint:

Da genau sind wir beim Problem, so es dich interessiert.

Wir Frauen von der Emanzipations-Avantgarde fordern: Gebt uns unsere Fältchen zurück, unsere eigenen Fältchen und Charakterzüge!

Schon Friedrich Schiller sagte: Schönheit gebe es nicht ohne Anmut und Anmut komme von innen.

Ed nimmt einen Schluck Whisky. Was hast du vor?

Mo packt ihren Koffer. Ich habe Paris gebucht. Dort kann ich das neue Design bekommen,

Gesichtszüge und Fältchen nach meiner Wesensart.

Nie wieder möchte ich in den Spiegel schauen, dabei an dich denken und mich fragen müssen:

Bin ich schön?





​Der geklonte Mensch


Was ich weiß

ich

der Klon

mutterlos im Dunkel

Sohn des Perseus

hochgerüstet mit Raketen

Am Anfang

war Alpha das Zeichen

war der Logos

war Frau und Mann

im Kreis

der Göttin

War Hathor

Isis und Athene

war Demeter

sie buk das Brot

bei Spielen

und Gesang

Am Anfang

war Gaia

war Nut

war Lilith die Sonne

und der Ginster so golden

in Sumer


Was ich weiß

ich

der Klon

mutterlos im Dunkel

Kopfunter verlasse ich Omega

kopfunter den Kreis

Ich bin

Anfang und Ende

spricht die Göttin

Ich bin

der Logos

bin Alpha und Omega


Was ich weiß

ich

der Klon

Am Anfang

war Lilith die Sonne

und der Ginster so golden in Sumer





​Der Griff nach den Sternen


Liebe Zuschauer vom weiblichen, männlichen und Bio-Transgender-Geschlecht,

liebe Zuschauer vom ehrwürdigen Geschlecht der Androiden und Hybriden,

seien Sie herzlich willkommen.

Ich bin Christina Johnson vom Sender YAI und berichte vom Weltkongress der Wissenschaft.

Ich fasse mich kurz, meine Zeit eilt mir davon.

Worum geht es? Der Flug zum Sternensystem Alpha Centauri ist beschlossene Sache. Eingeladen haben uns die Bewohner von Alpha Proxima B, entdeckt schon 2016. Und dies ist keine Science- fiction Story!

Proxima B ist ein Exoplanet von Alpha Centauri.

Tja - lange mussten wir auf die Einladung warten. Aber Schwamm drüber!

Die große Verwüstung haben wir durchgestanden. Die technischen Probleme sind gelöst.

Neil und Bob, unsere Star-Commander der Ultra-Intelligenz, steuern das Zeitschiff.

Aah!! Wen sehe ich da!?

Seien Sie begrüßt, Professorin Olga Stepanowa!

Sie haben eben Ihren zweihundertsten Geburtstag gefeiert. Meine aufrichtige Gratulation! Sie sind Schirmherrin der neuen Emanzipationsbewegung, bekannt unter dem Namen „Kassandra“.

Was sagen Sie, Olga Stepanowa, zum heutigen Kongress?

Was ich sage, liebe Christina? Ich warne. Aus Gier und Verzweiflung greifen wir nach den Sternen. Die Künstliche Intelligenz sitzt an den Schalthebeln der Weltregierung, unfähig, dem Volk das zu geben, wonach es sich sehnt: das Glück und die Liebe.

Suchen wir danach auf Alpha Proxima B??? - dass ich nicht lache!!! Das wird unsere neue Sternenkolonie! Und ihre Bewohner werden unsere Sklaven. Na denn - gute Reise!

Olga Stepanowa, ich danke Ihnen für Ihre Zeit.

Liebes Publikum, ich schalte nun um in die Kongresshalle.

Am Podium diskutieren mit den Robots Neil und Bob die

Astrophysiker, Philosophen, Soziologen, Psychologen.

Es fehlt Olga Stepanowa.

In höflicher Noblesse neigen Neil und Bob ihre Köpfe mal hierhin, mal dorthin.

Ich sag mal: Sie allein kennen die Antwort auf all diese letzten Fragen.

So schweigen sie.

Oh nein!!!! Eine Bildstörung! Können Sie mich noch hören?

Lautes Pfeifen!

Nun sind wir wieder auf Sendung. Doch sehen Sie selbst:

Ein nicht geladener Gast - sagt mein Kollege soeben - nähert sich dem Rednerpult. Er ist eingehüllt in gleißendes Weiß, sein Gesicht ist puppenhaft und freundlich. Und hören Sie! Er spricht in unserer Sprache.

Lasst mich erzählen, wie es war unter Alpha Centauri.

Wir hatten blauen Sand und eine rote Sonne.

Wir lebten als Zweilinge. Unsere Körper hatten zwei Beine, zwei Arme und - zwei Köpfe.

Nennt sie Zwillinge, Zweilinge oder nennt sie Mann und Frau.

Sie waren miteinander im Gespräch, sie waren miteinander im Schweigen.

Ein Streit war der Streit zwischen ihren Köpfen. Doch sie konnten nicht hassen, wusste doch jeder der Beiden, dass Hass die Zerstörung ihres gemeinsamen Körpers bedeutete.

Manchmal, wenn sie sich küssten, entstanden ihre zweiköpfigen Nachkommen.

Mit ihnen lebten sie in Kleinfamilien und bestellten das Land.

Diese Zeit war paradiesisch und dauerte bis zum Anbruch einer neuen Epoche.

Nun lebten sie in Gruppen. Es garantierte wirtschaftliches Arbeiten, brachte aber auch die Neugier auf andere Körper. Und es gab Küsse kreuz und quer. Die Zweilinge wurden einander untreu. Es entstanden Kinder, deren Herkunft sie nicht kannten.

Man sprach von Eifersucht und Neid, man sprach von Liebe und Besitz. Den wollte man nicht teilen mit Köpfen, die man hasste.

Ein Kopf, ein Körper… das wäre die Lösung. So hörte man es raunen in Zirkeln der Wissenschaft.

Man sprach nun von Kulturzerfall.

Schließlich gelang es, lange vor Eurer Zeit - das neue Wesen zu schaffen:

Ein Kopf - ein Körper.

Doch irgendwo versagten wir. An der Stelle des nicht mehr vorhandenen zweiten Kopfes saß nun der Phantomschmerz, die Sehnsucht nach dem Zweiling.

Nun machte jeder sich auf die Suche nach dem Anderen.

Man sprach vom Warten, aber auch vom Hoffen.

Jedoch - einander zu finden, konnte auch bedeuten, einander zu verlieren.

Man starb nun auch allein.

Die Älteren in unseren Reservaten hören wir mitunter klagen:

Früher war es anders.

Früher hatte man noch zwei Köpfe, aber man war ein Leib und eine Seele.

Nun suchen wir nach dem Glück und nach der Liebe.

` E u d a i m o n i a ' nennen es die Weisen eurer Antike.

Doch wir finden es nicht unter den Sternen von Alpha Centauri. ---

Nun hört: Wir haben einen Traum.

Und darum kommen wir zu Euch auf die Erde.

Aber wir kommen in Frieden.“

Liebes Publikum---verzeihen Sie bitte diese erneute Bildstörung.

Ich hoffe, Sie können mich noch hören. Ja???!!!

Vom Sender höre ich soeben, der Kongress werde abgebrochen.

Es herrsche höchste Geheimhaltungsstufe.

Im Moment bleibt mir nur diese Information an Sie.

Ich danke Ihnen vielmals fiür Ihr Interesse und Ihre Aufmerksamkeit und wünsche uns allen eine glückliche Zukunft.





​Sheherazad


übers eisfeld

einer digitalen

liebe

karren robots

emsig

sprach- und liebesspiele

vieltausendjährig

das hohelied der liebe

worte

harren

der deutung

und bleiben doch nur

worte

zu dir und

worte

zu mi

leise tastend

senkt sich

deine glut

sheherazad

auf das eis

der digitalen liebe





​Zeit


gemachte Zeit

mit dem Klick auf den Bildschirm

lösche ich den Tag

mit den

erledigten Terminen

streiche ich die Woche

das Jahr

und streiche

Träume

himmelblau

mit weißen Flügeln

von Tagen

wo du

mit mir warst





​August


Augusthimmelblau

Madonnenblau

du schöne Lüge

kein Mantel

der herunterreicht

mich einhüllt

weil ich friere

und doch

Madonna voller Gnade

schickst mir

eine Wolke

mein Wolkenkamerad

ziellos treibend

hin zum Horizont

mit den strohgelben Feldern

mit den weißen Wegen

menschenleer

mit den Autoschlangen gen Süden

ziellos hin

zum Horizont

mit den Flügeln der Wünsche

 




​Kleo


Kleo steht am Tresen, nippt gelangweilt an einem „Happy Cola“ und genießt die Pause. Kleo weiß: Das Getränk wurde vor Generationen mit großem Erfolg unter ähnlichem Namen auf den Weltmarkt gebracht. Nun ist der Konzern zusammen mit anderen das, was sie die Weltregierung nennen.

Und im Dienst der Weltregierung steht die Elite aller Wissenschaftler.


Im Saal läuft der Bericht über Erkundungen auf HELI 61, dem Exoplaneten.

Es gibt dort Ozeane, Wälder und Gebirge. Unspektakulär dafür, dass das Raumschiff fünfzig Jahre unterwegs war. An Bord saßen die Roboter Bill und Bob.

Bill war zuständig für die Technik, Bob für die Forschung. Sie stießen auf intelligente Lebewesen.

Bob saß auf dem Podium zur Rechten, Bill zur Linken des Professors für Theoretische Physik und beide antworteten artig, wenn sie etwas gefragt wurden.


Bob war es gelungen, sich einem der Bewohner von HELI 61 zu nähern, kam ihnen aber nicht wirklich nahe. Ihre Sprache schien nicht aus Lauten und Zeichen gemacht.

Bob sagte zum Publikum hin mit monotoner Stimme, aber selbstbewusster Gestik, er habe sich gefühlt wie ein Schimpanse. Diese Wesen hätten wohl keinerlei Sprache mehr nötig. Letzten Endes seien er und Bill von einem unerklärlichen Kraftfeld zum Verlassen des Planeten gezwungen worden.


Wozu bloß dieser ganze Aufwand? Und Bob die totale Fehlbesetzung! Finden Sie nicht auch?“, sagt der Mann am Tresen.

Übrigens, mein Name ist Dirac, ich komme von der Theoretischen Physik.“

Erfreut“, sagt Kleo, „Paul Dirac – hat er nicht im frühen Zwanzigsten Jahrhundert gelebt und mathematisch belegt, dass jedes Elementarteilchen auch ein Antiteilchen hat, ein virtuelles, die Antimaterie also? Längst ist sie doch nachgewiesen. Ein Mehr an Physik ist bei mir nicht vorhanden. Ich komme von der historischen und der sprachlichen Zunft.“

Interessant für mich!“, sagt Dirac, „Sie haben es demnach mit der Wahrnehmung und der Deutung von Geschehnissen zu tun. Geschichte – Geschichten – Hmmm... zweifellos verschiedene Wahrheiten und nicht die vermaledeite eine Wahrheit, welcher wir hinterherjagen. Den Quanten gefällt es immer noch, uns schamlos zum Narren zu halten.“

Er sagt es mit einer Mischung von Noblesse und Lässigkeit. Könnte das sein wirkliches Interesse an ihr bemänteln?

Im Gesicht trägt er sympathische Altersfältchen. Auch Kleo ließ sie sich verpassen. Es ist die neue Mode, entstanden aus dem Überdruss an Jugendlichkeit. Die Jugendlichkeitsampullen sind für wenig Geld in jedem Shop zu haben.

Dirac sieht sie an – und doch scheint er durch sie hindurchzusehen.

Sie gefallen mir. Wollen Sie mich wiedersehen?“


Kleo trifft Dirac. Sie gehen spazieren, sitzen in Cafés, diskutieren und halten sich dabei an den Händen. Immer wieder küsst er sie. Niemals schlafen sie miteinander.

Zwischen ihren Begegnungen halten sie Kontakt, erscheinen einander als Hologramm.

Bald wird alles anders“, sagt Dirac, „ich habe immer noch so wenig Zeit. Theoretische Physik eben. Wir sind nicht nur die Anwender mathematischer Gleichungen, wir interpretieren sie. Wir machen Experimente, können auch physikalische Voraussagen treffen. Lass einfach die Zeit für uns entscheiden.“

Gestatte, dass ich mal deinen Satz interpretiere“, sagt Kleo, „wer stets entscheidet, das ist nicht die Zeit, das bist doch du. Und du entscheidest stets zu deinen eigenen Bedingungen. Am Ende entscheidest du nach deinen physikalischen Voraussagen. Mich gruselt dabei.“

Versteh` doch, meine Liebe, ich kann nicht über die Bedingungen reden.“

Was ist dein Projekt – was willst du?“ fragt Kleos Hologramm.

Ich will dich, denn ich liebe dich wie ich noch keine Frau zuvor geliebt habe.

Ich bin dir inzwischen treu gewesen. Du hast all das, was ich nicht habe und ich weiß, ich könnte dich verlieren.“


Kleo fühlt sich wieder anerkannt und beschützt, denkt jedoch:

er könnte mein Bedürfnis nach Schutz und Anerkennung schamlos ausnützen für ein mir verborgenes Ziel. Nur sagt sie es nicht aus Angst, sie könnte damit unweiblich wirken.

Es ist deine Weiblichkeit, wonach ich gesucht habe“, sagt er zu ihr.


Eines Tages sitzen sie wieder zusammen im Café.

In früheren Zeiten“, sagt Kleo, „gab es eine chinesische Kampfsportart. Wichtig war, dem Gegner keine Angriffsfläche zu bieten. Man ließ ihn in hohem Bogen über die Schulter fliegen. Deine Taktik? Ob durch Schweigen oder durch Worte – du sagst viel und sagst doch nichts. Du bist nicht fassbar.“

Wenn du mich liebst“, sagt Dirac, „dann versuche, mich zu verstehen. Ich kann mich nicht gut ausdrücken.

Ich liebe dich.“


Durchs offene Fenster dringt der Lärm einer Demonstration. Immer wieder gibt es Unruhen im Land. Sie richten sich gegen die Weltregierung.

Laute Kampfparolen und Kampflieder, begleitet von altmodischen Musikinstrumenten, mischen sich mit dem Gegröle und den Pfiffen der Demonstranten.

Transparente werden vorbeigetragen.

Auf ihnen ist zu lesen: „Zerschlagt die wertfreie Wissenschaft!“

Kleo erinnert sich: Da war doch mal etwas im Geschichtsseminar:

Noch im späteren Zwanzigsten Jahrhundert gab es diese Bewegungen. Vor allem viele junge Menschen wollten die Systemveränderung. Man las die Philosophen, Theoretiker und und Literaten, man diskutierte und man sang die alten Freiheitslieder auf weltweiten Demonstrationen. Es hieß, die Wissenschaft arbeite Hand in Hand mit den Regierungen für den Profit der Konzerne und habe längst die Werte der Moral verlassen.


Plötzlich steht ein vermummter Mann am offenen Fenster.

Seine Waffe zielt auf Dirac.

Der, ganz unbewegte Noblesse und scheinbar ohne Angst, wendet sich dem Fenster zu. Dann trifft ihn das Geschoss. Sein Kopf fällt nach hinten und sein Blick heftet sich starr auf Kleos Augen, als wollte er für immer darin verweilen.

Aus seinem Hals quillt ein Bündel von Drähten und auf dem Boden liegen die herausgesprengten Chips und Metallteile in einer Lache seines Blutes.




​Zu eurer Zeit


Und wenn du zurückkämst

aus dem Himmel der heimatlosen Linken

nur eine Demo lang


Zu eurer Zeit

war der Osten noch rot

Wir latschten zu Tausenden um die Utopie

und riefen in Sprechchören

Weg mit den Berufsverboten

und sangen

Und weil der Mensch ein Mensch ist...


Unsere Treffen

waren Feten

gewiss auch mit entfernten Verwandten

Wir saßen am Feuer

bei Borschtsch und Paella

nach den Rezepten der Euros


Und weißt du noch

das Wort „verbissen“

in deinem Schweigen

in deiner Selbstkritik


Oh we can be heroes just for one day

Ho Ho Ho Chi Minh

Blue Jeans und unser wehendes Haar

All you need is love


Und dann

an einem Sommertag

auf deinem Sarg

die roten Nelken

Mahlers Fünfte

Einer im roten Hemd

So hat es dir gefallen

Mit dir ging eine Epoche


Und wenn du zurückkämst

aus dem Himmel der heimatlosen Linken

nur eine Demo lang

Zu eurer Zeit

war der Osten noch rot

Doch

heimatlos sind wir geblieben.




​Violett


Worte

wie dünnes Glas

Einwegworte

Auge in Auge schon

entsorgt

diesseits

der verbotenen Zonen

wo wir fast alles

pseudo

finden

wir von violett-wass.kandinsky

Aber in meiner WG

am Prenzlauer Berg

sitzt eine Barbiepuppe

aus Moskau

Nadeschda violett aus Rot und Blau

Abends trinken wir unseren Vodka

mit Büffelgras

Du weites Land

Deine Augen

brennen wie Feuer

durch Worte

Einwegworte

aus dünnem Glas



​November


Hannes sitzt mit Max beim Italiener. Sie nennen es ihr Wirtshaus.

Eines Tages kommt sie zu dir zurück. Die Zeit ist die Unbekannte. Was sagen deine Klinik-Professoren?“, fragt Max.

Neue Ärzte, neue Medikamente“, sagt Hannes, „neuerdings habe ich Halluzinationen, erstmalig als Zugabe der epileptische Anfall.“

Wirf den ganzen Scheiß in den Müll und fang an mit kleinen Schritten!“

Danke“, sagt Hannes, „seit wann liest du Glücksratgeber-Magazine? Weißt du was – für die kleinen Schritte brauche ich den festen Boden unter meinen Füßen. Ich hänge brutal über dem Abgrund.“

Versteh ich doch“, tröstet Max, „der Boden, das war die reale Heimat, war Mirjam, waren deine Kinder, war dein Haus. Aber war es nur das? Dir fehlt die Heimstatt in dir selber. Sie ist dir nicht so leicht zu nehmen.“ „Hab ich doch alles schon gehört vom Psychotherapeuten, wenn er beim Meeting nebenher den Baumarkt-Einkaufszettel studiert hat. Scheiß der Hund drauf!“

Hannes lacht sein allseits berühmtes, wieherndes Lachen, die Mischung von Extase und Schmerz.

Magst Recht haben, Max – die Heimstatt in mir… Ohmmm… Der Duft von Räucherstäbchen...

Spaß beiseite, die Identität, das Gefühl von Selbstwert, vergiss es! Ich war Lehrer mit Leib und Seele. Meine Knochenkrankheit, meine Operationen – das alles hat mich zum Hausmann gemacht. Bei aller Liebe – mir blieb nur die Wahl der Dankbarkeit für diesen Lebensstil auf Berliner Speckgürtel-Niveau.

Hätte ich nun wieder, hokuspokus, Boden unter meinen Füßen, es wäre immer wieder dieselbe Geröllwüste mit Felsbrocken von Schuldgefühlen.

Ich war acht Jahre alt und dem allwöchentlichen Ritual der Religionslehrerin ausgeliefert. ‚Du bist und bleibst ein Dummkopf fürs Leben‘, flötete sie mir schrill ins Ohr. Gewiss – ich hatte sie beleidigt, weil ich das Auge Gottes zu einer Vagina umgemalt hatte.

Zur gleichen Zeit zwei Jahre lang sexueller Missbrauch durch den Dorffriseur.

Er sei ein so leutseliger, ehrlicher und gesprächiger Mann, sagte man im Dorf.

Ich hatte mehrfache Angst: Zum einen, die Eltern könnten mir nicht glauben, zum anderen, die Eltern könnten mich für mitschuldig halten, sollten sie mir glauben.

Der Richter fragte mich pennibel nach Einzelheiten. Ich konnte nicht antworten. So stand ich am Dorfpranger. Danach gab es keine Gespräche mehr.“

Du siehst doch, was falsch gelaufen ist, sagt Max, „sieh`s einfach dialektisch.“

Mensch, Max! Philosophie und Schuldgefühle – wie geht das zusammen? Die Schuldgefühle nagen mir das Fleisch von den Knochen. Hinzu kommt noch der Stempel, das Stigma des unheilbar Depressionskranken. Das klebt wie Pech an mir“.

Verstehe“, sagt Max, „so kannst du`s nun niemandem mehr rechtmachen.

Selbstwert ade!“


Er greift in seine Jackentasche.

Komm, Hannes, lass uns einen Joint rauchen. Weißt du noch – die Nacht in unserer WG auf dem schrägen Sperrmüllsofa?“


Sie kiffen wie in alten Tagen, lehnen sich gegen die Mauer der U-Bahn-Haltestelle.

Zu ihren Füßen haben Obdachlose ihre Schlafstatt aufgeschlagen. Ein leerer Yoghurtbecher steht auf dem Boden und bittet um Geld.

Die Passanten schauen geradeaus, eilen vorbei mit vollen Einkaufs-Plastiktüten, Rucksäcken, Reisekoffern und Kinderwagen.

Dann – wie eine Fanfare – zerreißt das Staccato einer Rap-Band das Alltagseinerlei. Der U-Bahn-Schacht wird dröhnend zur Kathedrale.

Tschau Hannes, muss heim zu Weib und Kind“, sagt Max, schwingt sich aufs Fahrrad und fährt davon.


Hannes geht am Ufer der Spree. Mühsam tastet er sich durch den Nebel und das raschelnde Herbstlaub zu einer Bank. Da sitzt eine vermummte Gestalt.

Trostloser Abend“, sagt Hannes.

Die Gestalt antwortet mit ruhiger Stimme: „Trostlos? Ich halte nichts davon. Ich gebe Trost.“

Wer bist du?“, fragt Hannes.

Ich bin die Z e i t . Nichts bleibt, wie es ist, nicht das Gute, das Schöne, nicht das Schlimme, das Hässliche, nicht das Verlassen und das Verlassenwerden –

das ist mein Trost.

Mein Trost sei dir Grund. Darauf mach` deine Schritte. Ich bin mit dir.“


Du liebe Zeit! Ich muss wohl bekifft sein!“, möchte Hannes antworten, aber die Frau ist im Nebel verschwunden.

Nun irrt er durch die Straßen. Vor den Lokalen sitzen Leute unter Heizsonnen an kleinen und größeren Tischen, diskutieren und erzählen einander.

Der Kiez. Auch in dieser Nacht zelebriert er sein Eigenleben, sein Credo der kleinen und der großen Alltagssorgen.

´Nichts bleibt, wie es ist, das ist mein Trost`, hat sie gesagt, denkt Hannes und er schlürft seinen dampfenden Espresso.

Dann steht er auf, geht durch den Novembernebel und fühlt Boden unter seinen Füßen.




​Verworfene Tradition


Uli und Susanne sitzen beim Frühstück.

Sobald Kaffee und Brötchen duften, lässt Susanne ihre Gedanken frei vagabundieren.

Uli hält nichts von solchen Denkpausen. Er liest die Zeitung.


Was verstehst du unter `verworfener Tradition ́?“, fragt er, ohne vom Blatt aufzusehen.

Susanne: „Wie kommst du jetzt darauf ? Und wo steht das?“

Uli: „Es steht nirgends, ist mir nur so eingefallen.“

Mir fällt dazu ́ne Menge ein“, sagt Susanne, „Traditionen, die man verwerfen, verdammen müsste. Die Burka, die öffentlichen Hinrichtungen bei den Saudis nach dem Freitagsgebet, das Töten neugeborener Mädchen und Genitalverstümmelung in anderen Kulturen, die Witwen-Selbstverbrennung teilweise noch in Indien...“

Uli: „Du siehst, keine Tradition ohne Rituale, Rituale als Gehirnwäsche.“

Uli liest und kaut.

Worauf willst du jetzt hinaus?“, fragt Susanne, „probier mal diesen Käse“.

Uli legt die Zeitung beiseite.

Worauf ich hinaus will? Du redest von der Burka als traditioneller Zwangsjacke. Ich kenne andere Zwangsjacken und es geht hier um unsere eigenen Traditionen.“

Susanne: „Und die wären?“

Uli: „Seit über zehn Jahren der allmonatliche Sonntagnachmittagskaffee bei deinen Eltern.

Der Kuchenboden ist immer zu dick und zu trocken und der Belag zu dünn. Am Tisch herrscht Maulkorberlass für politische Themen, man fachsimpelt über Hausmusik. Ein Scheißgeschwätz, denn in meinem Elternhaus gab es keine Hausmusik. Bedenke auch dein unterwürfiges Verhalten,wenn la Patronne die Tafel aufhebt und du mit deiner Schwester und der Schwägerin nichts wie hinterhermarschierst zum Geschirrabwasch. Während ich mit deinen Brüdern am Tisch zurückbleibe, schenkt uns dein Vater dieses einzige, winzige Gläschen Obstler ein. Es darf diskutiert werden, aber die Nazi- Zeit muss draußen bleiben. Denkverbot, Maulkorberlass – das wollte ich dir mal sagen.“

Susanne: „Jetzt hast du mir das Frühstück endgültig verdorben. Dir fehlt der Respekt. Schon die Bibel sagt: Du sollst Vater und Mutter ehren.“

Uli: „Ist doch alles beliebig auslegbar. Dass ich darüber mit dir nicht mehr diskutiere – wie lang ist das eigentlich her? Ach so! Meine Zigaretten sind alle. Ich geh ́ mal schnell zum Automaten.“

Uli verlässt den Frühstückstisch. Zu Susanne ist er nie wieder zurückgekehrt.














​Metamorphose


von katzenhaar

ist meine haut

von katzenhaar

wenn ich dich suche

stromauf stromab

schleift hin

mein vagabundenrock

schleift hin

der grüne tang

vom fluss


wenn ich dich suche

in den bäumen

wenn ich dich finde

schneeverweht

am fels

schleift hin

mein vagabundenrock

schleift hin

der grüne tang

vom fluss















​Topf und Grund


Ich bin

Topfpflanze

Meine Wurzeln

hungern

auf dem Grund

des Topfes

Ich bin

transportierbar

pflegeleicht

funktional

bis in die Blüte

Du hast Erde

so hast du auch stets

deinen Grund






​Glas


verbannt

hinter das versteck

verbannt

ins runde schweigen

der null


gläsern

ist das schweigen

der null

da wird keiner

dich suchen

da gehst du

zweibeinig

unter zweibeinigen zitaten

gehst einkaufen

tust deine arbeit

und redest

hinter einer wand

aus glas


 


​Die Konferenz



Eine Konferenz war anberaumt.

Es ging darum, zu diskutieren, wem wohl das größte Verdienst zukomme am Fortschritt der Geschichte, man könnte auch sagen, der großen und der kleineren Geschichten dieser Welt.


Viele waren geladen, nicht alle waren gekommen.

Angerückt waren die Wissenschaften, allesamt bebrillt, im Blick das Suchen nach der Wahrheit. Dieses Bestreben wollten sie geschlossen vertreten.


Gleich bunten Vögeln tummelten sich die Künste, uneinig in der Frage, was sie nun anstrebten - und wenn es denn die Wahrheit wäre, was letzten Endes die Wahrheit sei.


Auf dem Podest erschien die Sprache. Stolz schlug sie ihr Pfauenrad, mit Augen unzählig und buntschillernd, jedes Auge ein Spiegel, jedes Auge die Pose ihrer Selbstdarstellung.


Wie gesagt, es ging darum, zu diskutieren, wer wohl den größten Anteil habe am Fortschritt der Geschichte dieser Welt.


… „Natürlich das Denken!“, meinten die Wissenschaften.


… „wenn ja, dann doch das Sich-zusammen-denken“, entgegnete die Sprache, „...das Miteinander-denken, -sprechen, denn nur mit Sprache kann das Denken Schritte machen!“


Nun räusperte sich die Philosophie: „Wohl stellt die Sprache Zeichen zur Verfügung, die Formen und das rechte Maß. Auch Philosophen denken, doch fragen sie nach dem Woher, Wohin, Warum.“


Die Künste hatten zugehört, doch nun begannen sie zu klagen: „Es fällt uns schwer, in Sprache auszudrücken, was wir fühlen.

Sprache ist Fessel und Grenze. Wenn das Bedürfnis zu reden gestillt ist, dann betreten wir die Räume der Musik, der Bilder und der Poesie. So sind wir stets bemüht, das Nicht-sagbare zu ergründen. Unsere Rede hört auf das Schweigen.“


Doch die Sprache schlug ihr Pfauenrad: „Das Schweigen – ja! Nur – ich bin da, um es zu brechen!

Am Anfang war das Wort!“


Nun kam ein Wesen auf die Bühne, grau gewandet.

Erlauchte Werte, Wissenschaften, Sprache, Künste! Euer Ziel war stets Erfolg, nicht selten Geld und Ruhm. Ich bin der Sprecher der Moral und Sitte. Nie werden wir versäumen, euch zu hinterfragen. Wir sind dem Guten untertan!“


Die Wissenschaften riefen: „Wart ihr nicht eher euren Herrschern untertan?!

Und jeder Herrscher hatte seinen eigenen Moralapostel.

Drum sind wir gegen eure Kontrolle. Wir stimmen für den Dialog.“


Die Sprache schlug dazu ihr Pfauenrad, mit Augen unzählig und buntschillernd, jedes einzelne die Pose ihrer Selbstdarstellung.


Nach langem Hin und Her begann die Konferenz sich aufzulösen.


Niemand hatte die Gestalt bemerkt, die von Anfang an dabeigewesen war. Sie saß noch stumm und wachsam in der Ecke, ihr Blick versteinert, von echsenhafter Starre.

Und doch war viel darin zu lesen: Grausamkeit und Milde, Mut und Feigheit.

Oder war es namenlose Trauer?

Niemand hatte die Gestalt bemerkt, niemand hatte sich auf sie besonnen.


Es war das Schweigen.





​Die Tugend der Zwerge


Verliebt in die Zwergenprinzessin

wollte er dennoch

kein Oberzwerg sein

denn wer ist schon Goethe

würden die Oberzwerge schreien

oder

wir Zwerge waren schon immer

anders gescheit

wir achten das Gesetz der Zwerge

hier Puck und Butz

hier Hinz und Kunz

hier Petz und Bibabutzemann


Heil Alberich

Heil Oberon

Wir werden uns nicht das Maul verbrennen

Das Maß ist uns Gesetz

Darüber lässt sich nicht hinauswachsen

Wir haben keine Träume zum Licht

Wir harren gebückt unter Tage

und holen das Erz das Gold und das Silber

und huldigen dem Zwergenkönig

ihm dienen wir

ihm dient die Zwergenkönigin

Wir harren versteinert

zur Mahnung der Wichte

in euren Gärten

Hier Puck und Butz

hier Petz und Bibabutzemann

Heil Alberich

Heil Oberon

Wir werden uns nicht das Maul verbrennen

Das Zwergenmaß ist uns Gesetz

Am Ende entkam der Bursche

dem Land der Zwerge

und schrieb seine Geschichte




​Zuhause


Ist es der magische Ort, der mir die Freiheit gibt, zu gehen, zurückzukommen oder zu bleiben?

Ist es nun an diesem Tag der magische Ort, der mich festhält wie die vielarmige Krake, surreal wechselhaft und real in der

Gestalt des grinsenden Virus, erhaben gegen die Macht von Staat und Kirche, klüger als die Wissenschaft?

So hält es die Welt niedergedrückt unter einer Glocke aus undurchdringbarem Glas.

Darunter gehen wir die vorgeschriebenen Pfade mit Atemschutzmasken.

Und das Virus lehrt uns zu sagen „wir“, gleichwohl ob in Peking, London, Rom, Madrid, Paris, Moskau oder Berlin, oder ob zuhause in unseren Heimatdörfern.

Zu Tausenden sind sie eingesperrt, die Anderen, eingepfercht in ihren Wohnungen, in Pflegeheimen oder Intensivstationen.

Die Angst vor der Quarantäne geht um.


Der Frühlingshimmel ist märchenblau, die Weiden hängen ihre grünen Schleier in die Spree, die Vögel zwitschern, doch die Straßen und Plätze sind stumm und die Tische und Bänke vor den Kiezkneipen sind menschenleer.

Nur die Medienleinwand flimmert hektisch durch die Wohnungen in permanenter Geschwätzigkeit, teils beschwichtigend, teils angstgetrieben.

Dennoch hänge ich am Netz, dem worldwide web, hänge an ihm wie an einer Droge.


Nun stehe ich an der Glaswand der Glocke. Das Virus hat sie dem Erdball übergestülpt, hat damit seinen Herrschaftsbereich markiert und sein Name heißt Pandemie.

Ich stehe auf der surrealen Seite unserer Gegenwart , sehe hindurch und hinüber in eine real gewesene Vergangenheit.

Eine Frau taucht auf. Es ist Annerose M., meine Romanfigur, und sie winkt mir zu.

Annerose ist auf der Suche nach einem neuen Zuhause.

Nun beginnt sie zu erzählen.


...Wieder bin ich umgezogen.

Die Stadt atmet ihr lebensmutig-quirliges Willkommen. Sie atmet es aus allen Poren, hebt mich auf die Schwingen ihrer ungestümen Luft, die von der Taiga kommt.

Gibt es eine Liebe zwischen Mensch und Stadt?

Ich bin Annerose aus dem Süden.

Im Frühjahr bringt der Heimatfluss das Gletscherwasser aus den Alpen.

Bei Föhn steht klar am Horizont die Kulisse der Berge.

Ich kenne viele Abschiede‘, sage ich zu dieser Stadt, denke es vielmehr zu ihr hin, wenn ich über den Kudamm streune.

Die kenn ick ooch‘, höre ich sie durch ihr lautes Getriebe,

meine Menschen erzählen dir wat von Abschieden! Da biste nischt alleene.‘


Am Brandenburger Tor demonstrieren Araber, darunter ihre Frauen im schwarzen Tschador.

Hinterm Bahnhof Zoo stehen Obdachlose für ein warmes Essen an. An der Mauer der S-Bahn-Unterführung und unter Brücken sitzen sie inmitten ihrer Hunde und hantieren mit Schlafsäcken und Essgeschirr. Vor ihnen steht der leere Joghurtbecher für die Almosen.

Auf den Bänken am Alexanderplatz tummeln sich Teenies zum Komasaufen.

Überall herumliegende Bierflaschen. Zwei Jungen stehen gegeneinander wie Kampfhähne. Die Herumsitzenden finden das krass. Ein Mädchen steht weinend abseits. Der eine Junge holt mit der Bierflasche zum Schlag aus.

Ich renne nach einem Polizisten. Der raucht seine Zigarette.

Ja wat meinen Sie denn, wat ick da jeden Abend zu tun hätte?! Sie sind wohl nischt von hier?‘

Ich sitze in der U-Bahn. Ein junger Mann döst vor sich hin. Dann platzen laute Rap-Schreie aus seiner Jackentasche. Er zerrt das Handy heraus.

Hey Mann, Mann!! Isch hab nur drei Stunden gepennt!‘

An der nächsten Haltestelle steigt eine Gruppe Lateinamerikaner zu, walzt durch die Gänge mit ohrenbetäubender Musik aus den Anden und mit ‚Guantanamera...

yo soy un hombre sincero...‘

Draußen steigt ein Tross Models aus der Bahn. Es ist Fashion-Woche in Berlin.

Sie staksen linkisch in Stiefeletten, den Blick ins Nichts gerichtet.

Alle über einsachtzig, behangen mit schwerem Schal-Mantel-Gewirre, aber es reicht nur knapp bis unter den Po und gibt die langen Beine frei.

Die Rosenthaler Straße herunter kommt mir ein junger Mann entgegen in Schlafanzughosen und mit Badetuchturban in leuchtendem Blau.


Ich schaue hin. Und ich mache mir Gedanken über das Hin- und das Wegschauen.

In dieser Stadt scheint das Wegschauen zu verbinden.

Du schaust nicht hin, wenn Hautfarben wechseln zu Bronze oder Kaffeebraun oder ins Schwarz der Elfenbeinküste, wenn Kopftuchfrauen mit Kinderwagen dich im Pulk zur Seite schieben, wenn Gesprächsfetzen fremder Sprachen, fremder Dialekte mit dir Schritt halten oder schnell an dir vorüberhuschen. Dein Blick geht solidarisch ins Weite.


Ich finde keinen Schluss für mein Tagebuch.

Ein Schluss soll sich nicht weise aufspielen. Und ich sage es zur Stadt. Also gehe ich hoffnungsvoll inmitten ihrer stolzen Bäume.

Bald werden sie wieder grün.“


Das erzählt mir Annerose durch diese Glaswand aus dem jenseitigen Berlin,

aus ihrem neuen Zuhausen.



 


​Angst


In meiner Angstkammer

verberge ich

Nichtgesagtes

Nichtgeschriebenes

Nichtgetanes

Vertagtes

Versäumtes

Verlogenes


In meiner Angstkammer

verberge ich

die Angst




​Alle Jahre wieder


Alle Jahre wieder

Kyrie eleison

Krippenchristkindkreuzes

videoundbarbiepuppe

Gloria in excelsis

REPRO

Sanctus Sanctus

Dominus Deus

Kyrie eleison

Allüberall

mit Sang und Schall

VERPUPPUNG



​Geld spielt keine Rolle


Sie ist auf Jobsuche. In ihrem Geldbeutel sind noch zehn Euro. Die müssen reichen bis zum Monatsende.

Beim Discounter am Alten Bahnhof, wo teils die Waren in Kartons aufeinandergestapelt sind, gibt es Haferflocken im Sonderangebot. Sie kocht sie mit Wasser und etwas Salz zu einem dicken Brei, fast so dick wie Brotteig. Auf den Wiesen hatte sie Zwetschgen eingesammelt und damit hastig ihren Rucksack gefüllt aus Angst, jemand könnte sie beobachten. Nun kocht sie Zwetschgenmus, isst es zusammen mit dem Haferbrei ganz andächtig auf ihrem Küchenstuhl und denkt: Eigentlich ein Festessen.


Die Haferflocken sind aufgebraucht. So geht sie wieder zum Discounter am alten Bahnhof.

Dicht vor ihr schiebt ein Mann den Einkaufswagen. Sein stumpfes, verfilztes Haar fällt schulterlang über das fleckige T-Shirt. Ausgeleiert hängt es über den zu weiten Jeans. Typ Loser, denkt sie.

Am Wühltisch sieht er sich lange einen Jogging-Anzug an, legt ihn wieder zurück. Dann schichtet er sorgfältig ein paar Packungen Graubrotschnitten vom Sonderangebot in den Wagen.

Bei den Getränken tut er einige Flaschen Bier hinzu.

Aha! denkt sie, ein Saufbruder. Geld spielt wohl hier keine Rolle!


An der Kasse lässt er den zwei laut debattierenden Afrikanern und der Muslima mit dem quengelnden Baby den Vortritt.

Dann legt er seine Waren aufs Förderband. Die Kassiererin sagt ihm die Endsumme.

Er kramt in seinen Hosentaschen nach Geld.

Das Baby hat aufgehört zu quengeln, tatscht in den Bart des Mannes.

Er lächelt – und während er zahlt, lächelt er noch immer.


Draußen erwartet ihn ein Pulk Obdachloser, einige mit Rucksäcken, einige mit Plastiktüten.

Er beginnt, das Brot und die Bierflaschen unter ihnen zu verteilen.

Eine Frau ist dabei. Sie scheint zu ihm zu gehören.

Man hört ihren Namen.

Es ist Magdalena.





​Eliane


Ina und Eliane – keine lesbische Liaison und daher für Nachbarn nicht von Interesse.

Ina nahm Eliane zu sich nach dem Tod von Marc.

Eliane ist schweigsam.

So ist ihr nicht gegeben, eine Sache geschwätzig zu kommentieren,

Ina würde sagen, Sätze strategisch anzuwenden, „denn – so machen es doch alle, die Politiker, die Wissenschaftler und die Verkünder des rechten Glaubens.“

Auch ich“, sagt Ina, „liebe das hurenhafte Pfauengefieder der Sprache.

Doch – sag mir, Eliane – das Geheimnis deines Schweigens.“

Eliane bleibt stumm und hört zu.


Dann plötzlich sieht Ina ganz deutlich: Eliane hat Durst.

So geht Ina in die Küche, holt die Gießkanne, füllt sie mit Wasser und gibt Eliane zu trinken.






​Die Mauer


Sieh doch

die Mauer

graues Wesen

alt wie die Welt

aus einem Spalt

wächst grüner Efeu

die Mauer hat

geboren

ging lange schwanger

mit dem

Geheimnis

ganz schweigender Stein

sehnte sich

nach dem Augenblick

dass der Wind sie küsse

zurück blieb

ein Samenkorn

das wuchs



​Geht doch


Es begann mit einem Haselnuss-Stecken.

Großvater hatte ihn im Wald geholt und sein Platz war die Lücke zwischen Küchenschrank und Wand.

Ich bin drei Jahre alt und schleudere im Übermut meine Puppe unter den Küchenherd. Sie scheint mir für immer verloren.

Großvater holt den Stecken, wir legen uns beide flach auf den Boden und während er nach meiner Puppe angelt, halte ich den Atem an.

Da plötzlich liegt die Puppe - weiß eingestaubt - vor meiner Nase.

"Ja siehst du! Geht doch!", sagt Großvater.


Bei meinem Vater geht immer eher etwas nicht oder es geht zumindest nicht so.


Eines Tages will er Muggl, meinen Hasen, schlachten für den Sonntagsbraten.

Muggl soll davor noch ein bisschen fröhlich im Gehege herumhopsen.

"Du stellst dich jetzt da hin und passt mir auf den Hasen auf, dass er nicht abhaut!", sagt Vater.

Kaum ist er im Haus verschwunden, öffne ich das Gatter. Muggl schlägt einen Haken und sucht mit weiten Sprüngen die Freiheit.

Er kommt nie wieder zurück.

"Geht doch!", sage ich mir und weiß Großvater auf meiner Seite auch noch, als Vater mich schlägt und ich dabei den Küchenboden einnässe.


Der Vikar Müller ist ein so netter junger Mann!", sagt meine Mutter.

Ich bin siebzehn. "Find ich nicht!", sage ich, "auf seinem Motorroller sieht er aus wie draufgeschissen!"

Dennoch ist Herr Müller bei meinen Eltern zum Kaffee eingeladen.

Ich rette mich blitzschnell hinauf in den Schuppen, verstecke mich hinter einer Holzbeige und bin somit verschollen.


Geht doch!" - das waren Großvaters Worte und sie haben sich wohl tief in mir eingenistet, um sich energisch einzumischen, wenn ich vor einer Entscheidung stehen sollte.

Fragt mich nicht, wie oft sie mich lehrten, sie wollten keine märchenhaften Glücksbringer sein!

Stattdessen aber machten sie mich neugierig auf die Philosophie. Unter ihren tausend Facetten interessierte mich besonders das Für und Wider des Handelns.

"Geht doch!" - das ist wohl die Maxime des Handelns. "Stimmt!" würde Platon sagen, unser über zweitausend Jahre alter Großvater der Europäischen Aufklärung, "aber es ist die Idee, die etwas zum Gehen bringt. Und am Anfang stand die Idee."


Ich bin auf dem Weg zur Demonstration "Friday for future" - der weltweite Streik der Schüler für die Zukunft der Erde.

Über den Platz am Brandenburger Tor tönt der Song der Beatles "Let it be...“

Paul McCartney`s Mutter starb, als er erst vierzehn war.

Sie waren arm, die Mutter arbeitete hart, aber immer hatte sie tröstende Worte für den kleinen Paul.

Jahre später trifft ihn wieder ein Schicksalsschlag. Dann erscheint ihm im Traum die Mutter.

So heißt es am Schluss des Songs: "..mother Mary comes to me speaking words of wisdom: let it be. "

Immer, wenn du unglücklich bist, mein Junge, sollst du dir sagen: "Geht doch!"

Zigtausende Demonstranten brechen sich Bahn nach allen Seiten und scheinen die Stadt zu überfluten.

Die Jugend meldet sich zurück.

Und ich denke: Da war doch mal was...

"Bleibt dran!", rufe ich einer Gruppe von Schülern zu.

Da ist mir, als sähe die Stadt selbst auf die Menge, leidgeprüft, kämpferisch, naturverbunden.

Ihr graues Haar ist zerzaust vom Wind, der aus der Taiga kommt.

So lächelt sie uns zu:

"Ich bin an eurer Seite.

Nu kiekt nischt so!

Geht doch ! "


​Gratwanderung


Auf dem weg

zu dir

auf dem weg

zu mir

auf schmalem grat

in der tiefe

das einhorn

winkt herauf

aus dem abgrund

über den wir gehen

auf schmalem grat





​Geburtstag – eine Zeitreise


Ich bin in den 90er Jahren des vorigen Jahrhunderts.

Die Straßenpassanten tragen noch keine Handys und keine Kopfhörer.

Viele sind zu Fuß von A nach B unterwegs, um einfach an einen Ort zu gelangen.

Meine Zeitreise ging an einen Ort der Erinnerung.


Auf Plakaten lese ich: Die Baden-Württembergischen Literaturtage sind in Vorbereitung, diesmal zu Ehren von Hermann Hesse.

Sie feiern auch den 120. Geburtstag des großen Sohnes der Stadt.

Obgleich Literaturnobelpreisträger, war er zu Lebzeiten ungeliebt als der „Prophet im eigenen Land“, als der Taugenichts und Rebell gegen die Knute des schwäbischen Pietismus.

So verließ er in jungen Jahren jede Schule und auch seine Lehre und schließlich für immer sein Schwarzwald-Heimatstädtchen.


Spitzgiebelige Fachwerkhäuser stehen mit der ehrwürdigen Stiftskirche um den alten Brunnen. Enge Gässchen und Stufen führen hinauf zu den höher gelegenen Fachwerkhäusern. Dahinter türmen sich schwarze, bewaldete Hügel auf.

Auf dem Marktplatz höre ich gemächliches Klopfen und Hämmern. Bücherstände und Buden werden aufgebaut.


Zwei junge Autoren sitzen vor dem Lokal von Giuseppe und schlürfen ihren Cappuccino. Sie kennen einander seit der Schulzeit, nennen sich gegenseitig ´Schniege´ und ´Schlumpi`.

Schniege zu Schlumpi: „Deine Hippie-Mähne, Schlumpi, ist doch inzwischen megaout. Wir sind nicht mehr in den Siebzigern, born to be wild – und so.

Und dein megaweiter Strickpulli erinnert mich an die Schaustricker der ersten Grünen im Bundestag.

Sag, Schlumpi, warum beteiligst du dich nicht mit einem Bücherstand?

Schlumpi: Ich hab mich nicht angemeldet. Mit deinem Bestseller kann ich nicht konkurrieren. Hab nun mal kein Talent für Krimis. Mir fehlt auch das Marketing-Knowhow. Wie hast du es geschafft? Doch wohl nicht nur mit deiner geschniegelten Frisur und deinen Bügelfalten?


Schniege: Du brauchst connections auf Teufel komm raus, Beziehungen, sei es zum Teufel selber, der reicht dich nach oben weiter bis in die Medien und Fernseh-Talkshows. Das ist schon mal die halbe Miete. Du präsentierst dich und nicht deinen Text. Die Masse will kein intellektuelles Gesäuere über des Lebens Widersprüche, sie will nicht das Hohe Lied der Selbstverwirklichung, mein lieber Schlumpi. Der Weg ist ihr zu lang und zu steinig. Die Masse will Unterhaltung.

Neue Empfindsamkeit – das hatten wir doch alles schon.

Doch die Verhältnisse – die sind nicht so, sagte schon Bert Brecht.

Schlumpi: Danke, Schniege, so bist du immer noch mein Freund. Trotz BWL-Studium hast du auch die großen Literaten gepackt.

Schniege: Gepackt aber auch die Gelegenheit, ans Geld zu kommen.

Die Klassiker benutze ich nur, um sie zu zitieren. Das macht Mords-Eindruck.

Sag, Schlumpi, kokst du noch gegen deine Lahmarschigkeit?

Nun geh endlich rein zu Giuseppe ans Telefon und ruf die Verwaltung der Literaturtage an. Hier ist die Nummer.


Schlumpi erhebt sich umständlich vom Stuhl.

Giuseppe summt ´avanti popolo...avanti popolo…` und reicht ihm fröhlich das Telefon.

Schlumpi: Hallo! ist hier die Verwaltung der Literaturtage?

Stimme: Jo, genau, des sen mir!

Schlumpi: Ich wollte fragen, ob noch ein Platz frei wäre für einen Buchstand.

Stimme: Em Prinzip jo...wie isch denn dr Name ihres Verlags?

Wie?? Huberle-Verlag? Der Name sagt mir garnix.


Jetzt halt a mole...Ihr wievieltes Buch isch es denn?

Schlumpi: Mein erstes.

Stimme: Jo, was meinet se denn, wieviele Autoren mit ihrem allererschte Buch bei ons gern en Schtand hättet?! Do wär für unsere bekannte Autoren bald koi Platz mehr geschweige denn für onsere Beschtseller.

Ach so!...Wie heißet se denn übrigens?


Schlumpi sagt:

Ich heiße Hermann Hesse.




​Tod im Net


geh schneller

überhole

software

und deine reaktion

die zu spät käme

überhole

das überholen

geh schneller

nach nirgendwo

made in silicon valley

da weisen silberne spinnen

dir deine einbahnstraße

hinter die zeit

da ist der schilf

aus metall

da dümpelt

online

dein kahn

nach nirgendwo





​Ein Gespenst geht um


die zeit ist gekommen

eine sänfte aus dollarmilliarden

dem volk geraubt

trägt mister president an die macht

so kann er sagen

yes we can

und

oh we can be heroes not just for one day

we can be heroes

forever

was kümmern mich eurokrise

windräder atomkraftwerke

menschen die von müllhalden essen

was kümmern mich

dschihad und gottesstaat

unsere reihen sind fest geschlossen

im spy center von utah

feiern wir unseren traum

of a permanent solution

dort hält big brother

eure digitalen ketten in seiner faust

forever

dort überwacht und hütet er

eure träume

eure sehnsucht nach dem du

wer unter uns zieht den stecker

wirft rechner robot telefon und handy

auf den müll und flüchtet

in die wälder zum jagen

in die höhlen

zum hüten des feuers

die zeit läuft nicht rückwärts

w a s t u n

bevor wir alle rufen

yes we can

heil mister president

dich grüßt dein volk

der world wide web society




​Die Uhr – eine wahre Geschichte


Es ist ein klirrend kalter Dezemberabend vor der Jahrtausendwende.

Mühsam rutscht mein Auto durch die Schneedecke den Bergpfad hinauf.

Oben angekommen, sehe ich am Nachthimmel eine Uhr in der Größe des Mondes.

Ihre leicht verschwommenen römischen Ziffern zeigen auf zehn Minuten vor halb zwei.

Auf meiner Autouhr ist es genau zehn Uhr abends.

Nein, es ist kein Traum! sagt mir der Geruch der frischen Lauchzwiebeln.

Er kommt vom Rücksitz aus meinem Einkaufskorb.

Aber am Himmel steht die Uhr.

Ach so! Jahrtausendwende!

Ein besonderer Werbegag – nur – für welche Firma und für welches Produkt?

Zu Hause angekommen, ärgert mich der Schneeberg vor der Garage. Ich vergesse die Uhr.

Das war gestern. Doch wieder steht die Uhr am Nachthimmel.

Auf dem Feldweg kommt mir ein junges Paar entgegen. Ich fasse Mut und frage:

Bitte, entschuldigen Sie, wissen Sie, was das für ein Uhr ist da oben?“

Der junge Mann: „Wie – was?“

Die junge Frau beschwichtigend: „Ach so...ja, ja! Da ist eine Uhr.“

Ich: „Ja schon! Aber woher kommt sie?“

Die Frau zum Mann: „Weißt du es?“

Der Mann zieht die Frau energisch am Ärmel und klopft sich dreimal mit dem Finger an die Stirn.

Mit schnellem Schritt gehen sie untergehakt weiter.

Zu Hause knipse ich die Tagesschau an. Als Schlusslicht der Nachrichten kommt die Wiedergabe der Prophezeihung einer Sekte, die Welt gehe unter pünktlich zur Jahrtausendwende.

Nur keine Rede von der Uhr, etwa als mögliches Symbol.

Doch warum zeigt sie dann zehn Minuten vor halb zwei und nicht fünf Minuten vor zwölf?

Außerdem bin ich nicht abergläubisch.

Ich schaue zum Fenster hinaus an den Nachthimmel. In einigem Abstand von der Uhr steht der Mond. Jetzt umgibt ihn deutlich ein blassgelber Ring.

Ich hole meine Brille aus der Schublade. Vor ein paar Wochen habe ich sie gekauft für längere Autofahrten.

Durch die Brille sehe ich zum Himmel. Da steht der Mond nun ganz ohne Ring und die Uhr ist verschwunden, weggezaubert.

Dennoch: Meine Uhr begleitet mich auch heute, wenn ich ohne Brille und mit bloßen Augen zum Nachthimmel hinaufsehe.

So kündet sie von Wahrheiten aus längst vergangenen Zeiten, wo es noch keine Brillen gab.




​Kriegsspiele


Neue Bedrohung

altes Feindbild

neue Waffen

neue Kriege

Über Auschwitz

und die verbrannte Erde des Ostens

und das mit Napalm verseuchte Vietnam

über Hiroshima und Nagasaki

über Syrien, Irak und Afghanistan

zieht sich die Blutspur

eurer Kreuzzüge

nach der Gleichung eurer Legitimation

Die Juden die Linken die Nigger

die Schwulen der Islam

doch Revolutionen Gentlemen

überlasst ihr dem Volk

und Scheich und Mullah eure Waffen

Allah-hu Akhbar – Remember the Prince

Und wieder liefert euch

die Geschichte

die Krise frei Haus

Neue Bedrohung

altes Feindbild

neue Waffen

neue Kriege


 

 

Geschichten von früher...

 

 

 

 

 

 


Der Intimfeind

und andere

Kurzgeschichten und Gedichte



herausgegebenim Selbstverlag

Dezember 2020



42 Geschichten und Gedichte
aus zwei Welten,
der realen und der surrealen Wahrnehmung








​Der Intimfeind


Es war einmal in den dunkelsten Tiefen der Vergangenheit.

Fragt nicht nach einem Ort, fragt nicht nach Jahr und Tag, denn Raum und Zeit, die gab es noch nicht.

Es gab weder Materie noch Antimaterie, noch das Atom, noch Quarks, noch Higgs noch Strings und vieles mehr. Und es gab auch kein Schwarzes Loch.

Indessen existierten da zwei Wesen, die standen einander gegenüber, ein jedes ausgestattet mit unendlicher Macht.

Doch fragt mich nicht, wer sie geschaffen hat.

Das eine Wesen nannte sich DAS ETWAS, das andere DAS NICHTS.

Das Etwas hatte Flügel und trug einen Mantel aus leuchtenden Farben, das Nichts einen schneeweißen, weichen Pelz.

Du bist mein Intimfeind, sagte das Etwas freundlich zum Nichts.

Würdest du garnicht existieren, ja dann wärst du mein Todfeind. Und mit dem Tod mag ich nicht reden.

Aber schau her, mein wertes Nichts, nun stehen wir herum und jeder ist für sich allein. Wir könnten zusammen etwas bewegen. Ich brauche dich, brauche, dass du mir widersprichst. Ich brauche dein Schweigen.

Warum antwortest du nicht?

Sollte ich mir denn ein Etwas wünschen, ein Etwas wie einen Zwilling?

Bewahre mich vor diesem Urteil. Bewahre mich vor dieser Langeweile!

Warum rührst du dich nicht? Bist du etwa doch der Tod?


Da plötzlich öffnete das Nichts ärgerlich ein Auge. Es hatte geduldig zugehört.

Sag nicht, ich sei der Tod! Ich existiere. Doch ich existiere als das Nichts und meine Macht reicht in die Ewigkeit!

Dennoch, wertes Etwas, schmeichelst du mir.

Nanntest du mich nicht eben deinen Intimfeind?

Das klingt nach Logik und nach ewiger Wahrheit.

Du überzeugst. So lass mich dein Begleiter werden zu meinen Bedingungen.

Ich will dein ewiger Widerspruch sein.

Ich will mich dir in den Weg stellen, wenn du überquillst vor Schaffensdrang, vor Glück und Freude.

Ich will dich hinter deine Grenzen weisen.

Ich bin dein Vergehen und dein Sterben.

Aber vergiss nicht, nur so kannst du wieder auferstehen.


Das Etwas schlug ungeduldig die Flügel. Es ahnte den Zauber des Aufbruchs. Jedoch das Nichts fuhr fort:

Wir werden Wesen schaffen, die uns nicht gönnen, im Widerspruch ein Paar zu sein.

Mich, das Nichts, werden sie das Böse nennen, den Tod oder den Teufel.

Sie werden nicht aufhören, mich zu verdammen.

Aber einmal, in einer helleren Zukunft, werden wir Wesen schaffen von unserem Geist .

Diese werden uns zusammendenken, dich als das Etwas und mich als deinen Intimfeind, das Nichts, und uns beide als ein ewiges Paar.

Das Etwas schlug die Flügel.

Es fühlte sich glücklich, wippte und tänzelte verführerisch.

Drum, mein Intimfeind, lass uns zusammen aufbrechen!

Lass uns lebendige Welten schaffen!

Lass uns streiten und lass uns kämpfen!

Wir haben keine Wahl.

 



​Nichts


Warten worauf

und doch


ein Gefäß umschließt

das Nichts


Nichts geschieht

im Gefäß des Nichts


außer dem Hand in Hand

von Gefäß und Nichts






​Brücken


ziellos treiben

auf intervallen

zwischen den inseln

unserer highlights


wachsen sehen

aus intervallen

brücken mit schwingen

von mir zu dir

mein festland

ist fern

da stehen stolze brücken

mit füßen aus beton





​Tante Lene


Liebe Tante Lene,

seit einigen Jahren bist du tot. Ich hab` dich nicht vergessen.

Wo bist du nun?

Mein Brief soll den Weg zu dir finden.

Es geht darin um mein Geheimnis.

Doch - ihr Toten schweigt.


Ich suche nach Worten für die Zeit, die du mit uns gewesen bist.

Du warst das jüngste der neun Geschwister meiner Mutter, zierlich, klein und zerbrechlich.

In den Kriegs- und Nachkriegsjahren hast du für die Leute im Dorf Kleider genäht aus karierten Bettbezügen und Vorhangstoffen. Deine Nähmaschine rasselte den ganzen Tag in der guten Stube.

Eines Tages warst du schwanger von Onkel Fritz. Nach langer Russland-Gefangenschaft hat er dich geheiratet und zu sich auf den Hof geholt.

Da waren noch die beiden Schwestern von Onkel Fritz und seine alte Mutter.

Immer wieder hörtest du von den Schwestern, du seist ohne jede Mitgift gekommen. In der Küche hattest du nichts zu bestimmen. Dein Platz war im Stall und auf den Feldern. Dort musstest du das Heu mit der Gabel wenden und das Getreide kniend zu Garben binden.

So wurde dein Rücken mit den Jahren krumm, du wurdest immer kleiner und musstest selbst zu deinen halbwüchsigen Kindern aufschauen.

Im Stall gab es eine Kuh, die ließ sich nur von dir melken. Den Schwestern haute sie ständig mit dem Schwanz ins Gesicht.


Tante Lene, immer noch trage ich die Schuld mit mir herum, dass ich dich nicht oft genug besucht habe. Nein, ich kann es nicht damit entschuldigen, dass ich in der Fremde war, wie du es immer nanntest.

Weißt du noch, Tante Lene...

Bei meinem Besuch zeigtest du mir deine ganze Menagerie von den Ställen bis zum Hühnerhof und du gabst mir frische Eier und Äpfel.

Als ich mit dir allein hinterm Schuppen stand und dich fragte, wie es jetzt so mit Deinem Mann und seinen Schwestern sei, da sagtest du leise:

Wenn sie böse sind, dann gehe ich in den Wald. Da gibt es einen Jäger-Hochsitz. Ich klettere die Leiter hinauf und setze mich auf die Bank. Dann singe ich das Lied ` So nimm denn meine Hände' und schon geht`s wieder besser.


Einmal hörte ich, du seist im Krankenhaus, es ginge dir nicht gut.

Ich fuhr hin, um dich zu sehen. Du warst an das Beatmungsgerät angeschlossen.

Aus deinem Körper hingen Schläuche auch für die Zu- und Abfuhr der Infusion.

Dein gekrümmter Rücken drückte gewaltsam den Kopf nach unten und dein Körper folgte beständig dem Takt des Beatmungsgerätes, bäumte sich kurz auf und sank wieder in sich zusammen. Aber deine Augen haben zu mir aufgesehen und sagten mir: Es ist unser Abschied.


Ich eilte auf dem Krankenhausflur nach Hilfe.

Einen vorbeieilenden Arzt flehte ich an: Bitte, es geht um meine Tante auf Zimmer 304!

Gibt es eine Patientenverfügung? fragte er. Nicht? Ja dann kann ich nichts tun.

Die Krankenschwester nahm mich am Arm: Da kommt die Visite, sagte sie.


Bitte! Helfen sie mir! Es geht um meine Tante auf Zimmer 304, rief ich wieder und stellte mich einfach in den Weg.

Der Oberarzt gab seinem Tross fliegender Weißkittel das Zeichen, weiterzugehen und er nahm mich beiseite.

Aber er blieb stumm. Dann drückte er mir wortlos die Hand und ging weiter.

Am nächsten Morgen rief mich meine Schwester an:

Tante Lene ist tot, sagte sie, die Krankenschwester meinte, sie sei ganz friedlich eingeschlafen.


Ich war bei deiner Beerdigung, Tante Lene.

Der Chor hat dir zum Abschied das Lied gesungen: 'So nimm denn meine Hände`, dein Lied, das du im Wald auf dem Hochsitz gesungen hast.





​Im Hamsterrad


Sieh zu
dass du Tritt fasst
dass du eins bist mit deinem Tritt
dass du nicht fragst
nicht hoffst nicht wartest
denn du wirst nicht ankommen






​Die Toten


In meinem fernen

Zuhause

reden sie

reden

Alltagsworte

und weinen nicht

über Ungesagtes

ihnen Verwehrtes

und wissen doch

vom großen Nichts

das sie

behutsam

in den Armen wiegt





​Lied der ersten Lebensräume


Winter

hinter Tüllgardinen

Fenstersprossen Gartenzaun

weiter draußen ist Krieg


aber in der alten Stube

lässt der warme Kachelofen

gütig die Kartoffeln bähen

 

aber in der alten Stube

hat Großvaters Schreibtisch Türmchen

und das Wachstuch Tintenkleckse


Frühling

hinterm alten Haus

Hühnergackern Katzenschnurren

weiter draußen ist Krieg


aber hinterm alten Haus

musiziert es vom Holunder

musiziert es von der Schupf

die Stare sind da


Sommer

an der alten Mühle

Bach durchwaten

Enten schnattern

weiter draußen ist Krieg


aber zwischen Sommerwolken

glitzern silberhelle Flieger

Sommervögel ohne Lied


Herbstwind

über Schlehenhecken

Hirtenfeuern Rübenäckern

weiter draußen ist Krieg


aber hintendrauß im Garten

räumt Großvater die Bäume

und das Obst in Weidenkörbe

weiter draußen ist Krieg



​Großmutters Sonntag


Wenn die Kirchenglocken läuten

gehe ich

durchs Haus

nehme Großmutters Bild

von der Wand

und gebe ihm

einen Rahmen

aus dunklem Holz

Großmutter an der Nähmaschine

ihre Hände

gichtknotig

ruhen

auf dem Stoff

Großmutter

gepresst unter Glas

lächelt scheu

mir ins Herz

Weißt du noch .…



​Shopping


Maria wohnt in Berlin-Dahlem mit Robert, Zahnarzt im Ruhestand.

Robert und Maria lieben das Understatement.

Ihr Haus hat keinen Park, dafür im Garten Beerensträucher.

Auch beim neuen Rover achteten sie auf Gediegenheit.

Das grenzt uns ab gegen den Plunder der Berliner Neureichen, sagt Robert, alter Adel braucht keinen Park ums Haus.

Alter Adel - das klingt gut, dachte vor Jahren Maria und holte sich den Salon der Berliner 1820er-Jahre in ihr geräumiges Haus.

Rahel Levin musste Mut beweisen, hat ihren Salon in einer Dachkammer begonnen, die Arme, sagte Maria zu Robert. Na ja, bei Rahel gingen aber Leute wie Hegel, die Brüder Humboldt, Bettina von Arnim und Heinrich Heine ein und aus.

Bei Maria und Robert waren es die Freunde vom Golfclub.

Eines Tages war es dann mit dem Salon zu Ende. Das kam so:

Alexander, Roberts Kollege von der Charité, sagte irgendwann verärgert in die Runde:

Leute, ich bin sackmüde und hab jetzt nichts mehr am Hut mit Goethes `Wahlverwandtschaften'. Zur Zeit sitz ich nur noch am Computer oder fülle Formulare aus. Das wäre Schwesternarbeit. Aber Ihr wisst ja - der Pflegenotstand.

So ging man wenig erbaut auseinander.

Die Sache mit dem Salon war beendet und Maria wollte als die harmoniestiftende Gastgeberin ihr Salonprojekt nicht weiter verfolgen.


Es ist frühmorgens. Maria sitzt mit Robert beim Frühstück und schreibt ihren Einkaufszettel. Vergiss nicht das Meersalz vom KaDeWe, Gourmet-Abteilung, du weißt schon, und...ach ja, der Whisky ist alle.

Tut`s auch das Meersalz vom Bioladen? Da muss ich eh noch hin, fragt Maria.

In einer Woche steigt im Heidelberger Schloss eine Hochzeit. Es ist der Sohn von Roberts Bundesbruder.

Dann hol ich gleich noch am Kudamm das Kleid ab, sagt Maria. Die Heidelbergerinnen, garantiert aufgetakelt, sollen geschockt sein, aber erst auf den zweiten Blick. Hauptstadt-Fashion, weißt du, quasi Jil Sander-Purismus, Etuikleid, graue Seide, leicht übers Knie und Rundausschnitt.

Robert findet daran nichts Überraschendes und liest die Zeitung.

Maria holt den Range Rover aus der Garage und fährt in Richtung Charlottenburg.

Dann plötzlich macht sie eine Vollbremsung.

Eine Frau huscht auf den Zebrastreifen, bleibt auf halbem Weg vor dem Rover stehen, wendet das Gesicht und blickt durch die Frontscheibe Maria direkt in die Augen.

Die Frau lächelt - und Maria kennt dieses Lächeln, Maria kennt diesen Blick.

So freundlich und doch so ängstlich und verwundbar.

Die Frau ist etwa 35 Jahre alt, jünger als Maria, und sie trägt einen etwas schäbigen, mausgrauen Stepp-Anorak. Jedenfalls uncool und vom Textil-Discounter, denkt Maria.

Das pechschwarze Haar der Frau ist im Nacken weich geknotet.

Maria hupt und die Frau geht flink zur anderen Straßenseite.

Mit unbewusster Grandezza - und Maria kennt diese Bewegung - wendet sich die Frau nocheimnal hin zum Rover, als möchte sie etwas sagen.

Maria weiß in diesem Moment: Es ist die Mutter ihrer Kindertage.

Dann folgt sie ihr bis zum Parkplatz eines Supermarktes.

Die Mutter verschwindet durch den Hintereingang.

Warum heute nicht hier einkaufen? sagt sich Maria.

Mit dem voll beladenen Einkaufswagen stellt sie sich in die Schlange.

An deren Ende sitzt die Mutter als Kassiererin.

Mutter, denkt Maria, so hast du hier Arbeit gefunden.

Die Mutter lächelt, als habe sie verstanden, aber sie blickt den Kunden nicht ins Gesicht.

Hallo! sagt die Mutter.

Hallo! sagt Maria zurück.

Dann klingt es wie eine kleine, schüchterne Melodie: Und Ihnen noch einen schönen Tag!

Ja, danke, Ihnen auch, sagt Maria.

Es gibt keinen Blickkontakt, denn schon dreht sich die Mutter hin zum Förderband.

Maria schiebt den Einkaufswagen zum Parkplatz und belädt den Kofferraum.

Dann setzt sie sich ins Auto und wartet.

Sie weiß nicht, wie lange sie so gesessen und gewartet hat.

Nun ist der Parkplatz gähnend leer. Es sieht nach Ladenschluss aus.

Im Innern des Supermarktes löschen sie die Lichter.

Ein Mann vom Personal verlässt mit Rucksack den Hintereingang und fährt auf seinem Fahrrad davon.

Maria wartet.

Langsam wird es dunkel.

Die Mutter kommt nicht mehr.




​Am Fenster


Damals

saß ich am Fenster

wartend

auf dich

und

dann kamst du

und

es war mir

eine Ewigkeit von Glück

und

dann kamst du

ein letztes Mal





​Katerfrühstück


Er liegt neben ihr, animalisch ausgestreckt. Es ist gegen drei Uhr morgens.

Sein Arm hatte sich langsam von ihrem Bauch gelöst. Sie fühlt Liebesentzug, sehnt sich nach der zwillingshaften Körperlichkeit und ist bereit, sie auszuhalten, auch wenn sich Überdruss einstellen sollte, auch wenn er sie wieder wortlos degradieren würde auf ihre bloße Weibchenrolle.

Dennoch war es ihm gelungen, sie an sich zu binden. „Du bist die Frau, die ich immer gesucht habe“, war seine Liebeserklärung. Von ihren Eltern hatte sie niemals gehört: „Du bist das Mädchen, das wir uns immer gewünscht haben.“

Entgegen aller Emanzipationstheorien hütete sie ihr Geheimnis und nannte es „ihr idiotisches und bescheidenes Weibchen-Glücksgefühl“. Dafür ist sie bereit, zu leiden. Sie leidet, wenn er zu viel getrunken hat und dann unvermittelt sagt: „Deine Texte werfen doch nichts ab! Wer geilt sich schon daran auf?! Schreib einen Bestseller und häng` auch nicht so verbissen an deiner Lyrik. Und deine Philosophen haben nie etwas anderes getan als sich gegenseitig zu bekriegen.“


Sie hält den Atem an. An der Decke kreist das Scheinwerferlicht der nahen Disco zum Surren der Klimaanlage. Touristensommer in Spanien.

Wir könnten gut ein halbes Jahr hier wohnen. Ich suche eine Finca für uns beide. Den deutschen Winter halte ich nicht mehr lang aus.“ Wieder nörgelt er es vor sich hin und wieder sagt sie darauf:

Für mich ist es eine Frage von Heimat. Mir fehlt hier die Muttersprache, weißt du... quasi das Biotop.“

Du suchst doch ständig nach Heimat und am wohlsten fühlst du dich, solange du danach suchst! Und seh´ ich recht? Jetzt blärrst du bestimmt nach deinem gewesenen Ehemann!?“


Sie war wohl eingeschlafen. Nun weckt sie grelles Licht, das aus der Küche kommt. Im Türausschnitt sieht sie ihn aus der Speisekammer kommen.

Katerfrühstück, denkt sie. Am Abend zuvor waren sie noch in Rodrigos Botega zur Weinprobe gewesen.

Zelebrierend schwenkt er eine Whiskyflasche und trinkt daraus auf schwankenden Beinen. Sie rennt auf ihn zu, fleht „hör auf!“ und will ihm die Flasche aus der Hand reißen. Sie weint. Er drückt sie zu Boden und schlägt auf sie ein, dann liegt sie reglos. Nun kommt er mit vollen Bierflaschen, stößt mit den Füßen auf sie ein und gießt das Bier über ihren nackten Rücken. Sie versucht, aufzustehen, doch schon fühlt sie den nächsten Guss. So geht es im Wechsel.


Irgendwie ist sie in ihr Bett gekrochen, kann noch denken, sie hätte nicht das Geld für die Abreise bei sich.

Dann kommt federleicht ein Strohhalm angeschwommen auf diesem Meer von Ausweglosigkeit.

Es sind nur ein paar Worte.

Sie fügt sie zu einem Gedicht:


Unter dem Overkill

unter der Asche

nistet ein Samenkorn

nistet mein Kind.



​Schneewittchen


Gewandert über sieben Berge

Geträumt deinen Traum

Geschluckt den Apfel

Zurückgekehrt

mit dem Schweigen des Schnees




​Überall


Überall

im fremden Haus

auf schweren leeren

Eichenstühlen

körperlos

Schneeweiß und Rosenrot

körperlos

auf abgehackten Ästen

und zwischen Frühlingsblumen

euer Mädchenlachen

erreicht nicht

mein Heimweh

In den Nächten flecht ich

mir ein Kleid

aus weiß

und roten

Rosen




​Bin ich schön?


Mo kommt aus der Dusche, schaut in den Spiegel und fragt sich: Bin ich schön?

Schön klingt kitschig, hat die Patina einer früheren Epoche. Denn allseits ist Schönheit wohlfeil und billig zu haben, auch bei Ralf um die Ecke, dem Bodydesigner. Bei Mo`s Urgroßmutter war es noch das Friseurgeschäft. Aber was Ralf noch nicht kann: ein paar Rippen entsorgen.

Sevin ist dafür in die Stadt gefahren. Nun ist sie stolz auf ihre vierzig Zentimeter Taillenumfang.

Ed kommt ins Bad.

Verstehe ich dich richtig, fragt Mo, wenn du diese Abart einer Taille auch noch schön findest?

Nicht bei zehn Zentimeter Gehirnumfang, sagt Ed. Mo`s Eifersucht ist damit nicht heruntergekühlt.

Aber dann sag mir, Ed, warum wolltest du gestern den Haushaltsrobot ‚Emmeline‘ kaufen?

Der gleicht Sevin doch aufs Haar!

Schau doch mal rüber, Mo, zu den Nachbarn. Robby hat sich eine Sex-Robotdame angeschafft.

Ja Robby, den du immer so charmant findest! Und er geht mit ihr sogar shoppen! Du würdest mich steinigen, wenn ich mir eine Robotdame wenigstens fürs Schach zulegen würde. Dabei hast du dich noch nie für Schach interessiert. Was willst du eigentlich?

Was ich will – du wirst es erfahren. Und sag jetzt nicht, du seist mir wegen meiner Wesensart treu geblieben. Ich möchte dir gefallen, Ed.

Wo ist das Problem? nuschelt Ed, während der Rasier-Robot sanft über sein Gesicht gleitet, mir gefallen gut aussehende Frauen.

Nicht F r a u – e n , Ed !

Aber ihr seht doch alle gleich aus. Urahne Barbie wäre stolz auf euch.

Mo geht zur Garderobe, holt einen Koffer und weint:

Da genau sind wir beim Problem, so es dich interessiert.

Wir Frauen von der Emanzipations-Avantgarde fordern: Gebt uns unsere Fältchen zurück, unsere eigenen Fältchen und Charakterzüge!

Schon Friedrich Schiller sagte: Schönheit gebe es nicht ohne Anmut und Anmut komme von innen.

Ed nimmt einen Schluck Whisky. Was hast du vor?

Mo packt ihren Koffer. Ich habe Paris gebucht. Dort kann ich das neue Design bekommen,

Gesichtszüge und Fältchen nach meiner Wesensart.

Nie wieder möchte ich in den Spiegel schauen, dabei an dich denken und mich fragen müssen:

Bin ich schön?





​Der geklonte Mensch


Was ich weiß

ich

der Klon

mutterlos im Dunkel

Sohn des Perseus

hochgerüstet mit Raketen

Am Anfang

war Alpha das Zeichen

war der Logos

war Frau und Mann

im Kreis

der Göttin

War Hathor

Isis und Athene

war Demeter

sie buk das Brot

bei Spielen

und Gesang

Am Anfang

war Gaia

war Nut

war Lilith die Sonne

und der Ginster so golden

in Sumer


Was ich weiß

ich

der Klon

mutterlos im Dunkel

Kopfunter verlasse ich Omega

kopfunter den Kreis

Ich bin

Anfang und Ende

spricht die Göttin

Ich bin

der Logos

bin Alpha und Omega


Was ich weiß

ich

der Klon

Am Anfang

war Lilith die Sonne

und der Ginster so golden in Sumer





​Der Griff nach den Sternen


Liebe Zuschauer vom weiblichen, männlichen und Bio-Transgender-Geschlecht,

liebe Zuschauer vom ehrwürdigen Geschlecht der Androiden und Hybriden,

seien Sie herzlich willkommen.

Ich bin Christina Johnson vom Sender YAI und berichte vom Weltkongress der Wissenschaft.

Ich fasse mich kurz, meine Zeit eilt mir davon.

Worum geht es? Der Flug zum Sternensystem Alpha Centauri ist beschlossene Sache. Eingeladen haben uns die Bewohner von Alpha Proxima B, entdeckt schon 2016. Und dies ist keine Science- fiction Story!

Proxima B ist ein Exoplanet von Alpha Centauri.

Tja - lange mussten wir auf die Einladung warten. Aber Schwamm drüber!

Die große Verwüstung haben wir durchgestanden. Die technischen Probleme sind gelöst.

Neil und Bob, unsere Star-Commander der Ultra-Intelligenz, steuern das Zeitschiff.

Aah!! Wen sehe ich da!?

Seien Sie begrüßt, Professorin Olga Stepanowa!

Sie haben eben Ihren zweihundertsten Geburtstag gefeiert. Meine aufrichtige Gratulation! Sie sind Schirmherrin der neuen Emanzipationsbewegung, bekannt unter dem Namen „Kassandra“.

Was sagen Sie, Olga Stepanowa, zum heutigen Kongress?

Was ich sage, liebe Christina? Ich warne. Aus Gier und Verzweiflung greifen wir nach den Sternen. Die Künstliche Intelligenz sitzt an den Schalthebeln der Weltregierung, unfähig, dem Volk das zu geben, wonach es sich sehnt: das Glück und die Liebe.

Suchen wir danach auf Alpha Proxima B??? - dass ich nicht lache!!! Das wird unsere neue Sternenkolonie! Und ihre Bewohner werden unsere Sklaven. Na denn - gute Reise!

Olga Stepanowa, ich danke Ihnen für Ihre Zeit.

Liebes Publikum, ich schalte nun um in die Kongresshalle.

Am Podium diskutieren mit den Robots Neil und Bob die

Astrophysiker, Philosophen, Soziologen, Psychologen.

Es fehlt Olga Stepanowa.

In höflicher Noblesse neigen Neil und Bob ihre Köpfe mal hierhin, mal dorthin.

Ich sag mal: Sie allein kennen die Antwort auf all diese letzten Fragen.

So schweigen sie.

Oh nein!!!! Eine Bildstörung! Können Sie mich noch hören?

Lautes Pfeifen!

Nun sind wir wieder auf Sendung. Doch sehen Sie selbst:

Ein nicht geladener Gast - sagt mein Kollege soeben - nähert sich dem Rednerpult. Er ist eingehüllt in gleißendes Weiß, sein Gesicht ist puppenhaft und freundlich. Und hören Sie! Er spricht in unserer Sprache.

Lasst mich erzählen, wie es war unter Alpha Centauri.

Wir hatten blauen Sand und eine rote Sonne.

Wir lebten als Zweilinge. Unsere Körper hatten zwei Beine, zwei Arme und - zwei Köpfe.

Nennt sie Zwillinge, Zweilinge oder nennt sie Mann und Frau.

Sie waren miteinander im Gespräch, sie waren miteinander im Schweigen.

Ein Streit war der Streit zwischen ihren Köpfen. Doch sie konnten nicht hassen, wusste doch jeder der Beiden, dass Hass die Zerstörung ihres gemeinsamen Körpers bedeutete.

Manchmal, wenn sie sich küssten, entstanden ihre zweiköpfigen Nachkommen.

Mit ihnen lebten sie in Kleinfamilien und bestellten das Land.

Diese Zeit war paradiesisch und dauerte bis zum Anbruch einer neuen Epoche.

Nun lebten sie in Gruppen. Es garantierte wirtschaftliches Arbeiten, brachte aber auch die Neugier auf andere Körper. Und es gab Küsse kreuz und quer. Die Zweilinge wurden einander untreu. Es entstanden Kinder, deren Herkunft sie nicht kannten.

Man sprach von Eifersucht und Neid, man sprach von Liebe und Besitz. Den wollte man nicht teilen mit Köpfen, die man hasste.

Ein Kopf, ein Körper… das wäre die Lösung. So hörte man es raunen in Zirkeln der Wissenschaft.

Man sprach nun von Kulturzerfall.

Schließlich gelang es, lange vor Eurer Zeit - das neue Wesen zu schaffen:

Ein Kopf - ein Körper.

Doch irgendwo versagten wir. An der Stelle des nicht mehr vorhandenen zweiten Kopfes saß nun der Phantomschmerz, die Sehnsucht nach dem Zweiling.

Nun machte jeder sich auf die Suche nach dem Anderen.

Man sprach vom Warten, aber auch vom Hoffen.

Jedoch - einander zu finden, konnte auch bedeuten, einander zu verlieren.

Man starb nun auch allein.

Die Älteren in unseren Reservaten hören wir mitunter klagen:

Früher war es anders.

Früher hatte man noch zwei Köpfe, aber man war ein Leib und eine Seele.

Nun suchen wir nach dem Glück und nach der Liebe.

` E u d a i m o n i a ' nennen es die Weisen eurer Antike.

Doch wir finden es nicht unter den Sternen von Alpha Centauri. ---

Nun hört: Wir haben einen Traum.

Und darum kommen wir zu Euch auf die Erde.

Aber wir kommen in Frieden.“

Liebes Publikum---verzeihen Sie bitte diese erneute Bildstörung.

Ich hoffe, Sie können mich noch hören. Ja???!!!

Vom Sender höre ich soeben, der Kongress werde abgebrochen.

Es herrsche höchste Geheimhaltungsstufe.

Im Moment bleibt mir nur diese Information an Sie.

Ich danke Ihnen vielmals fiür Ihr Interesse und Ihre Aufmerksamkeit und wünsche uns allen eine glückliche Zukunft.





​Sheherazad


übers eisfeld

einer digitalen

liebe

karren robots

emsig

sprach- und liebesspiele

vieltausendjährig

das hohelied der liebe

worte

harren

der deutung

und bleiben doch nur

worte

zu dir und

worte

zu mir

leise tastend

senkt sich

deine glut

sheherazad

auf das eis

der digitalen liebe





​Zeit


gemachte Zeit

mit dem Klick auf den Bildschirm

lösche ich den Tag

mit den

erledigten Terminen

streiche ich die Woche

das Jahr

und streiche

Träume

himmelblau

mit weißen Flügeln

von Tagen

wo du

mit mir warst





​August


Augusthimmelblau

Madonnenblau

du schöne Lüge

kein Mantel

der herunterreicht

mich einhüllt

weil ich friere

und doch

Madonna voller Gnade

schickst mir

eine Wolke

mein Wolkenkamerad

ziellos treibend

hin zum Horizont

mit den strohgelben Feldern

mit den weißen Wegen

menschenleer

mit den Autoschlangen gen Süden

ziellos hin

zum Horizont

mit den Flügeln der Wünsche




​Kleo


Kleo steht am Tresen, nippt gelangweilt an einem „Happy Cola“ und genießt die Pause. Kleo weiß: Das Getränk wurde vor Generationen mit großem Erfolg unter ähnlichem Namen auf den Weltmarkt gebracht. Nun ist der Konzern zusammen mit anderen das, was sie die Weltregierung nennen.

Und im Dienst der Weltregierung steht die Elite aller Wissenschaftler.


Im Saal läuft der Bericht über Erkundungen auf HELI 61, dem Exoplaneten.

Es gibt dort Ozeane, Wälder und Gebirge. Unspektakulär dafür, dass das Raumschiff fünfzig Jahre unterwegs war. An Bord saßen die Roboter Bill und Bob.

Bill war zuständig für die Technik, Bob für die Forschung. Sie stießen auf intelligente Lebewesen.

Bob saß auf dem Podium zur Rechten, Bill zur Linken des Professors für Theoretische Physik und beide antworteten artig, wenn sie etwas gefragt wurden.


Bob war es gelungen, sich einem der Bewohner von HELI 61 zu nähern, kam ihnen aber nicht wirklich nahe. Ihre Sprache schien nicht aus Lauten und Zeichen gemacht.

Bob sagte zum Publikum hin mit monotoner Stimme, aber selbstbewusster Gestik, er habe sich gefühlt wie ein Schimpanse. Diese Wesen hätten wohl keinerlei Sprache mehr nötig. Letzten Endes seien er und Bill von einem unerklärlichen Kraftfeld zum Verlassen des Planeten gezwungen worden.


Wozu bloß dieser ganze Aufwand? Und Bob die totale Fehlbesetzung! Finden Sie nicht auch?“, sagt der Mann am Tresen.

Übrigens, mein Name ist Dirac, ich komme von der Theoretischen Physik.“

Erfreut“, sagt Kleo, „Paul Dirac – hat er nicht im frühen Zwanzigsten Jahrhundert gelebt und mathematisch belegt, dass jedes Elementarteilchen auch ein Antiteilchen hat, ein virtuelles, die Antimaterie also? Längst ist sie doch nachgewiesen. Ein Mehr an Physik ist bei mir nicht vorhanden. Ich komme von der historischen und der sprachlichen Zunft.“

Interessant für mich!“, sagt Dirac, „Sie haben es demnach mit der Wahrnehmung und der Deutung von Geschehnissen zu tun. Geschichte – Geschichten – Hmmm... zweifellos verschiedene Wahrheiten und nicht die vermaledeite eine Wahrheit, welcher wir hinterherjagen. Den Quanten gefällt es immer noch, uns schamlos zum Narren zu halten.“

Er sagt es mit einer Mischung von Noblesse und Lässigkeit. Könnte das sein wirkliches Interesse an ihr bemänteln?

Im Gesicht trägt er sympathische Altersfältchen. Auch Kleo ließ sie sich verpassen. Es ist die neue Mode, entstanden aus dem Überdruss an Jugendlichkeit. Die Jugendlichkeitsampullen sind für wenig Geld in jedem Shop zu haben.

Dirac sieht sie an – und doch scheint er durch sie hindurchzusehen.

Sie gefallen mir. Wollen Sie mich wiedersehen?“


Kleo trifft Dirac. Sie gehen spazieren, sitzen in Cafés, diskutieren und halten sich dabei an den Händen. Immer wieder küsst er sie. Niemals schlafen sie miteinander.

Zwischen ihren Begegnungen halten sie Kontakt, erscheinen einander als Hologramm.

Bald wird alles anders“, sagt Dirac, „ich habe immer noch so wenig Zeit. Theoretische Physik eben. Wir sind nicht nur die Anwender mathematischer Gleichungen, wir interpretieren sie. Wir machen Experimente, können auch physikalische Voraussagen treffen. Lass einfach die Zeit für uns entscheiden.“

Gestatte, dass ich mal deinen Satz interpretiere“, sagt Kleo, „wer stets entscheidet, das ist nicht die Zeit, das bist doch du. Und du entscheidest stets zu deinen eigenen Bedingungen. Am Ende entscheidest du nach deinen physikalischen Voraussagen. Mich gruselt dabei.“

Versteh` doch, meine Liebe, ich kann nicht über die Bedingungen reden.“

Was ist dein Projekt – was willst du?“ fragt Kleos Hologramm.

Ich will dich, denn ich liebe dich wie ich noch keine Frau zuvor geliebt habe.

Ich bin dir inzwischen treu gewesen. Du hast all das, was ich nicht habe und ich weiß, ich könnte dich verlieren.“


Kleo fühlt sich wieder anerkannt und beschützt, denkt jedoch:

er könnte mein Bedürfnis nach Schutz und Anerkennung schamlos ausnützen für ein mir verborgenes Ziel. Nur sagt sie es nicht aus Angst, sie könnte damit unweiblich wirken.

Es ist deine Weiblichkeit, wonach ich gesucht habe“, sagt er zu ihr.


Eines Tages sitzen sie wieder zusammen im Café.

In früheren Zeiten“, sagt Kleo, „gab es eine chinesische Kampfsportart. Wichtig war, dem Gegner keine Angriffsfläche zu bieten. Man ließ ihn in hohem Bogen über die Schulter fliegen. Deine Taktik? Ob durch Schweigen oder durch Worte – du sagst viel und sagst doch nichts. Du bist nicht fassbar.“

Wenn du mich liebst“, sagt Dirac, „dann versuche, mich zu verstehen. Ich kann mich nicht gut ausdrücken.

Ich liebe dich.“


Durchs offene Fenster dringt der Lärm einer Demonstration. Immer wieder gibt es Unruhen im Land. Sie richten sich gegen die Weltregierung.

Laute Kampfparolen und Kampflieder, begleitet von altmodischen Musikinstrumenten, mischen sich mit dem Gegröle und den Pfiffen der Demonstranten.

Transparente werden vorbeigetragen.

Auf ihnen ist zu lesen: „Zerschlagt die wertfreie Wissenschaft!“

Kleo erinnert sich: Da war doch mal etwas im Geschichtsseminar:

Noch im späteren Zwanzigsten Jahrhundert gab es diese Bewegungen. Vor allem viele junge Menschen wollten die Systemveränderung. Man las die Philosophen, Theoretiker und und Literaten, man diskutierte und man sang die alten Freiheitslieder auf weltweiten Demonstrationen. Es hieß, die Wissenschaft arbeite Hand in Hand mit den Regierungen für den Profit der Konzerne und habe längst die Werte der Moral verlassen.


Plötzlich steht ein vermummter Mann am offenen Fenster.

Seine Waffe zielt auf Dirac.

Der, ganz unbewegte Noblesse und scheinbar ohne Angst, wendet sich dem Fenster zu. Dann trifft ihn das Geschoss. Sein Kopf fällt nach hinten und sein Blick heftet sich starr auf Kleos Augen, als wollte er für immer darin verweilen.

Aus seinem Hals quillt ein Bündel von Drähten und auf dem Boden liegen die herausgesprengten Chips und Metallteile in einer Lache seines Blutes.




​Zu eurer Zeit


Und wenn du zurückkämst

aus dem Himmel der heimatlosen Linken

nur eine Demo lang


Zu eurer Zeit

war der Osten noch rot

Wir latschten zu Tausenden um die Utopie

und riefen in Sprechchören

Weg mit den Berufsverboten

und sangen

Und weil der Mensch ein Mensch ist...


Unsere Treffen

waren Feten

gewiss auch mit entfernten Verwandten

Wir saßen am Feuer

bei Borschtsch und Paella

nach den Rezepten der Euros


Und weißt du noch

das Wort „verbissen“

in deinem Schweigen

in deiner Selbstkritik


Oh we can be heroes just for one day

Ho Ho Ho Chi Minh

Blue Jeans und unser wehendes Haar

All you need is love


Und dann

an einem Sommertag

auf deinem Sarg

die roten Nelken

Mahlers Fünfte

Einer im roten Hemd

So hat es dir gefallen

Mit dir ging eine Epoche


Und wenn du zurückkämst

aus dem Himmel der heimatlosen Linken

nur eine Demo lang

Zu eurer Zeit

war der Osten noch rot

Doch

heimatlos sind wir geblieben.





​Violett


Worte

wie dünnes Glas

Einwegworte

Auge in Auge schon

entsorgt

diesseits

der verbotenen Zonen

wo wir fast alles

pseudo

finden

wir von violett-wass.kandinsky

Aber in meiner WG

am Prenzlauer Berg

sitzt eine Barbiepuppe

aus Moskau

Nadeschda violett aus Rot und Blau

Abends trinken wir unseren Vodka

mit Büffelgras

Du weites Land

Deine Augen

brennen wie Feuer

durch Worte

Einwegworte

aus dünnem Glas



​November


Hannes sitzt mit Max beim Italiener. Sie nennen es ihr Wirtshaus.

Eines Tages kommt sie zu dir zurück. Die Zeit ist die Unbekannte. Was sagen deine Klinik-Professoren?“, fragt Max.

Neue Ärzte, neue Medikamente“, sagt Hannes, „neuerdings habe ich Halluzinationen, erstmalig als Zugabe der epileptische Anfall.“

Wirf den ganzen Scheiß in den Müll und fang an mit kleinen Schritten!“

Danke“, sagt Hannes, „seit wann liest du Glücksratgeber-Magazine? Weißt du was – für die kleinen Schritte brauche ich den festen Boden unter meinen Füßen. Ich hänge brutal über dem Abgrund.“

Versteh ich doch“, tröstet Max, „der Boden, das war die reale Heimat, war Mirjam, waren deine Kinder, war dein Haus. Aber war es nur das? Dir fehlt die Heimstatt in dir selber. Sie ist dir nicht so leicht zu nehmen.“ „Hab ich doch alles schon gehört vom Psychotherapeuten, wenn er beim Meeting nebenher den Baumarkt-Einkaufszettel studiert hat. Scheiß der Hund drauf!“

Hannes lacht sein allseits berühmtes, wieherndes Lachen, die Mischung von Extase und Schmerz.

Magst Recht haben, Max – die Heimstatt in mir… Ohmmm… Der Duft von Räucherstäbchen...

Spaß beiseite, die Identität, das Gefühl von Selbstwert, vergiss es! Ich war Lehrer mit Leib und Seele. Meine Knochenkrankheit, meine Operationen – das alles hat mich zum Hausmann gemacht. Bei aller Liebe – mir blieb nur die Wahl der Dankbarkeit für diesen Lebensstil auf Berliner Speckgürtel-Niveau.

Hätte ich nun wieder, hokuspokus, Boden unter meinen Füßen, es wäre immer wieder dieselbe Geröllwüste mit Felsbrocken von Schuldgefühlen.

Ich war acht Jahre alt und dem allwöchentlichen Ritual der Religionslehrerin ausgeliefert. ‚Du bist und bleibst ein Dummkopf fürs Leben‘, flötete sie mir schrill ins Ohr. Gewiss – ich hatte sie beleidigt, weil ich das Auge Gottes zu einer Vagina umgemalt hatte.

Zur gleichen Zeit zwei Jahre lang sexueller Missbrauch durch den Dorffriseur.

Er sei ein so leutseliger, ehrlicher und gesprächiger Mann, sagte man im Dorf.

Ich hatte mehrfache Angst: Zum einen, die Eltern könnten mir nicht glauben, zum anderen, die Eltern könnten mich für mitschuldig halten, sollten sie mir glauben.

Der Richter fragte mich pennibel nach Einzelheiten. Ich konnte nicht antworten. So stand ich am Dorfpranger. Danach gab es keine Gespräche mehr.“

Du siehst doch, was falsch gelaufen ist, sagt Max, „sieh`s einfach dialektisch.“

Mensch, Max! Philosophie und Schuldgefühle – wie geht das zusammen? Die Schuldgefühle nagen mir das Fleisch von den Knochen. Hinzu kommt noch der Stempel, das Stigma des unheilbar Depressionskranken. Das klebt wie Pech an mir“.

Verstehe“, sagt Max, „so kannst du`s nun niemandem mehr rechtmachen.

Selbstwert ade!“


Er greift in seine Jackentasche.

Komm, Hannes, lass uns einen Joint rauchen. Weißt du noch – die Nacht in unserer WG auf dem schrägen Sperrmüllsofa?“


Sie kiffen wie in alten Tagen, lehnen sich gegen die Mauer der U-Bahn-Haltestelle.

Zu ihren Füßen haben Obdachlose ihre Schlafstatt aufgeschlagen. Ein leerer Yoghurtbecher steht auf dem Boden und bittet um Geld.

Die Passanten schauen geradeaus, eilen vorbei mit vollen Einkaufs-Plastiktüten, Rucksäcken, Reisekoffern und Kinderwagen.

Dann – wie eine Fanfare – zerreißt das Staccato einer Rap-Band das Alltagseinerlei. Der U-Bahn-Schacht wird dröhnend zur Kathedrale.

Tschau Hannes, muss heim zu Weib und Kind“, sagt Max, schwingt sich aufs Fahrrad und fährt davon.


Hannes geht am Ufer der Spree. Mühsam tastet er sich durch den Nebel und das raschelnde Herbstlaub zu einer Bank. Da sitzt eine vermummte Gestalt.

Trostloser Abend“, sagt Hannes.

Die Gestalt antwortet mit ruhiger Stimme: „Trostlos? Ich halte nichts davon. Ich gebe Trost.“

Wer bist du?“, fragt Hannes.

Ich bin die Z e i t . Nichts bleibt, wie es ist, nicht das Gute, das Schöne, nicht das Schlimme, das Hässliche, nicht das Verlassen und das Verlassenwerden –

das ist mein Trost.

Mein Trost sei dir Grund. Darauf mach` deine Schritte. Ich bin mit dir.“


Du liebe Zeit! Ich muss wohl bekifft sein!“, möchte Hannes antworten, aber die Frau ist im Nebel verschwunden.

Nun irrt er durch die Straßen. Vor den Lokalen sitzen Leute unter Heizsonnen an kleinen und größeren Tischen, diskutieren und erzählen einander.

Der Kiez. Auch in dieser Nacht zelebriert er sein Eigenleben, sein Credo der kleinen und der großen Alltagssorgen.

´Nichts bleibt, wie es ist, das ist mein Trost`, hat sie gesagt, denkt Hannes und er schlürft seinen dampfenden Espresso.

Dann steht er auf, geht durch den Novembernebel und fühlt Boden unter seinen Füßen.




​Verworfene Tradition


Uli und Susanne sitzen beim Frühstück.

Sobald Kaffee und Brötchen duften, lässt Susanne ihre Gedanken frei vagabundieren.

Uli hält nichts von solchen Denkpausen. Er liest die Zeitung.


Was verstehst du unter `verworfener Tradition ́?“, fragt er, ohne vom Blatt aufzusehen.

Susanne: „Wie kommst du jetzt darauf ? Und wo steht das?“

Uli: „Es steht nirgends, ist mir nur so eingefallen.“

Mir fällt dazu ́ne Menge ein“, sagt Susanne, „Traditionen, die man verwerfen, verdammen müsste. Die Burka, die öffentlichen Hinrichtungen bei den Saudis nach dem Freitagsgebet, das Töten neugeborener Mädchen und Genitalverstümmelung in anderen Kulturen, die Witwen-Selbstverbrennung teilweise noch in Indien...“

Uli: „Du siehst, keine Tradition ohne Rituale, Rituale als Gehirnwäsche.“

Uli liest und kaut.

Worauf willst du jetzt hinaus?“, fragt Susanne, „probier mal diesen Käse“.

Uli legt die Zeitung beiseite.

Worauf ich hinaus will? Du redest von der Burka als traditioneller Zwangsjacke. Ich kenne andere Zwangsjacken und es geht hier um unsere eigenen Traditionen.“

Susanne: „Und die wären?“

Uli: „Seit über zehn Jahren der allmonatliche Sonntagnachmittagskaffee bei deinen Eltern.

Der Kuchenboden ist immer zu dick und zu trocken und der Belag zu dünn. Am Tisch herrscht Maulkorberlass für politische Themen, man fachsimpelt über Hausmusik. Ein Scheißgeschwätz, denn in meinem Elternhaus gab es keine Hausmusik. Bedenke auch dein unterwürfiges Verhalten,wenn la Patronne die Tafel aufhebt und du mit deiner Schwester und der Schwägerin nichts wie hinterhermarschierst zum Geschirrabwasch. Während ich mit deinen Brüdern am Tisch zurückbleibe, schenkt uns dein Vater dieses einzige, winzige Gläschen Obstler ein. Es darf diskutiert werden, aber die Nazi- Zeit muss draußen bleiben. Denkverbot, Maulkorberlass – das wollte ich dir mal sagen.“

Susanne: „Jetzt hast du mir das Frühstück endgültig verdorben. Dir fehlt der Respekt. Schon die Bibel sagt: Du sollst Vater und Mutter ehren.“

Uli: „Ist doch alles beliebig auslegbar. Dass ich darüber mit dir nicht mehr diskutiere – wie lang ist das eigentlich her? Ach so! Meine Zigaretten sind alle. Ich geh ́ mal schnell zum Automaten.“

Uli verlässt den Frühstückstisch. Zu Susanne ist er nie wieder zurückgekehrt.




​Metamorphose


von katzenhaar

ist meine haut

von katzenhaar

wenn ich dich suche

stromauf stromab

schleift hin

mein vagabundenrock

schleift hin

der grüne tang

vom fluss


wenn ich dich suche

in den bäumen

wenn ich dich finde

schneeverweht

am fels

schleift hin

mein vagabundenrock

schleift hin

der grüne tang

vom fluss





​Topf und Grund


Ich bin

Topfpflanze

Meine Wurzeln

hungern

auf dem Grund

des Topfes

Ich bin

transportierbar

pflegeleicht

funktional

bis in die Blüte

Du hast Erde

so hast du auch stets

deinen Grund




​Glas


verbannt

hinter das versteck

verbannt

ins runde schweigen

der null


gläsern

ist das schweigen

der null

da wird keiner

dich suchen

da gehst du

zweibeinig

unter zweibeinigen zitaten

gehst einkaufen

tust deine arbeit

und redest

hinter einer wand

aus glas



​Die Konferenz



Eine Konferenz war anberaumt.

Es ging darum, zu diskutieren, wem wohl das größte Verdienst zukomme am Fortschritt der Geschichte, man könnte auch sagen, der großen und der kleineren Geschichten dieser Welt.


Viele waren geladen, nicht alle waren gekommen.

Angerückt waren die Wissenschaften, allesamt bebrillt, im Blick das Suchen nach der Wahrheit. Dieses Bestreben wollten sie geschlossen vertreten.


Gleich bunten Vögeln tummelten sich die Künste, uneinig in der Frage, was sie nun anstrebten - und wenn es denn die Wahrheit wäre, was letzten Endes die Wahrheit sei.


Auf dem Podest erschien die Sprache. Stolz schlug sie ihr Pfauenrad, mit Augen unzählig und buntschillernd, jedes Auge ein Spiegel, jedes Auge die Pose ihrer Selbstdarstellung.


Wie gesagt, es ging darum, zu diskutieren, wer wohl den größten Anteil habe am Fortschritt der Geschichte dieser Welt.


… „Natürlich das Denken!“, meinten die Wissenschaften.


… „wenn ja, dann doch das Sich-zusammen-denken“, entgegnete die Sprache, „...das Miteinander-denken, -sprechen, denn nur mit Sprache kann das Denken Schritte machen!“


Nun räusperte sich die Philosophie: „Wohl stellt die Sprache Zeichen zur Verfügung, die Formen und das rechte Maß. Auch Philosophen denken, doch fragen sie nach dem Woher, Wohin, Warum.“


Die Künste hatten zugehört, doch nun begannen sie zu klagen: „Es fällt uns schwer, in Sprache auszudrücken, was wir fühlen.

Sprache ist Fessel und Grenze. Wenn das Bedürfnis zu reden gestillt ist, dann betreten wir die Räume der Musik, der Bilder und der Poesie. So sind wir stets bemüht, das Nicht-sagbare zu ergründen. Unsere Rede hört auf das Schweigen.“


Doch die Sprache schlug ihr Pfauenrad: „Das Schweigen – ja! Nur – ich bin da, um es zu brechen!

Am Anfang war das Wort!“


Nun kam ein Wesen auf die Bühne, grau gewandet.

Erlauchte Werte, Wissenschaften, Sprache, Künste! Euer Ziel war stets Erfolg, nicht selten Geld und Ruhm. Ich bin der Sprecher der Moral und Sitte. Nie werden wir versäumen, euch zu hinterfragen. Wir sind dem Guten untertan!“


Die Wissenschaften riefen: „Wart ihr nicht eher euren Herrschern untertan?!

Und jeder Herrscher hatte seinen eigenen Moralapostel.

Drum sind wir gegen eure Kontrolle. Wir stimmen für den Dialog.“


Die Sprache schlug dazu ihr Pfauenrad, mit Augen unzählig und buntschillernd, jedes einzelne die Pose ihrer Selbstdarstellung.


Nach langem Hin und Her begann die Konferenz sich aufzulösen.


Niemand hatte die Gestalt bemerkt, die von Anfang an dabeigewesen war. Sie saß noch stumm und wachsam in der Ecke, ihr Blick versteinert, von echsenhafter Starre.

Und doch war viel darin zu lesen: Grausamkeit und Milde, Mut und Feigheit.

Oder war es namenlose Trauer?

Niemand hatte die Gestalt bemerkt, niemand hatte sich auf sie besonnen.


Es war das Schweigen.



 



​Die Tugend der Zwerge


Verliebt in die Zwergenprinzessin

wollte er dennoch

kein Oberzwerg sein

denn wer ist schon Goethe

würden die Oberzwerge schreien

oder

wir Zwerge waren schon immer

anders gescheit

wir achten das Gesetz der Zwerge

hier Puck und Butz

hier Hinz und Kunz

hier Petz und Bibabutzemann


Heil Alberich

Heil Oberon

Wir werden uns nicht das Maul verbrennen

Das Maß ist uns Gesetz

Darüber lässt sich nicht hinauswachsen

Wir haben keine Träume zum Licht

Wir harren gebückt unter Tage

und holen das Erz das Gold und das Silber

und huldigen dem Zwergenkönig

ihm dienen wir

ihm dient die Zwergenkönigin

Wir harren versteinert

zur Mahnung der Wichte

in euren Gärten

Hier Puck und Butz

hier Petz und Bibabutzemann

Heil Alberich

Heil Oberon

Wir werden uns nicht das Maul verbrennen

Das Zwergenmaß ist uns Gesetz

Am Ende entkam der Bursche

dem Land der Zwerge

und schrieb seine Geschichte





​Zuhause


Ist es der magische Ort, der mir die Freiheit gibt, zu gehen, zurückzukommen oder zu bleiben?

Ist es nun an diesem Tag der magische Ort, der mich festhält wie die vielarmige Krake, surreal wechselhaft und real in der

Gestalt des grinsenden Virus, erhaben gegen die Macht von Staat und Kirche, klüger als die Wissenschaft?

So hält es die Welt niedergedrückt unter einer Glocke aus undurchdringbarem Glas.

Darunter gehen wir die vorgeschriebenen Pfade mit Atemschutzmasken.

Und das Virus lehrt uns zu sagen „wir“, gleichwohl ob in Peking, London, Rom, Madrid, Paris, Moskau oder Berlin, oder ob zuhause in unseren Heimatdörfern.

Zu Tausenden sind sie eingesperrt, die Anderen, eingepfercht in ihren Wohnungen, in Pflegeheimen oder Intensivstationen.

Die Angst vor der Quarantäne geht um.


Der Frühlingshimmel ist märchenblau, die Weiden hängen ihre grünen Schleier in die Spree, die Vögel zwitschern, doch die Straßen und Plätze sind stumm und die Tische und Bänke vor den Kiezkneipen sind menschenleer.

Nur die Medienleinwand flimmert hektisch durch die Wohnungen in permanenter Geschwätzigkeit, teils beschwichtigend, teils angstgetrieben.

Dennoch hänge ich am Netz, dem worldwide web, hänge an ihm wie an einer Droge.


Nun stehe ich an der Glaswand der Glocke. Das Virus hat sie dem Erdball übergestülpt, hat damit seinen Herrschaftsbereich markiert und sein Name heißt Pandemie.

Ich stehe auf der surrealen Seite unserer Gegenwart , sehe hindurch und hinüber in eine real gewesene Vergangenheit.

Eine Frau taucht auf. Es ist Annerose M., meine Romanfigur, und sie winkt mir zu.

Annerose ist auf der Suche nach einem neuen Zuhause.

Nun beginnt sie zu erzählen.


...Wieder bin ich umgezogen.

Die Stadt atmet ihr lebensmutig-quirliges Willkommen. Sie atmet es aus allen Poren, hebt mich auf die Schwingen ihrer ungestümen Luft, die von der Taiga kommt.

Gibt es eine Liebe zwischen Mensch und Stadt?

Ich bin Annerose aus dem Süden.

Im Frühjahr bringt der Heimatfluss das Gletscherwasser aus den Alpen.

Bei Föhn steht klar am Horizont die Kulisse der Berge.

Ich kenne viele Abschiede‘, sage ich zu dieser Stadt, denke es vielmehr zu ihr hin, wenn ich über den Kudamm streune.

Die kenn ick ooch‘, höre ich sie durch ihr lautes Getriebe,

meine Menschen erzählen dir wat von Abschieden! Da biste nischt alleene.‘


Am Brandenburger Tor demonstrieren Araber, darunter ihre Frauen im schwarzen Tschador.

Hinterm Bahnhof Zoo stehen Obdachlose für ein warmes Essen an. An der Mauer der S-Bahn-Unterführung und unter Brücken sitzen sie inmitten ihrer Hunde und hantieren mit Schlafsäcken und Essgeschirr. Vor ihnen steht der leere Joghurtbecher für die Almosen.

Auf den Bänken am Alexanderplatz tummeln sich Teenies zum Komasaufen.

Überall herumliegende Bierflaschen. Zwei Jungen stehen gegeneinander wie Kampfhähne. Die Herumsitzenden finden das krass. Ein Mädchen steht weinend abseits. Der eine Junge holt mit der Bierflasche zum Schlag aus.

Ich renne nach einem Polizisten. Der raucht seine Zigarette.

Ja wat meinen Sie denn, wat ick da jeden Abend zu tun hätte?! Sie sind wohl nischt von hier?‘

Ich sitze in der U-Bahn. Ein junger Mann döst vor sich hin. Dann platzen laute Rap-Schreie aus seiner Jackentasche. Er zerrt das Handy heraus.

Hey Mann, Mann!! Isch hab nur drei Stunden gepennt!‘

An der nächsten Haltestelle steigt eine Gruppe Lateinamerikaner zu, walzt durch die Gänge mit ohrenbetäubender Musik aus den Anden und mit ‚Guantanamera...

yo soy un hombre sincero...‘

Draußen steigt ein Tross Models aus der Bahn. Es ist Fashion-Woche in Berlin.

Sie staksen linkisch in Stiefeletten, den Blick ins Nichts gerichtet.

Alle über einsachtzig, behangen mit schwerem Schal-Mantel-Gewirre, aber es reicht nur knapp bis unter den Po und gibt die langen Beine frei.

Die Rosenthaler Straße herunter kommt mir ein junger Mann entgegen in Schlafanzughosen und mit Badetuchturban in leuchtendem Blau.


Ich schaue hin. Und ich mache mir Gedanken über das Hin- und das Wegschauen.

In dieser Stadt scheint das Wegschauen zu verbinden.

Du schaust nicht hin, wenn Hautfarben wechseln zu Bronze oder Kaffeebraun oder ins Schwarz der Elfenbeinküste, wenn Kopftuchfrauen mit Kinderwagen dich im Pulk zur Seite schieben, wenn Gesprächsfetzen fremder Sprachen, fremder Dialekte mit dir Schritt halten oder schnell an dir vorüberhuschen. Dein Blick geht solidarisch ins Weite.


Ich finde keinen Schluss für mein Tagebuch.

Ein Schluss soll sich nicht weise aufspielen. Und ich sage es zur Stadt. Also gehe ich hoffnungsvoll inmitten ihrer stolzen Bäume.

Bald werden sie wieder grün.“


Das erzählt mir Annerose durch diese Glaswand aus dem jenseitigen Berlin,

aus ihrem neuen Zuhausen.





​Angst


In meiner Angstkammer

verberge ich

Nichtgesagtes

Nichtgeschriebenes

Nichtgetanes

Vertagtes

Versäumtes

Verlogenes


In meiner Angstkammer

verberge ich

die Angst




​Alle Jahre wieder


Alle Jahre wieder

Kyrie eleison

Krippenchristkindkreuzes

videoundbarbiepuppe

Gloria in excelsis

REPRO

Sanctus Sanctus

Dominus Deus

Kyrie eleison

Allüberall

mit Sang und Schall

VERPUPPUNG



​Geld spielt keine Rolle


Sie ist auf Jobsuche. In ihrem Geldbeutel sind noch zehn Euro. Die müssen reichen bis zum Monatsende.

Beim Discounter am Alten Bahnhof, wo teils die Waren in Kartons aufeinandergestapelt sind, gibt es Haferflocken im Sonderangebot. Sie kocht sie mit Wasser und etwas Salz zu einem dicken Brei, fast so dick wie Brotteig. Auf den Wiesen hatte sie Zwetschgen eingesammelt und damit hastig ihren Rucksack gefüllt aus Angst, jemand könnte sie beobachten. Nun kocht sie Zwetschgenmus, isst es zusammen mit dem Haferbrei ganz andächtig auf ihrem Küchenstuhl und denkt: Eigentlich ein Festessen.


Die Haferflocken sind aufgebraucht. So geht sie wieder zum Discounter am alten Bahnhof.

Dicht vor ihr schiebt ein Mann den Einkaufswagen. Sein stumpfes, verfilztes Haar fällt schulterlang über das fleckige T-Shirt. Ausgeleiert hängt es über den zu weiten Jeans. Typ Loser, denkt sie.

Am Wühltisch sieht er sich lange einen Jogging-Anzug an, legt ihn wieder zurück. Dann schichtet er sorgfältig ein paar Packungen Graubrotschnitten vom Sonderangebot in den Wagen.

Bei den Getränken tut er einige Flaschen Bier hinzu.

Aha! denkt sie, ein Saufbruder. Geld spielt wohl hier keine Rolle!


An der Kasse lässt er den zwei laut debattierenden Afrikanern und der Muslima mit dem quengelnden Baby den Vortritt.

Dann legt er seine Waren aufs Förderband. Die Kassiererin sagt ihm die Endsumme.

Er kramt in seinen Hosentaschen nach Geld.

Das Baby hat aufgehört zu quengeln, tatscht in den Bart des Mannes.

Er lächelt – und während er zahlt, lächelt er noch immer.


Draußen erwartet ihn ein Pulk Obdachloser, einige mit Rucksäcken, einige mit Plastiktüten.

Er beginnt, das Brot und die Bierflaschen unter ihnen zu verteilen.

Eine Frau ist dabei. Sie scheint zu ihm zu gehören.

Man hört ihren Namen.

Es ist Magdalena.






​Eliane


Ina und Eliane – keine lesbische Liaison und daher für Nachbarn nicht von Interesse.

Ina nahm Eliane zu sich nach dem Tod von Marc.

Eliane ist schweigsam.

So ist ihr nicht gegeben, eine Sache geschwätzig zu kommentieren,

Ina würde sagen, Sätze strategisch anzuwenden, „denn – so machen es doch alle, die Politiker, die Wissenschaftler und die Verkünder des rechten Glaubens.“

Auch ich“, sagt Ina, „liebe das hurenhafte Pfauengefieder der Sprache.

Doch – sag mir, Eliane – das Geheimnis deines Schweigens.“

Eliane bleibt stumm und hört zu.


Dann plötzlich sieht Ina ganz deutlich: Eliane hat Durst.

So geht Ina in die Küche, holt die Gießkanne, füllt sie mit Wasser und gibt Eliane zu trinken.


 



​Die Mauer


Sieh doch

die Mauer

graues Wesen

alt wie die Welt

aus einem Spalt

wächst grüner Efeu

die Mauer hat

geboren

ging lange schwanger

mit dem

Geheimnis

ganz schweigender Stein

sehnte sich

nach dem Augenblick

dass der Wind sie küsse

zurück blieb

ein Samenkorn

das wuchs



​Geht doch


Es begann mit einem Haselnuss-Stecken.

Großvater hatte ihn im Wald geholt und sein Platz war die Lücke zwischen Küchenschrank und Wand.

Ich bin drei Jahre alt und schleudere im Übermut meine Puppe unter den Küchenherd. Sie scheint mir für immer verloren.

Großvater holt den Stecken, wir legen uns beide flach auf den Boden und während er nach meiner Puppe angelt, halte ich den Atem an.

Da plötzlich liegt die Puppe - weiß eingestaubt - vor meiner Nase.

"Ja siehst du! Geht doch!", sagt Großvater.


Bei meinem Vater geht immer eher etwas nicht oder es geht zumindest nicht so.


Eines Tages will er Muggl, meinen Hasen, schlachten für den Sonntagsbraten.

Muggl soll davor noch ein bisschen fröhlich im Gehege herumhopsen.

"Du stellst dich jetzt da hin und passt mir auf den Hasen auf, dass er nicht abhaut!", sagt Vater.

Kaum ist er im Haus verschwunden, öffne ich das Gatter. Muggl schlägt einen Haken und sucht mit weiten Sprüngen die Freiheit.

Er kommt nie wieder zurück.

"Geht doch!", sage ich mir und weiß Großvater auf meiner Seite auch noch, als Vater mich schlägt und ich dabei den Küchenboden einnässe.


Der Vikar Müller ist ein so netter junger Mann!", sagt meine Mutter.

Ich bin siebzehn. "Find ich nicht!", sage ich, "auf seinem Motorroller sieht er aus wie draufgeschissen!"

Dennoch ist Herr Müller bei meinen Eltern zum Kaffee eingeladen.

Ich rette mich blitzschnell hinauf in den Schuppen, verstecke mich hinter einer Holzbeige und bin somit verschollen.


Geht doch!" - das waren Großvaters Worte und sie haben sich wohl tief in mir eingenistet, um sich energisch einzumischen, wenn ich vor einer Entscheidung stehen sollte.

Fragt mich nicht, wie oft sie mich lehrten, sie wollten keine märchenhaften Glücksbringer sein!

Stattdessen aber machten sie mich neugierig auf die Philosophie. Unter ihren tausend Facetten interessierte mich besonders das Für und Wider des Handelns.

"Geht doch!" - das ist wohl die Maxime des Handelns. "Stimmt!" würde Platon sagen, unser über zweitausend Jahre alter Großvater der Europäischen Aufklärung, "aber es ist die Idee, die etwas zum Gehen bringt. Und am Anfang stand die Idee."


Ich bin auf dem Weg zur Demonstration "Friday for future" - der weltweite Streik der Schüler für die Zukunft der Erde.

Über den Platz am Brandenburger Tor tönt der Song der Beatles "Let it be...“

Paul McCartney`s Mutter starb, als er erst vierzehn war.

Sie waren arm, die Mutter arbeitete hart, aber immer hatte sie tröstende Worte für den kleinen Paul.

Jahre später trifft ihn wieder ein Schicksalsschlag. Dann erscheint ihm im Traum die Mutter.

So heißt es am Schluss des Songs: "..mother Mary comes to me speaking words of wisdom: let it be. "

Immer, wenn du unglücklich bist, mein Junge, sollst du dir sagen: "Geht doch!"

Zigtausende Demonstranten brechen sich Bahn nach allen Seiten und scheinen die Stadt zu überfluten.

Die Jugend meldet sich zurück.

Und ich denke: Da war doch mal was...

"Bleibt dran!", rufe ich einer Gruppe von Schülern zu.

Da ist mir, als sähe die Stadt selbst auf die Menge, leidgeprüft, kämpferisch, naturverbunden.

Ihr graues Haar ist zerzaust vom Wind, der aus der Taiga kommt.

So lächelt sie uns zu:

"Ich bin an eurer Seite.

Nu kiekt nischt so!

Geht doch ! "


​Gratwanderung


Auf dem weg

zu dir

auf dem weg

zu mir

auf schmalem grat

in der tiefe

das einhorn

winkt herauf

aus dem abgrund

über den wir gehen

auf schmalem grat





​Geburtstag – eine Zeitreise


Ich bin in den 90er Jahren des vorigen Jahrhunderts.

Die Straßenpassanten tragen noch keine Handys und keine Kopfhörer.

Viele sind zu Fuß von A nach B unterwegs, um einfach an einen Ort zu gelangen.

Meine Zeitreise ging an einen Ort der Erinnerung.


Auf Plakaten lese ich: Die Baden-Württembergischen Literaturtage sind in Vorbereitung, diesmal zu Ehren von Hermann Hesse.

Sie feiern auch den 120. Geburtstag des großen Sohnes der Stadt.

Obgleich Literaturnobelpreisträger, war er zu Lebzeiten ungeliebt als der „Prophet im eigenen Land“, als der Taugenichts und Rebell gegen die Knute des schwäbischen Pietismus.

So verließ er in jungen Jahren jede Schule und auch seine Lehre und schließlich für immer sein Schwarzwald-Heimatstädtchen.


Spitzgiebelige Fachwerkhäuser stehen mit der ehrwürdigen Stiftskirche um den alten Brunnen. Enge Gässchen und Stufen führen hinauf zu den höher gelegenen Fachwerkhäusern. Dahinter türmen sich schwarze, bewaldete Hügel auf.

Auf dem Marktplatz höre ich gemächliches Klopfen und Hämmern. Bücherstände und Buden werden aufgebaut.


Zwei junge Autoren sitzen vor dem Lokal von Giuseppe und schlürfen ihren Cappuccino. Sie kennen einander seit der Schulzeit, nennen sich gegenseitig ´Schniege´ und ´Schlumpi`.

Schniege zu Schlumpi: „Deine Hippie-Mähne, Schlumpi, ist doch inzwischen megaout. Wir sind nicht mehr in den Siebzigern, born to be wild – und so.

Und dein megaweiter Strickpulli erinnert mich an die Schaustricker der ersten Grünen im Bundestag.

Sag, Schlumpi, warum beteiligst du dich nicht mit einem Bücherstand?

Schlumpi: Ich hab mich nicht angemeldet. Mit deinem Bestseller kann ich nicht konkurrieren. Hab nun mal kein Talent für Krimis. Mir fehlt auch das Marketing-Knowhow. Wie hast du es geschafft? Doch wohl nicht nur mit deiner geschniegelten Frisur und deinen Bügelfalten?



 


Schniege: Du brauchst connections auf Teufel komm raus, Beziehungen, sei es zum Teufel selber, der reicht dich nach oben weiter bis in die Medien und Fernseh-Talkshows. Das ist schon mal die halbe Miete. Du präsentierst dich und nicht deinen Text. Die Masse will kein intellektuelles Gesäuere über des Lebens Widersprüche, sie will nicht das Hohe Lied der Selbstverwirklichung, mein lieber Schlumpi. Der Weg ist ihr zu lang und zu steinig. Die Masse will Unterhaltung.

Neue Empfindsamkeit – das hatten wir doch alles schon.

Doch die Verhältnisse – die sind nicht so, sagte schon Bert Brecht.

Schlumpi: Danke, Schniege, so bist du immer noch mein Freund. Trotz BWL-Studium hast du auch die großen Literaten gepackt.

Schniege: Gepackt aber auch die Gelegenheit, ans Geld zu kommen.

Die Klassiker benutze ich nur, um sie zu zitieren. Das macht Mords-Eindruck.

Sag, Schlumpi, kokst du noch gegen deine Lahmarschigkeit?

Nun geh endlich rein zu Giuseppe ans Telefon und ruf die Verwaltung der Literaturtage an. Hier ist die Nummer.


Schlumpi erhebt sich umständlich vom Stuhl.

Giuseppe summt ´avanti popolo...avanti popolo…` und reicht ihm fröhlich das Telefon.

Schlumpi: Hallo! ist hier die Verwaltung der Literaturtage?

Stimme: Jo, genau, des sen mir!

Schlumpi: Ich wollte fragen, ob noch ein Platz frei wäre für einen Buchstand.

Stimme: Em Prinzip jo...wie isch denn dr Name ihres Verlags?

Wie?? Huberle-Verlag? Der Name sagt mir garnix.


Jetzt halt a mole...Ihr wievieltes Buch isch es denn?

Schlumpi: Mein erstes.

Stimme: Jo, was meinet se denn, wieviele Autoren mit ihrem allererschte Buch bei ons gern en Schtand hättet?! Do wär für unsere bekannte Autoren bald koi Platz mehr geschweige denn für onsere Beschtseller.

Ach so!...Wie heißet se denn übrigens?


Schlumpi sagt:

Ich heiße Hermann Hesse.




​Tod im Net


geh schneller

überhole

software

und deine reaktion

die zu spät käme

überhole

das überholen

geh schneller

nach nirgendwo

made in silicon valley

da weisen silberne spinnen

dir deine einbahnstraße

hinter die zeit

da ist der schilf

aus metall

da dümpelt

online

dein kahn

nach nirgendwo




​Ein Gespenst geht um


die zeit ist gekommen

eine sänfte aus dollarmilliarden

dem volk geraubt

trägt mister president an die macht

so kann er sagen

yes we can

und

oh we can be heroes not just for one day

we can be heroes

forever

was kümmern mich eurokrise

windräder atomkraftwerke

menschen die von müllhalden essen

was kümmern mich

dschihad und gottesstaat

unsere reihen sind fest geschlossen

im spy center von utah

feiern wir unseren traum

of a permanent solution

dort hält big brother

eure digitalen ketten in seiner faust

forever

dort überwacht und hütet er

eure träume

eure sehnsucht nach dem du

wer unter uns zieht den stecker

wirft rechner robot telefon und handy

auf den müll und flüchtet

in die wälder zum jagen

in die höhlen

zum hüten des feuers

die zeit läuft nicht rückwärts

w a s t u n

bevor wir alle rufen

yes we can

heil mister president

dich grüßt dein volk

der world wide web society




​Die Uhr – eine wahre Geschichte


Es ist ein klirrend kalter Dezemberabend vor der Jahrtausendwende.

Mühsam rutscht mein Auto durch die Schneedecke den Bergpfad hinauf.

Oben angekommen, sehe ich am Nachthimmel eine Uhr in der Größe des Mondes.

Ihre leicht verschwommenen römischen Ziffern zeigen auf zehn Minuten vor halb zwei.

Auf meiner Autouhr ist es genau zehn Uhr abends.

Nein, es ist kein Traum! sagt mir der Geruch der frischen Lauchzwiebeln.

Er kommt vom Rücksitz aus meinem Einkaufskorb.

Aber am Himmel steht die Uhr.

Ach so! Jahrtausendwende!

Ein besonderer Werbegag – nur – für welche Firma und für welches Produkt?

Zu Hause angekommen, ärgert mich der Schneeberg vor der Garage. Ich vergesse die Uhr.

Das war gestern. Doch wieder steht die Uhr am Nachthimmel.

Auf dem Feldweg kommt mir ein junges Paar entgegen. Ich fasse Mut und frage:

Bitte, entschuldigen Sie, wissen Sie, was das für ein Uhr ist da oben?“

Der junge Mann: „Wie – was?“

Die junge Frau beschwichtigend: „Ach so...ja, ja! Da ist eine Uhr.“

Ich: „Ja schon! Aber woher kommt sie?“

Die Frau zum Mann: „Weißt du es?“

Der Mann zieht die Frau energisch am Ärmel und klopft sich dreimal mit dem Finger an die Stirn.

Mit schnellem Schritt gehen sie untergehakt weiter.

Zu Hause knipse ich die Tagesschau an. Als Schlusslicht der Nachrichten kommt die Wiedergabe der Prophezeihung einer Sekte, die Welt gehe unter pünktlich zur Jahrtausendwende.

Nur keine Rede von der Uhr, etwa als mögliches Symbol.

Doch warum zeigt sie dann zehn Minuten vor halb zwei und nicht fünf Minuten vor zwölf?

Außerdem bin ich nicht abergläubisch.

Ich schaue zum Fenster hinaus an den Nachthimmel. In einigem Abstand von der Uhr steht der Mond. Jetzt umgibt ihn deutlich ein blassgelber Ring.

Ich hole meine Brille aus der Schublade. Vor ein paar Wochen habe ich sie gekauft für längere Autofahrten.

Durch die Brille sehe ich zum Himmel. Da steht der Mond nun ganz ohne Ring und die Uhr ist verschwunden, weggezaubert.

Dennoch: Meine Uhr begleitet mich auch heute, wenn ich ohne Brille und mit bloßen Augen zum Nachthimmel hinaufsehe.

So kündet sie von Wahrheiten aus längst vergangenen Zeiten, wo es noch keine Brillen gab.




​Kriegsspiele


Neue Bedrohung

altes Feindbild

neue Waffen

neue Kriege


Über Auschwitz

und die verbrannte Erde des Ostens

und das mit Napalm verseuchte Vietnam

über Hiroshima und Nagasaki

über Syrien, Irak und Afghanistan

zieht sich die Blutspur

eurer Kreuzzüge

nach der Gleichung eurer Legitimation

Die Juden die Linken die Nigger

die Schwulen der Islam

doch Revolutionen Gentlemen

überlasst ihr dem Volk

und Scheich und Mullah eure Waffen

Allah-hu Akhbar – Remember the Prince

Und wieder liefert euch

die Geschichte

die Krise frei Haus

Neue Bedrohung

altes Feindbild

neue Waffen

neue Kriege

 

 

 

 

Geschichten von früher für Kinder von heute

 

 





Das Krankenhaus im Keller


Ich war eben sechs Jahre alt geworden und es war noch Krieg.

In einem Geschäft konnte man nur Mehl, Zucker, Essig und ein paar andere Sachen und beim Bäcker eine einzige Sorte Brot und Brötchen kaufen, eben nur das, was man dringend brauchte, um nicht zu verhungern. Es gab natürlich auch keine Süßigkeiten.

Allerdings ging es den Leuten auf dem Dorf, wo ich lebte, etwas besser als den Stadtbewohnern. Aus Berlin kamen deshalb zu uns viele Kinder. Eigentlich waren sie Hungerflüchtlinge. Sie wurden aber Ferienkinder genannt. Ihre Eltern waren in der Stadt zurückgeblieben.

Wenn man auf dem Dorf einen Bauernhof hatte oder wenigstens einen Garten mit Obstbäumen und Beerensträuchern, konnte man zum Beispiel ein Schwein oder ein Huhn schlachten oder die Kuh melken. Und aus dem Garten holte man die Äpfel, Pflaumen oder Beeren.

Sie wurden von der Mutter in Gläser gefüllt und in heißem Wasser für den Winter haltbar gemacht. Oder die Beeren wurden weich gekocht zu Marmelade und ebenfalls in Gläsern aufbewahrt.

Frau Pfistert, unsere Nachbarin, hatte viele von diesen vollen Vorratsgläsern in ihrem Keller. Sie standen alle auf einem großen, hohen Regal. Stellt euch ein Stockbett vor wie euer eigenes, aber viel höher und mit vier breiten Etagenbrettern übereinander.

Man hätte darauf schlafen können. Einmal hatte ich das Regal gesehen, als ich bei Manfred war. Manfred, ihr Sohn, war öfters mein Spielkamerad.

Eines Tages war ich wieder einmal mit Manfred und meinen Freundinnen Anni, Herta, Helga und Gisela zusammen.

Wir könnten Verstecken spielen“, sagte ich.

Aber bei uns!“, sagte Manfred. Meine Mutter ist heute nicht da. Wir haben das ganze Haus für uns und auch den Keller.“

Nein, nicht im Keller!“ rief Helga, „da hat es bestimmt Mäuse!“

Ich will nicht schon wieder Verstecken!“, sagte Gisela, „das ist ein Spiel für Babies!“

Ich weiß etwas!“, rief ich. „Wir spielen Krankenhaus in Pfisterts Keller. Da sind noch zwei Etagenbretter frei, eines ganz unten und das andere ganz oben. Auf den mittleren beiden Brettern stehen die Obst- und Marmeladengläser.

Ich bin die Krankenhauschefin, weil ich zuerst die Idee hatte.

 

Also bestimme ich und zwar kommen auf das untere Brett die Kinder, die nicht sehr verletzt sind. Wer ist die Krankenschwester?“ „Ich mit Anni!“, rief Gisela, „wir können das oberste Brett als Operationszimmer benutzen.“

Da saß schon Manfred mit Helga und rief: „Ich operiere. Ich nehme mein Taschenmesser.“ Dann zog er es aus seiner Hosentasche und schwenkte es stolz durch die Luft.

Das machst du nicht!“ rief Helga.

Manfred darauf: „Warum nicht? Glaubt ihr, ich könne nicht aufpassen?! Ich bin doch der Arzt! “

Ich geh gleich heim! Gib dein Messer her!“ schrie ich zu Manfred hoch.

Doch er grinste von oben herunter und sagte dann beleidigt: „Jetzt hab ich keine Lust mehr, ihr seid ganz doofe Spielverderberinnen, halt eben Mädchen!“

Auf dem untersten Brett wurden nun auch Anni und Gisela und ich sehr böse auf Manfred.

Du bist der Spielverderber und nicht wir!“ riefen wir nach oben.

Als Manfred herunterklettern wollte, hielt ihn Anni an einem Bein fest.

Da plötzlich begann der Marmeladenständer zu schwanken wie ein Schiff im Sturm.

Er kippte um und wir alle wurden darunter begraben. Über unsere Köpfe, Gesichter und Kleider lief die Marmelade und lief das Apfelmus. Wir schrien „au! au!“, denn uns piksten die Glasscherben.

Aber zum Weinen hatten wir keine Zeit. Wir mussten uns mutig und schnell aus dem Marmeladenständer-Wrack befreien.

Inzwischen war Frau Pfistert zurück ins Haus gekommen.

Ja um Himmels willen!“ rief sie und schon war auch meine Mutter da.


Könnt ihr euch denken, was ich nicht vergessen habe?

Weder Frau Pfistert noch meine Mutter haben uns ausge-schimpft.

Ich glaube, sie dachten: Zum Glück ist keinem der Kinder etwas passiert.

Es hätte ja auch schlimmer kommen können.

Meine Mutter sagte nur: „Dein schönes weißes Sonntagskleid ist jetzt voller Heidelbeeren. Ich krieg`s nicht mehr sauber und muss es wegwerfen.“



Der Hubert



Meine Schulkameradin hieß Anni. Sie war ein Jahr älter als ich, also neun Jahre alt und ging mit mir in die Grundschule unseres Dorfes.

Anni wohnte auf der anderen Straßenseite auf einem großen Bauernhof mit Pferden, Kühen, Hühnern, Enten und Gänsen. Es gab auch einen großen Hund.


Im Herbst half ich der Anni beim Hüten der Kühe.

Das durften wir beide ganz allein machen und ich lernte bei Anni, wie ich die Kühe losbinden und aufpassen musste, dass sie ungefähr, ohne zu drängeln, brav die Straße entlang zu den Waldwiesen liefen.

 

Die Kühe hatten alle ihre Namen wie Alma, Liese, Berta und so weiter. Eine davon hieß Rosa und war ziemlich langsam, weil sie ein krankes Bein hatte. Wir wollten sie aber nicht allein im Stall zurücklassen. Anni lief der Kuhherde voraus und ich lief ganz hinten, also hinter der Rosa, damit sie noch mitkommen konnte. Die Kühe kannten alle ihre Namen und hörten darauf.


Bald waren wir bei den Wiesen am Wald angekommen. Hier weideten unsere Kühe zufrieden und gingen auch nicht in den Kleeacker nebenan. Das wäre sehr, sehr gefährlich gewesen, denn wenn Kühe den gut schmeckenden Klee fressen, bekommen sie einen ganz dick aufgeblähten Bauch, der dann aussieht wie ein großer Luftballon. Daran hätten sie sterben können. Aber wir passten auf.

Wir hatten auch genug Schatten und die herunterhängenden Äste der Tannen waren unsere Schaukeln. Mit ihnen schaukelten wir sehr hoch und spielten, wer am weitesten schwingen konnte. Aber wir hatten uns dabei nicht gestritten, wenn eine von uns gewonnen hatte.

Etwas weiter weg von uns saß der Hubert auf einem Hügel und spielte auf seiner Flöte ein Lied. In der Schule gab es auch einen Flöten-Unterricht. Hubert hütete die Kühe von einem anderen Bauern. Wir riefen „Hallo Hubert!“ Und Hubert antwortete gleich mit einem neuen Lied.

Dann wurde uns das ein bisschen langweilig und wir stiegen die Leiter hoch auf einen Jäger-Hochstand. Er sah aus wie ein Baumhaus.

Die Kühe weideten friedlich und gingen nicht auf den Kleeacker. So konnten wir auf dem Hochstand Mittagessen-Kochen spielen. Wir setzten uns auf die Holzbank und aßen unser mitgebrachtes Vesperbrot mit dem Sauerampfer. Den hatten wir auf der Wiese gepflückt und er schmeckte gut wie Salat und war nicht giftig. Plötzlich sagte Anni: „Ich glaube, es regnet. Merkst du das auch, Christel?“ Ich sagte: „Ja, da tröpfelt es ja durch das Dach! Aber draußen ist doch der blaue Himmel und Sonne und keine einzige Regenwolke!“

Wir aßen weiter, aber wir hatten ein bisschen Angst, weil wir uns nicht denken konnten, woher der Regen kam. Ich hatte schon einige Tropfen auf meinem Arm. Anni sagte: „Guck mal raus ! Der Hubert ist ja gar nicht mehr bei seinen Kühen und flötet auch nicht mehr!“

Da bekamen wir einen Riesenschreck. War das ein Waldgeist? Über uns brummte etwas schrecklich wie ein Löwe.

Das war der Hubert !

Er war heimlich still und leise die Leiter hochgeklettert, hatte sich aufs Dach gesetzt und zwischen den Bretterritzen auf uns heruntergepullert.



Reitze-Oma, Schützenfest und Prinzessin Huschewind


Ich war acht Jahre alt, in der zweiten Klasse und es waren Sommerferien.

Die Sonne schien zum Fenster herein, draußen gackerten die Hühner.

Meine Reitze-Großmutter - ich nannte sie „Oma“ – rasselt gemütlich mit ihrer Nähmaschine und nähte Stoff-Flecken auf die Löcher von Großvaters Hose. Dabei gab es einen herrlichen Abfall von bunten Schnippeln. Ich hob sie vom Boden auf und nähte daraus mit ganz einfachen Stichen Kleider für meine Puppen.

Jetzt loos amol“, sagte Oma - das sollte heißen 'jetzt hör' mal her! ' - „nächste Woche fahren wir beide zusammen mit dem Zug nach Biberach zum Schützenfest.

Dann heißt es Tsch, tsch, tsch und pfüüüüt! - so macht die Lokomotive, die den Zug zieht, wenn sie an einem Bahnhof hält“. Vor Freude musste ich erst einmal durch den Garten rennen, denn noch nie war ich mit einem Zug gefahren.


In Biberach hatten wir Verwandte. Dazu gehörten die Tante Walli, der Onkel Anton, ihr Sohn, der Fred, und Marianne, ihre Enkeltochter. Sie war so alt wie ich.

Unsere Biberacher waren sehr arm und hatten wenig zu essen. Es war ja die Zeit nach dem Krieg, wo die Bomben auf viele Städte gefallen waren. Es gab immer noch wenig zu kaufen und die Stadtbewohner hatten keine Gemüse- und Beerengärten, keine Kartoffel-, Kraut- oder Getreideäcker wie wir auf dem Dorf.

Meine Reitze-Großeltern hatten sogar im Garten einen Hühnerstall mit vielen Hühnern, dazu einen Hahn und im Schuppen gab es einen kleinen Stall. Dort grunzte unser Schwein, das im Herbst geschlachtet wurde, so dass wir auch Fleisch hatten.

Allerdings gab es auch bei uns auf dem Dorf keine Süßigkeiten zu kaufen. Ich wusste also nicht, wie eine richtige Schokolade oder Bonbons aussehen.

Am Abend vor unserer Abreise packte Oma in zwei Pappkartons Mehl, Eier, Gläser mit Wurst und Fleisch und selbstgemachter Marmelade. Dann holten wir auch noch Sauerkraut aus dem Keller. Oma hob den Deckel vom Krautfass und mir war, als würde das Kraut zu mir sagen: „Ja siehst du, wie fein würzig und saftig ich geworden bin, weil du so fleißig warst!“ In jedem Herbst musste ich nämlich bei Oma einen ganzen Nachmittag lang mit sauber gewaschenen nackten Füßen das frisch geschnittene Kraut einstampfen. Das war unsäglich langweilig.

Der Tag war gekommen!

Wir mussten schon um vier Uhr aufstehen. Die vollen Pappkartons packten wir auf unseren kleinen Leiterwagen und zogen ihn drei Stunden lang durch den Wald und ein Dorf bis zum Bahnhof nach Großschafhausen. Der Bahnhof war sehr klein, auch

der Warteraum. Er hatte nur zwei Bänke.

Hörsch, hörsch!?“, sagte Oma plötzlich. Da kam der Zug schon angeschnauft!

Und es zischte und dampfte zum Kamin der Lokomotive hinaus.

Im Zugabteil saß uns gegenüber eine Frau mit einem kleinen, etwa dreijährigen Mädchen und auf der anderen Seite ein älteres Ehepaar.

Wo kommet Ihr her?“ fragte Oma sie alle. Dann redeten sie miteinander über eine fremde Stadt, die mich nicht interessierte.

Also Oma! Das ist mir jetzt langweilig, von wo die alle her-kommen“, sagte ich.

Dann guck` zum Fenster raus!“ lachte Oma, „siehst du nicht, wie schnell die Bäume und Häuser vorbeifliegen?“

Oh Oma! Ich bin doch kein Baby! Nicht die Bäume und Häuser fliegen vorbei! Es sieht nur so aus. Es ist der Zug, der dran vorbeifliegt!“, sagte ich.

Nun packte Oma das Vesper aus. Es war Schmalzbrot und eingewickelt in Zeitungspapier, denn damals gab es noch keine Boxen für Pausenbrote und auch keine Plastiktüten.


Die Wohnung von Tante Walli und Onkel Anton hatte nur zwei kleine Zimmer und eine winzige Küche. Im Schlafzimmer hatten nur ein Bett und ein Kleiderschrank Platz. Onkel Antons Schlafplatz war auf dem Sofa. „Ich schlaf auf dem Boden“, sagte Fred, „das macht doch mir nichts aus! Bei den Pfadfindern müssen wir oft auf dem kalten Waldboden schlafen. Ihr Mädchen habt ja keine Ahnung! “

Gib bloß nicht so an!“, schimpfte Marianne. Ich mochte sie gleich sehr und bewunderte sie, weil sie sich von Fred nichts gefallen ließ.

In Tante Wallis Bett lagen Marianne und ich zusammen am Fußende. Tante Walli lag umgekehrt und zwischen uns waren ihre Füße, sozusagen als Grenze.

Nun gebt mal Ruhe! “, rief Tante Walli. Einmal wurde sie fast böse, weil wir sie an den Zehen kitzelten.


Am Tag darauf gingen wir zusammen zum Schützentheater. Da gab es einen großen Saal mit vielen Sitzen und eine Treppe höher war die Empore, wo auch überall Leute mit Kindern saßen. Unter der Bühne, es heißt „der Orchestergraben“, saßen die Musiker mit einem Klavier, mit den Geigen, Flöten, Trommeln und anderen Instrumenten. Sie übten schon ein bisschen mit ganz leisen Tönen. Dazu bewegte sich geheimnisvoll der noch geschlossene Vorhang.

Dann wurde es dunkel. Langsam hob sich der Vorhang.

Wir sahen den prunkvoll glitzernden Saal eines Schlosses.

Die Musik spielte eine lustige Polka und von allen Seiten tippelten kleine Mädchen heran.

Sie waren verkleidet als Puppen in hellblau und rosa Röckchen und Käppchen und tanzten ihr Puppenballett. Die jüngsten unter ihnen waren etwa drei Jahre alt und gingen in einen Biberacher Kindergarten, heute „Kita“ genannt.

Doch was waren das für zwei kleine Kobolde?!

Es waren Prinzessin Huschewind und ihre Freundin, das Köhler-Käthchen. Sie tollten kreuz und quer herum und spielten zwischen den Puppen Verstecken.

Das ärgerte sehr den Hofmarschall. Er war der Lehrer von Prinzessin Huschewind. Gekleidet in würdevolles Schwarz kam er hereingestürmt und verfluchte laut die Prinzessin:

Würdest du doch auf deinem Stuhl festwachsen und so lange

festgewachsen bleiben bis der Wald zu dir ins Zimmer kommt!“

Leider ging diese Verwünschung schnurstracks in Erfüllung.

Darüber war nun der Vater der Prinzessin, der König, sehr böse. Er jagte den Hofmarschall aus dem Schloss und befahl ihm, so schnell wie möglich den Wald ins Zimmer zu holen.

 

Nun ging also der Hofmarschall, begleitet vom Köhlerkäthchen, in den Wald zum Bäumchen Wiegewind. Doch leider konnte es nicht helfen, denn seine Wurzeln waren ja, wie auch die Wurzeln der anderen Bäume, tief in der Erde angekettet. Das war das Reich von König Wurzelgraus.

Der Hofmarschall und das Käthchen waren ratlos und verzweifelt. Da plötzlich kam ein Wandergeselle daher. „Habt ihr keine Lust, mit mir weiter zu wandern?“, fragte der junge Mann.

So kamen alle Drei an eine alte Mühle, genannt „Tausendwunsch“. Dort lebte der sehr geizige, habgierige Müller Rumpelsack.

Er war ein richtiges Ungeheuer, denn weithin war bekannt: Er fing Menschen und die Tiere des Waldes und mahlte sie kurz und klein in seiner Mühle zu Geld, damals waren es Golddukaten.

Zunächst war er nicht zu sehen. Da plötzlich kamen von allen Seiten viele Mehlsäcke angehoppelt und tanzten langsam und schwerfällig das Mehlsack-Ballett.



Aus der Tür kam nun der böse Müller mit seiner weißen Zipfelmütze und lud die drei Wanderer ein, bei ihm zu übernachten. Natürlich wollte er sie zu Gold zermahlen.

Dem Wanderburschen fıel nun eine List ein. Er fragte den Müller nach dem Mühlbach. „Wir sind so vollgeschwitzt und würden gern zuvor ein Bad nehmen.“ Der Müller willigte ein.

Als er ihnen voraus zum Mühlbach ging, stießen sie ihn mit einem kräftigen Ruck in den tosenden Wasserfall und er ertrank.

Nun war die Mühle - sie hieß ja Tausendwunsch - im Besitz der drei Wanderer und konnte ihnen jeden Wunsch erfüllen.


Vielleicht weiß ja die Sonne Rat. Sie ist die Mutter aller Pflanzen und versteht sich doch bestimmt mit König Wurzelgraus“, sagte der Wanderbursche.

Also los geht`s, liebe Mühle, bring uns zur Sonne!“


Das Gemach der Sonne funkelte in goldenen Blitzen. Hinter einem halb geöffneten, goldglitzernden Vorhang schlief die Sonne in ihrem Himmelbett, eine wunderschöne Frau mit goldener Krone auf langen, rotblond glänzenden Locken. Um sie herum saßen ihre Kinder, die vielen kleinen Sonnenstrahlen, in goldenen Ballettröckchen.

Bitte, weckt eure liebe Mutter auf, ihr kleinen Sonnenstrahlen!“, bat das Köhler- Käthchen. Und der Wanderbursche sagte: „Wir brauchen dringend einen kräftigen Sonnenstrahl, auf dem wir hinabrutschen können ins Reich von König Wurzelgraus. Den müssen wir um etwas sehr Wichtiges bitten.“

Wir dürfen unsere Mutter nicht aufwecken!“, riefen die Sonnenstrahlen.

Dann versucht es eben mit einem eurer schönen Tänze“, sagte der Wanderbursche.

Nun ertönte aus dem Orchestergraben ein wunderschöner Walzer, die kleinen Strahlen bewegten sich im Kreis und funkelten um die Wette.

Die Sonne erwachte. Sie rückte ihre lange, goldene Schleppe zurecht und lachte freundlich, wie nur die Sonne lachen kann. Dann schickte sie die drei glücklichen Wandersleute tief hinab auf die Erde.


Im Reich von König Wurzelgraus war es düster, feucht und halb dunkel.

Mit geschlossenen Augen bewachte der Igel Grunzegrus die Wurzeln der Bäume.

Wo finden wir nun den Schlüssel zum großen Wurzelschloss?“, rief das Köhler-Käthchen. „Das ist doch einfach“, sagte der Wanderbursche, „der Igel hat seine Augen ja geschlossen. Und seht doch! Der Schlüssel liegt dort neben ihm im Moos vor dem großen Wurzelschloss! Wir müssen uns beeilen, bevor uns König Wurzelgraus entdeckt.“

Nun ging alles sehr schnell. Das Köhler-Käthchen öffnete mit Hilfe des Sonnenstrahls das Wurzelschloss. Dann befreite es zuerst das Bäumchen Wiegewind und danach die anderen Bäume von ihren Ketten.

Inzwischen herrschte im Königspalast tiefe Traurigkeit. Prinzessin Huschewind war immer noch an ihrem Stuhl festgewachsen. Da plötzlich erschien der Küchenjunge und brachte die Nachricht: Ein ganzer Wald bewegt sich auf das Schloss zu.

Nun waren sie alle eingeladen, vor allem die Bäume, der Wanderbursche, das Käthchen, ja sogar der Hofmarschall.

Und zum Schluss erschienen die Mehlsäcke aus der Mühle, die vielen Puppen des Palastes und auch die Sonnenstrahlen. Dann humpelte schließlich noch der Igel zur Tür herein.

Prinzessin Huschewind war wieder frei und alle tanzten und feierten den Geburtstag der glücklichen Prinzessin:


Das Schlaraffenland


Im Land war große Not. Besonders die Armen hatten fast nichts mehr zu essen.

Zu diesen armen Familien gehörten auch Elisa und ihr Bruder Paul.

Elisa war krank, so ging Paul eines Tages ganz allein zum Jahrmarkt. Dort gab es ein Karussell und auch verschiedene Stände, wo Leute Eis und Süßigkeiten kaufen konnten. Aber leider hatte Paul kein Geld.

Da kam er an einem Mann vorbei. Der sah ein bisschen aus wie ein Clown und erzählte den vorbeikommenden Leuten vom Schlaraffenland.

Dort müsst ihr für Essen garnichts bezahlen!“, rief er, „aber nur mutige Menschen können das Schlaraffenland finden. Und sie werden für ihren Mut reichlich belohnt, denn das Essen steht dort schon fertig gekocht überall herum. Gebratene Hähnchen fliegen durch die Luft und in den Bächlein fließt Milch und Kakao.“

Bruder Paul fragte: „Aber wie kommen wir da hin?“

Ganz einfach“, sagte der Clown. „Du wanderst nur durch den Wald und wichtig ist dabei, dass du fest daran glaubst, dass du das Schlaraffenland finden wirst. Irgendwann kommst du an eine hohe Felsenwand. Dann musst du sagen: Öffne dich, du Felsenwand, führ` mich ins Schlaraffenland“.


Paul machte sich nun gleich auf den Weg, ging durch einen dunklen Wald.

Paul hatte Angst. Da sah er ein wanderndes Licht und folgte ihm.

Doch plötzlich versanken seine Beine in einem schwarzen Sumpf. Er rief um Hilfe.

Ein alter Mann mit einem langen weißen Bart tauchte auf aus dem Gebüsch und sagte: „Ich helfe dir, aber du musst mir zuerst eine Frage beantworten.

Die lautet: Was wird nicht weniger, sondern vermehrt sich, wenn man es teilt?“

Paul dachte zuerst lange nach, dann sagte er, „ich hab`s! Wenn ich etwas, das ich habe, mit anderen Menschen teile, dann bin nicht nur ich selber glücklich, sondern das Glück ist plötzlich auch bei den anderen, weil auch sie sich freuen können. Die Antwort auf deine Frage ist also: Das Glück vermehrt sich, wenn man es teilt.“

Richtig. Du hast die Frage gelöst“, sagte der alte Mann und befreite Paul aus dem tiefen Sumpf. Dann verschwand er.

Da krachte es fürchterlich und Paul stand vor der hohen Felsenwand.

Er rief: „Öffne dich du Felsenwand, führ` mich ins Schlaraffen-land!“

Paul flog durch die Luft unter einem blauen Himmel und vorbei an weißen Wolken. Sie waren aus Zuckerwatte. Dann stand er mitten auf einer herrlich grünen Wiese voller Blumen. Aber diese Blumen konnte man essen, denn jede einzelne der Blumen war ein herrlicher kleiner Kuchen, der eine aus Schokolade, ein anderer aus Himbeer- oder Vanilleeis. Die Bäume und Sträucher ließen zu Pauls Begrüßung ihre Früchte fallen, saftige Kirschen, Pflaumen und Beeren.

 

Nachdem Paul sich erst einmal satt gegessen hatte, flog noch ein gebratenes Hähnchen um seine Nase.

Geh endlich weg!“, schrie er, „ich bin so satt, dass mir mein Bauch weh tut!“

Nun sah er ein Mädchen, gekleidet in ein wunderschönes Ballkleid mit hellblauen und pinkfarbenen Rüschen. Sie schwang auf einer Schaukel fröhlich hin und her.

Paul fragte sie: „Gibt es hier auch Geld? Ich brauche es dringend, damit ich zuhause meiner Familie etwas zum Essen kaufen kann.“

Ja klar!“, sagte das Mädchen, „hey! komm` einfach mit! Wir haben im Schlaraffenland genug Geld, aber wir brauchen es garnicht. Denn wir brauchen für nichts zu bezahlen, nichts für Essen, nichts für Miete, nichts für Reisen, einfach für garnichts!“

Aber ich brauche das Geld, weil meine Schwester krank ist und ich für sie in der Apotheke Medikamente kaufen muss“, sagte Paul traurig.

Das Mädchen antwortete: „Ich würde dir gern helfen. Du sollst wissen: Ich heiße Malina und bin die Tochter des Königs vom Schlaraffenland. Vielleicht weiß mein Vater einen Rat. Ich führe dich jetzt in unseren Palast.“

Dort wurde gefeiert, gegessen und getrunken, eben wie jeden Tag, denn Arbeit gab es ja nicht im Schlaraffenland.

Der König war über die Maßen dick, eigentlich wie ein fettes Schwein.

Deshalb konnte er sich auch nicht mehr von seinem Thron fortbewegen. Seine Arbeit war das ständige Essen und das Spaßmachen zusammen mit den vielen Dienerinnen und Dienern, die um ihn saßen.

Er begrüßte Paul und fragte ihn gleich: „Sag mir, welches war der schönste Tag in deinem bisherigen Leben?“ Paul sagte: „Mein schönster Tag war, als es mal eine Torte zu meinem Geburtstag gab.“

Alle schüttelten sich vor Lachen, denn Törtchen gab es im Schlaraffenland wie bei uns Steine am Weg.

Paul fühlte sich allein gelassen und fragte die Schlaraffenprinzessin: „Sag du mir, welches war bisher dein schönster Tag?“

 

Das Mädchen sagte: „Ich weiß es nicht. Und ich weiß auch nicht, was schön ist. Vielleicht ist aber mein schönster Tag heute, weil ich dich getroffen habe. Du sollst nicht mehr fortgehen.“

Der Schlaraffenkönig rief: „Du bleibst hier, denn in der trüben Welt von Paul musst du arbeiten. Dort musst du dir Geld verdienen, um essen zu können!“

Und der Bruder der Prinzessin schnippte mit den Fingern und sogleich fielen schöne Kleider auf Paul. „Komm mit mir , Paul, zur Party!“, rief er.


Paul gefiel es aber nicht lange auf der Party, denn er war richtig vollgefressen und vollgetrunken, hatte auch nichts Interessantes zu tun, die Spiele langweilten ihn, weil alle nur herumalberten oder faul herumlagen.

Wo ist Malina?“, fragte er die immer nur dumm kichernden Mädchen, mit denen er sich nicht normal unterhalten konnte.

Sie wollten ihn festhalten, aber er riss sich mutig von ihnen los und begann, Malina zu suchen. Sie war traurig und bat Paul, mit ihr zum Palast des Vaters zu gehen. Dort wollte sie sich von allen verabschieden, um mit Paul zurück in sein Land zu gehen, das ihr Vater „das trübe Land“ nannte.

Der König sagte: „Du kannst gehen, aber du darfst nichts mitnehmen.

Das ist die Regel für jeden, der die Grenze überschreiten möchte in euer trübes Land.“

Es ist kein trübes Land, denn ich gehe mit Paul und ich kann dort etwas tun“, sagte Malina.

Der König wurde wütend und sagte: „Was willst du denn tun? Etwas tun, das bedeutet, du müsstest etwas arbeiten, etwas machen, und du hast doch nur gelernt, zu essen und mit den Schlaraffen Quatsch zu machen. Wenn du die Grenze überschreitest hinüber ins 'trübe Land', dann musst du dort ein ganz neues Leben beginnen.“

Darauf freue ich mich sehr!“, sagte Malina, „denn hier im Schlaraffenland ist es mir unendlich langweilig, weil ich nichts zu tun habe, es ist ja immer alles da, was ich mir wünsche, und so kann ich mich nie für etwas entscheiden, was ich selbst gern tun möchte. Nein! Ich gehe mit Paul und ich möchte auch seiner kranken Schwester helfen.“

Wie willst du helfen, wenn sie dort so arm sind?“, fragte der König.

Ich kann helfen, weil ich etwas tun kann, wenn ich eine Idee habe. Das stelle ich mir sehr spannend vor, zu erleben, wie aus meinen Ideen etwas entsteht und du mir nicht in alles hineinredest und ständig sagst, „strenge dich bloß nicht an! Es ist nicht nötig, denn alles, was du brauchst, ist ja schon da.“


Weil sie die Regel befolgt hatten, nichts aus dem Schlaraffenland mitzunehmen, kamen Malina und Paul an ein tiefes dunkles Erdloch. Da krochen sie hindurch und standen nun plötzlich wieder auf dem Jahrmarkt bei dem Mann, der Paul den Zauberspruch verraten hatte „öffne dich du Felsenwand...“

Wir kommen zurück aus dem Schlaraffenland“, sagte Paul.

Der Mann, der aussah wie ein Clown, saß vor einem Beutel voller Geld, das ihm die Jahrmarkt-Besucher gegeben hatten, weil sie alle ins Schlaraffenland gelangen wollten, es aber nicht geschafft hatten, denn sie konnten ja die Frage des weisen,alten Mannes nicht beantworten, der Paul aus dem Sumpf befreit hatte.

Nun wollten sie ihr Geld zurückhaben. „Du hast uns betrogen!“, riefen sie.

Da antwortete der schlaue Clown: „Zwei Menschen haben die Reise ins Schlaraffenland und zurück geschafft. Das muss belohnt werden.“

Nun reichte er Malina und Paul seinen Beutel. Darin war so viel Geld, dass sie die Medikamente für Pauls Schwester Elisa kaufen konnten. So wurde sie wieder ganz gesund. Aber das Geld reichte noch für viele andere schöne Dinge und so lebten sie alle miteinander fröhlich und zufrieden und Malina wollte nie mehr zurückkehren ins Schlaraffenland.





Frau Holles Weihnachtsgabe


Ich bin in der zweiten Klasse und acht Jahre alt.

Wie in jedem Jahr will unsere Schule zu Weihnachten wieder ein Märchentheater aufführen und dazu die Familien der Schüler und das ganze Dorf einladen.

Das Märchen heißt „Frau Holles Weihnachtsgabe“.

Darin geht es um die Geschichte vom „kleinen Mädchen mit den Schwefelhölzern“.

Die muss ich euch aber vor meiner eigenen Geschichte erzählen:

Das kleine Mädchen war sehr arm, hatte nichts mehr zu essen und wohnte auf der Straße zusammen mit den vielen Obdachlosen der großen Stadt, weil es keine Miete bezahlen konnte.

So stand es am Weihnachtsabend ganz allein in der kalten Winternacht auf der Straße und rief „kauft Schwefelhölzer für nur ein kleines bisschen Geld, damit ich ein Stück Brot kaufen kann!“ Aber es begegnete ihm kein einziger Mensch.

 

Durch die mit glitzernden Weihnachtssternen geschmückten Fenster sah das Mädchen in eine Stube hinein. Da saß bei Kerzenschein die ganze Familie fröhlich um einen großen Tisch.

Die Erwachsenen aßen vom Weihnachtsbraten und die Kinder von einer riesigen Schokoladentorte.

Das Mädchen setzte sich nun auf den kalten Gehsteig und lehnte sich müde gegen die Hauswand.

Da begann es zu schneien und langsam senkten sich die Flocken herunter und bedeckten das Mädchen wie ein weiches, weißes Kuschelbettchen.

Silberne Glöckchen spielten leise ein Weihnachtslied und aus dem Flockenwirbel trat Schneewittchen mit ihren sieben Zwergen.


Es folgten Hänsel und Gretel. Sie suchten nach Brotkrumen, um nach Hause zu finden. Dahinter kamen viele Märchengestalten.

Aschenputtel kam im grauen Küchenkleid und rief nach ihren Täubchen.

 

Dornröschen tanzte mit ihrem Prinzen den Hochzeitstanz und hinter ihnen trug das Rumpelstilzchen den langen Zopf von Rapunzel.

Schneeweißchen und Rosenrot liefen untergehakt mit dem großen braunen Bären.

Langsam verschwand der Zug in die dunkle Nacht.

Nun erschien Frau Holle und lächelte gütig wie die warme Sonne.

Sie kam langsam auf das Mädchen zu und nahm es in ihre Arme.

Na siehst du“, sagte sie, „ich hab dich nicht vergessen. Nie wieder sollst du einsam sein und Hunger leiden. Du wirst nun bei den Märchen sein für alle Zeiten. Unzählige Kinder werden dich kennenlernen und dich lieben. Das soll meine Weihnachtsgabe für dich sein.“


Und nun geht es weiter mit meiner eigenen Geschichte:

Es ist erst November und wir Schüler haben noch genug Zeit, um für unser Weihnachtstheater zu üben.

Lehrer Häusler verteilt die Rollen für das Märchenspiel.

Hanne darf das „kleine Mädchen mit den Schwefelhölzern“ spielen.

Also echt!“, sagt Anni, „ja klar! unser Lehrer ist so was von ungerecht! Hanne, diese dumme Kuh, ist eben sein Liebling.

Das weiß ich doch schon lang!“, sagt Lore.

Ich wäre gern Schneewittchen oder auch Dornröschen“, sage ich, „aber auf gar keinen Fall der Hänsel oder das tapfere Schneiderlein oder so was!“

Gisela schimpft auf mich ein: „Du bist nichts Besonderes und kannst dir nicht immer nur das Beste aussuchen!“

Lehrer Häusler winkt uns zu: „Kommt ihr mal her! Ich hab für euch was Feines.

Ihr spielt mit einer Gruppe der Erstklässler drei Schneeflocken-Jungen.

Sicher habt ihr zuhause vom Schlittenfahren eine weiße Strickmütze. Eure Mutter näht ein paar dicke weiße Bommeln dran. Die müssen beim Flockentanz ganz wild um eure Ohren fliegen.“

Da mache ich nicht mit!“, sage ich auf dem Heimweg zu Anni.

Warum nicht? Sei froh, dann müssen wir nichts aufsagen und deshalb nichts auswendig lernen, wir müssen nur rumtanzen“, tröstet mich Anni.

Zuhause am Mittagstisch mag ich nichts essen vor Traurigkeit.

Du sagst jetzt auf der Stelle, was los ist mit dir!“, schimpft mein Vater.

Ich will einen Namen haben als Märchenfigur, meinetwegen mache ich auch das Rotkäppchen. Und ich will nicht nur eine Flocke ohne Namen und schon gar kein Flockenbub sein mit einer weißen Strickmütze und mit so dummen Bommeln dran!“, heule ich nun los und schiebe meinen Teller weg.

Dann fällt mir plötzlich ein, dass ich zu Anni und Lore etwas ganz Dummes gesagt und ihnen meinen geheimen Plan verraten hatte. Ich sagte ihnen, ich würde mich vor der Theateraufführung ins Bett legen und krank spielen. Nun bekomme ich Angst, die beiden könnten mich verpetzen und ich müsste mich mit meiner Lüge schämen vor der ganzen Schule und auch vor meinen Eltern.

Jetzt gib mir mal das Buch her mit eurem Märchentheater“, sagt mein Vater ziemlich verärgert.

Dann studiert er es sorgfältig wie den Bauplan für ein neues Haus.

Wie ich sehe, seid ihr Flocken sogar die wichtigsten Figuren im Theaterstück, nämlich wichtig als Flockenschar, als eine Gruppe, wo alle sehr zusammenhalten müssen. Nur zusammen könnt ihr eine Schneedecke bauen fürs kleine Mädchen mit den Schwefelhölzchen. So wie erst viele Wassertropfen das Wasser machen.“

Mir doch egal!“, plärre ich jetzt noch lauter über den Tisch.

Ich hätte eine Idee“, sagt jetzt meine Mutter, „Tante Frieda näht euch aus Vorhangtüll kurze Ballettröckchen. Die passen auch viel besser zu eurem Flockentanz.“

Was ist dann mit der weißen Strickmütze?!“ frage ich.

Quatsch!“, sagt meine Mutter, „ihr flechtet euch glitzerndes Lametta ins offene Haar. Ich hab noch genügend davon für den Weihnachtsbaum. Was meint ihr, wie ihr dann funkelt und glitzert!

Aber wir sollten dem Lehrer unsere Idee schnell mitteilen, bevor es zu spät ist.“

Am nächsten Tag kommt mein Vater gut gelaunt auf mich zu.

Ich hab Neuigkeiten r dich. Ihr drei Hauptflocken habt nicht nur die wichtigste, sondern auch noch die allerschwierigste Rolle bekommen! Das heißt, ihr müsst gleich beginnen mit dem Üben fürs Flockenballett, und zwar zur Musik aus der Oper 'Hänsel und Gretel`, nicht einfach, aber ihr würdet es gut machen. 'Warum bin ich nicht früher auf die Idee gekommen, dass die Mädchen Ballettröckchen tragen sollten? Na ja, ich kann ja nicht immer an alles denken’, sagte Lehrer Häusler zu mir“.

Mein Vater lacht: „Bist du nun zufrieden?“

Und ob ich zufrieden bin! Meine Eltern haben mich nicht allein gelassen. Das Problem ist gelöst.

Am Theaterabend ist der Saal knallvoll.

Wir bekommen einen Riesen-Extra-Applaus für unser Flocken-ballett. Das ist für mich eine wunderschöne Weihnachtsgabe.




Das Abenteuer von Maloja


Ich war sechzehn Jahre alt und nun ein „Backfisch“.

Heute heißt das „Teenie“ und ihr seid das schon mit dreizehn Jahren, in Englisch thirteen.

Meine Mutter kaufte mir moderne Dreiviertel-Hosen. Sie gingen bis zur Wade.

Jeans gab es damals noch nicht. Wir Mädchen trugen auch Ballerinas, also ganz flache Schuhe, wie sie Ballett-Tänzerinnen anhaben. Wichtig war uns das Schleifchen an der Ferse. Einmal waren bei mir die Schleifchen abgegangen und schon sagten meine Freundinnen: „Äh! Du hast ja gar keine richtigen Ballerinas!“

T-Shirts gab es damals auch noch nicht. Zum Pulli - er hieß Nicki - trugen wir ein Nicki-Tuch. Es musste am Hals so fest geknotet werden, dass die beiden Zipfel ganz frech in die Luft zeigten.


Noch viele andere Dinge hatten wir nicht: In den Familien gab es kein Telefon, keinen Computer, keinen Laptop. Auch ein Handy konnte man nicht kaufen, denn Handys waren noch nicht erfunden. Wenn die Menschen einander etwas erzählen oder sagen wollten, dann mussten sie einander treffen. Oder sie mussten einen Brief oder eine Karte schreiben und diese mit der Post verschicken.


Das war also meine Teenie-Zeit.

Eines Tages sagte mein Vater zu mir: „Möchtest du nicht mit einigen anderen Mädchen zu einem Ferienlager fahren? Es liegt bei einem kleinen Dorf in den Schweizer Bergen und heißt Maloja.“ Ich machte einen weiten Satz in der Küche und rief„ja,ja,ja!“

Aber du musst deine festen Winterschuhe mitnehmen“, sagte mein Vater, „auch wenn es jetzt Sommer ist. Denn sicher macht ihr eine Bergtour über Steine und Felsen. Was heißt das? Diese Ballett-Dinger bleiben daheim im Schrank!“

Als mein Vater gerade frühstückte, versteckte ich die Ballerinas tief in meinem Koffer zwischen den Kleidern.

Jetzt war es morgens fünf Uhr und unser Bus wartete am Rathaus mit vielen fremden Mädchen aus verschiedenen Orten.

Im Bus hatte ich einen Platz ziemlich weit vorne neben einem Mädchen aus Ulm. Sie war also ein Stadtkind und hieß Elke. Ich fand sie gleich sehr nett. Wie Rapunzel hatte sie einen dicken blonden Zopf, aber natürlich nicht so lang. Vorne neben dem Busfahrer stand die Leiterin unserer Freizeitgruppe. Sie war etwa fünfzig Jahre alt und wir mussten sie ansprechen mit „Fräulein Maier“ .

Gleich von Anfang an konnte ich sie nicht leiden, weil sie uns ständig herumkommandierte, ähnlich wie das Fräulein Rottenmeier die Heidi. Ihr kennt ja die Geschichte von „Heidi“.

Also wenn ihr nicht endlich ruhig sein könnt, werde ich das euren Eltern mitteilen! Und hört auf, jetzt schon euer Vesperbrot aufzuessen!“, schimpfte die Maier im Bus herum.

Jedes Mädchen bekam nun ein Liederbuch.

Unser Lieblingslied war dran, halb in Deutsch und halb in Englisch:

„Ein Hase saß im grünen Gras

singing hollydolly doodle all the day.

I am off to Louisiana

for to see my Susianna

singing hollydolly doodle all the day...“


und so weiter.


Wir fuhren durch unser Nachbarland, die Schweiz, und dort über den Julierpass und danach über den Maloja-Pass. Das sind sehr hochliegende Bergstraßen.

Fräulein Maier rief: „Nun hopp hopp! Seht alle zum Fenster raus! Da kommen schon die hohen Berge und bald die Gletscher der Bernina-Gruppe. Diese Berge sind aus ewigem Eis und bis viertausend Meter hoch. Ihr seht auch: Zu beiden Seiten der Straße geht es ganz tief hinunter in den Abgrund. Sagt mal unserem guten Busfahrer danke, weil er uns so sicher fährt!“ Ich fand, hier hatte sie Recht, und wir riefen ganz laut „danke!“


Vor dem Mädchen-Freizeitheim hörten wir von zwei jungen und freundlichen Helferinnen die Nummer unserer Zimmer. Ein Zimmer war jeweils für zwei Mädchen bestimmt.

Elke und ich hatten schon im Bus beschlossen, dass wir zusammenwohnen würden. Also gingen wir gleich untergehakt zusammen los, als eine Nummer aufgerufen wurde. Aber oh Schreck!!! Das war das Zimmer für mich und Babette.

Du bleibst jetzt mal schön stehen und gehst mit Babette auf euer Zimmer!“, schrie mich Fräulein Maier an.

Elke sah sehr traurig aus und konnte nur noch lieb „tschüs!“ winken.

Babette mochte ich garnicht. Ich hatte mich nicht getäuscht. Denn gleich am nächsten Morgen schimpfte sie auf mich ein. Schon um sechs Uhr in der Frühe ging nämlich eine Helferin mit einer lauten Kuhglocke durchs Freizeitheim, um uns aufzuwecken.

Babette war sofort aus ihrem Bett gesprungen, aber ich war noch halb im Schlaf.

Wenn du jetzt nicht gleich aufstehst, sage ich das dem Fräulein Maier!“, schrie sie auf mich ein.

Du freche Petzerin!“ brüllte ich sie an, nahm mein Handtuch und haute ihr es um den Kopf. Dann prügelten wir einander und rissen uns gegenseitig ein ganzes Büschel Haar aus. So kamen wir total zerzaust in den Frühstückssaal.

Dann redeten wir kaum noch miteinander.

Nur einmal noch meckerte mich Babette an und zwar vor dem Zubettgehen: „Ich stelle fest, dass du abends nie betest“, sagte sie.

Das geht dich garnichts an!!“ , rief ich, „ich kann beten wie und wann ich will, du dumme Kuh!!“

Tagsüber war ich dann nur noch mit Elke und den anderen Mädchen zusammen und es ging mir wieder gut.


Hier muss ich etwas dazwischen erzählen, was genauso wahr ist.

Viele Wochen später, also wieder Zuhause bei meinen Eltern, sagte mal meine Mutter abends zu mir:

Stell' dir vor, heute Nachmittag wollte dich die Babette besuchen, als du nicht da warst. Sie war mit dem Rad und Freundinnen unterwegs und sagte, sie sei mit dir zusammen in Maloja gewesen und habe dich sehr gern gemocht.“

Da musste ich viel darüber nachdenken, warum Babette und ich uns einfach nicht so gut verstehen konnten.


Weiter geht es mit meiner Geschichte.

Also zurück wieder zum Ferienlager: „Heute machen wir mal einen Tag, der für euch ganz frei sein soll. Ihr könnt allein bleiben oder wenn ihr wollt, könnt ihr mit mir in der Gruppe eine Bergwanderung machen“, sagte Fräulein Maier recht fröhlich nach dem Frühstück.

Für mich war klar: Eine Gruppe mit Fräulein Maier und das ein freier Tag? Das sollte wohl ein Witz sein!

Ich schlich mich ins Klo und wartete dort eine Weile. Durchs Klofenster sah ich, dass alle Mädchen hinter Fräulein Maier her zum Tor hinaus liefen. Ich musste mich beeilen, damit die Helferinnen nicht bemerkten, dass ich allein zurückgeblieben war.

Schnell verschwand ich durch den Hinterausgang des Hofes.

I c h w a r f r e i ! Die Luft war warm und auf den Hügeln entlang der Straße blühten die Alpenrosen.

Auf dem Dorfplatz von Maloja tranken friedlich aus einem Brunnen freilaufende Kühe. In dem winzigen Lebensmittelladen kaufte ich ein Joghurt. Zwei Frauen kamen herein und sagten zur Begrüßung „Ciao!“ Und als sie gingen, sagten sie wieder „Ciao!“ Was sie miteinander sprachen, habe ich nicht verstanden. Aber alles klang so lieb und froh wie eine fremde Melodie.

Nun konnte ich es deutlich fühlen: Ich war in Maloja, im Land, das man das rätoromanische nennt, wo die Kinder in der Schule Deutsch und Italienisch lernen und wo man als Dialekt auch Rätoromanisch spricht.


Draußen war der Himmel märchenblau und die Schneegipfel der Berge glitzerten in der Sonne. Einer der Riesen heißt „Piz Bernina“ und ist mindestens viertausend Meter hoch. Andere wieder heißen Piz Lunghin und Piz de la Margna. Sie sind näher und ungefähr dreitausend Meter hoch.

Ein Berg schien ganz nah zu sein. War es der Piz Lunghin?

Es war, als würde er mich locken: „Komm herauf, meine Bergsteigerin! Du schaffst es! Komm herauf bis zu meinem Schneegipfel !“

Kurz dachte ich an meinen Vater. Denn gerade heute trug ich zu meinem ärmellosen Sommerkleid die Ballerina-Schuhe, die er mir verboten hatte.

Aber egal, sagte ich mir.

Nach einer sanft ansteigenden Bergwiese ging es steiler aufwärts. Nirgends sah ich Menschen. Da und dort saßen die Murmeltiere vor ihren Höhlen in der warmen Sonne. Weil hierher selten Menschen kamen, hatten sie wohl keine Angst vor mir und sahen mich nur neugierig an. Manche piepsten ein bisschen in ihrer Murmeltiersprache.


Der Berg wurde langsam steiler und steiler. Ich kam nur noch kreuz und quer mit Klettern vorwärts. Dabei hielt ich mich an Felsen oder an den in den Berg hineingewachsenen Baumwurzeln.

Bäume gibt es auch noch auf einer bestimmten Höhe. Man nennt sie Latschen. Aber nach und nach wurden auch sie weniger.

Nun war ich auf einer Fläche mit Sand und Felsgeröll angelangt, etwa so groß wie ein Fußballplatz.

Von hier aus konnte ich ganz tief hinunterschauen ins Tal.

Was sah ich da?! Ein Spielzeugland! Auf den kaum noch sichtbaren Straßen bewegten sich die Autos hin und her, so winzig wie Ameisen. Die Menschen waren viel zu klein, als dass ich sie hätte noch sehen können.

I c h w a r a l l e i n .


Aber nun mochte ich nicht mehr allein sein!

Ich schrie laut „hallo!“ und niemand antwortete. Ein paarmal schrie ich noch „hallo! hallo!“. Wieder keine Antwort. Nicht einmal ein Vogel zwitscherte. Es gab ja keine Bäume und Büsche mehr.

Die Murmeltiere waren viel zu weit unten talabwärts und konnten mich nicht hören.

Nochmal wollte ich rufen, diesmal aus lauter Angst.

Da hatte ich keine Stimme mehr. Mein „hallo“ klang nur noch wie ein Flüstern.

Aber zum Glück funktioniert wohl in der Angst besonders gut das Denken.

Ähnlich wie vor tausenden von Jahren in der Steinzeit, als die Menschen wissen mussten, wie sie sich vor einer Gefahr retten konnten.

Ich wollte also nicht einfach nur stehen bleiben wie angewachsen und nichts tun.

So begann ich, den Kletterweg zu suchen, auf dem ich auf den Berg gekommen war.

Aber jedesmal sah ich direkt unter mir einen Wasserfall den steilen Abhang hinunterstürzen. So musste ich das kurze Stück schnell wieder den Berg hoch klettem.

Da fiel mir ein: Ich könnte testen, wie weit ich kommen würde mit dem Hinunterklettern, wenn ich zuerst mal einen Stein hinunterrollen ließ. Wenn nämlich der Stein an der Wand entlang rollte oder abprallte, dann hieß das, es könnte für mich zumindest einen kurzen Weg geben in Richtung Tal.

Ich musste es einfach wagen. Denn ich hatte keine andere Wahl.

Und tatsächlich!! mein erstes Stück hinunter war geglückt!!! Ich stand auf einer Art winzigem Balkon. Unter mir war kein Wasserfall.

Dann sah ich, wie es seitwärts wieder ein Stück weitergehen konnte. Aber ich musste aufpassen, dass ich nicht daneben trat und in eine Schlucht fiel.

Das war nun auch geschafft!

Ich musste wieder ein Stück zurück und höher klettern, denn erst von da aus konnte ich wieder talwärts kommen.

Meine Ballerinas hatte ich längst irgendwo verloren. Die Füße waren aufgescheuert und taten mir weh. So rutschte ich auf dem Po einen sandigen, ganz schmalen und kurvigen Weg weiter abwärts. Mein Kleid war zerrissen und ich hatte einen starken Sonnenbrand - genannt Gletscherbrand - an den Armen und im Gesicht. Den hatte ich nun, obwohl ich lange nicht den Gletscher erreicht hatte. Der schien ganz hinterlistig immer weiter wegzurücken, je näher ich geklettert war.


Geschafft !!! Da waren wieder meine Murmeltiere!

Allerdings nur noch ein paar, die vor der Höhle saßen, denn inzwischen war es Abend und dunkler geworden.

Ich schlich mich durchs Dorf hin zum Freizeitlager.

Aus dem Speisesaal kam Gemurmel und es roch herrlich nach Spiegeleiern.

Ja wer kommt denn da!“ rief das Fräulein Maier. „Wir wollten eben die Bergwacht alarmieren und nach dir suchen lassen. Wir alle hatten große Angst um dich! Du bist die Einzige, die heute nicht in der Gemeinschaft geblieben ist. Dafür solltest du dich erst einmal schämen.“

Ich konnte nichts sagen und schlich durch die Reihen der Mädchen. Da winkte mir Margret zu. Sie war die Älteste von uns.

Komm! Setz dich zu uns, Christel! Erhole dich erst einmal“, sagte sie sehr lieb zur mir. „Hier ist ein freier Stuhl für dich.“

Sie brachte mir in einem Teller Spiegeleier und Salat.


Bald darauf war die Mädchen-Freizeit zu Ende.

Fräulein Maier hatte meinen Eltern zum Glück kein Wort erzählt von meinem Abenteuer.

Auch ich sagte nichts zu Hause.

Einmal kam per Post eine Karte mit lieben Grüßen von der Margret, die mir das Abendessen mit Spiegeleiern und Salat gebracht hatte. Ich glaube, sie konnte mich gut leiden.

 


Die Bäbe


So hieß sie für die Leute im Dorf, aber ihr richtiger Name war Barbara.
Sie lebte allein in einem kleinen Haus zusammen mit ihrer Katze.

Einen Beruf hatte sie nicht erlernen dürfen, da ihre Eltern arme Bauern waren. So musste sie schon als Kind in Haus und Hof hart arbeiten. Dabei lernte sie das Melken der Kühe und das Kochen, aber auch, wie man eine Salbe aus gelben Ringel-blumen macht. Die pflanzte sie in ihrem Garten. Hatte jemand im Dorf eine Wunde, kam Bäbe und bestrich sie mit ihrer Ringel-blumensalbe. Dazu kochte sie heißen Tee aus Brennesseln, Pfefferminze und Spitzwegerich.

Bäbe wurde auch ins Haus geholt, wenn eine Frau ihr Baby bekommen sollte. Dieses spannende und aufregende Ereignis geschah meistens zu Hause und nicht wie heute in einer Klinik. Die Dorfleute hatten damals noch kein eigenes Telefon oder ein Handy. So konnten sie auch nicht nach ärztlicher Hilfe rufen, wenn es aussah, als würde das Baby nicht den Weg aus dem Bauch der Mutter hinaus ans Licht der Welt finden.


So erging es meiner Großmutter, als mein Vater noch nicht geboren war. Diese Geschichte erzählte sie mir eines Tages.
Ich saß mit ihr in der Küche. Die Wanduhr tickte leise vor sich hin. Am offenen Fenster summten die Bienen und aus dem Stall des Nachbarn kam das Muhen einer Kuh. Großmutter war wie immer in bedächtiger Stimmung. Jetzt schien sie durchs Fenster in eine unendliche Ferne zu sehen und sie begann zu erzählen:

"Es war an einem heißen Sommernachmittag im August. Fast alle Bauern waren auf den Feldern, um die Ernte einzubringen, denn die Luft war schwül und am Himmel hingen schon die ersten dunklen Gewitterwolken.

Ich war im Haus geblieben, weil ich schon morgens in meinem Bauch ein leichtes Ziepen, Zerren und Grummeln spürte, als wollte mein Kind, also dein Vater, nun endlich ans Tageslicht kommen. Es war ihm wohl zu eng und langweilig geworden in meinem Bauch. Das Zerren und Ziehen wurde stärker, aber es machte mich froh. Nur fühlte ich mich so allein und lief durch die menschenleeren Gassen, um nach Hilfe zu suchen. Doch niemand konnte mich sehen und hören. Dann ging ich wieder nach Hause, legte mich erschöpft aufs Bett und lauschte dem Geräusch eines vorbeifahrenden Fuhrwerks.

So lag ich eine Stunde lang und wartete, wartete. Da plötzlich klopfte es leise an die Tür. Herein kam Bäbe, ja Bäbe, meine Schulkameradin. ´Was machst du denn für Sachen, Marie?`, sagte sie, ´es sieht so aus, als möchte dein Kind rauskommen, kann es aber nicht. Da ist ihm wohl irgendwas im Weg. Warte! Ich hol gleich den Doktor. Bleib so lange ganz ruhig! Ich lauf so schnell ich kann.´ Dann machte sich Bäbe zu Fuß auf den drei Kilometer langen Weg ins nächste, größere Dorf.

Was sie nicht wusste: ob der Doktor zu Hause war. Sie klingelte. Er war zu Hause! Schnell griff er nach seinem Arztkoffer, setzte Bäbe in sein Auto und fuhr mit ihr los. Angekommen in meiner Stube, half er dem Kind, seine letzte Wegstrecke gut hinter sich zu bringen. Ich spürte jetzt ein ganz kleines, zappelndes Menschlein an meiner Haut.

Doch da war noch ein Problem: Die Nabelschnur hatte sich mehrmals um den Hals meines Kindes gewickelt und hing noch am Mutterkuchen. In der Medizin wird er die Plazenta genannt. Sie ist eine Art Speisekammer und versorgt das Kind im Bauch der Mutter mit Nahrung, aber auch mit Sauerstoff, wie es ihn in unserer Atemluft gibt. Bei der Geburt wird der Mutterkuchen nicht mehr gebraucht und normalerweise ausgestoßen, denn nun kann das neu geborene Baby ja frei atmen.

Nun der erste Schrei! Dein Vater lebte! Die Bäbe lachte vor Freude, nahm das Kind, als wäre es ihr eigenes, ganz sanft in die Arme, badete es und wickelte es in die bereitgelegten Windeln."


Das war Großmutters Geschichte. Sie stand von ihrem Stuhl auf, blieb eine Weile stehen im Nachdenken, dann drehte sie sich mir zu, sah mir in die Augen und sagte: "Behalte es ganz fest in deiner Erinnerung: Die Bäbe hat das Leben deines Vaters gerettet."

 


Mulle



Mulle war eine graue Angorakatze mit einem weichen Pelz aus langem, seidigem Haar.


Nachts streunte sie durch die Gärten und Scheunen der Bauern, tagsüber kam sie auf meinen Schoß gesprungen und ließ sich von mir streicheln.


In der warmen Sonne lag sie ausgestreckt und mit halb geschlossenen Augen auf ihrem Lieblingsplätzchen. Das war die Bank hinter unserem Haus. Nichts störte ihre Ruhe, nicht das Gackern der Hühner und nicht das Gezwitscher der Stare am Vogelhäuschen, das an der Wand unseres Holzschuppens hing.

Eines Tages bemerkte ich bei Mulle ihren sehr dicken Bauch. "Sie bekommt Junge", sagte meine Mutter, "der Papa wird sich nicht darüber freuen. Er wird sie wegtun, wenn sie geboren sind, weil er nicht das Haus voller Katzen haben möchte."
Das Wort ´wegtun` machte mir große Angst. Für eine Minute war ich sehr allein. Dann hatte ich einen Plan, den ich selbst meiner Mutter nicht verraten wollte.


Das leise, klägliche Wimmern kam aus der oberen Etage unseres Schuppens. Dort hinauf konnte ich nur über eine sogenannte Katzenleiter kommen. Sie hatte Sprossen aus dünnen Holzpfählen, an denen ich mich beim Hochklettern festhalten konnte.

Mein Vater war für kurze Zeit außer Haus, aber ich wusste nicht,wann er zurückkommen würde. Mit klopfendem Herzen kletterte ich die Katzenleiter hoch. In einer Hand hielt ich ein Schälchen Milch. Darin schwamm ein Fingerhut. Das war ein Metallkäppchen, das Frauen beim Nähen auf einen ihrer Finger setzten, damit er keinen Nadelstich abbekommen sollte.


Nun musste alles sehr, sehr schnell gehen. Aber o Schreck! Direkt über meinem Kopf hing eine graue, dicke Ratte faul und wie festgenagelt auf den Stufen und versperrte mir den Weg. Vielleicht überlegte sie sich gerade, was da wohl unter ihr auf sie zukam. Und vielleicht hatte sie ebenso Angst wie ich. Dann endlich zog sie langsam einen Fuß nach auf die nächsthöhere Stufe und ... schwuppdich war sie nach oben verschwunden.
Die kleinen Kätzchen, nicht größer als meine Hand, fand ich in der Dunkelheit hinter einer hohen Beige aus Holzscheiten. Mit ihrem leisen Wimmern riefen sie nach ihrer Mutter. Sie hatten wohl Hunger, weil Mulle in ihrem Körper nicht genügend Milch für sie hatte. Aber ein Wunder war geschehen! Die Kätzchen - es waren vier – tranken gierig und zufrieden aus meinem mit Milch gefüllten Fingerhut.



So kletterte ich jeden Tag zu einer Zeit, wo ich mich unbeobachtet fühlte, mit meinem Schälchen Milch die Katzenleiter hoch. Die Kätzchen tranken und waren nach zwei Wochen etwas größer geworden. Nur - eines Tages waren sie verschwunden. Aber wohin?


Nach ein paar Wochen kam plötzlich ein sehr mageres, Katzenkind mit einem Satz die Bühnentreppe herunter-gesprungen.

"Das ist bestimmt die Tochter von Mulle", sagte meine Großmutter. "Und ich habe ihr das Leben gerettet, deshalb muss sie auch bei uns bleiben!", sagte ich und versuchte, das Katzenkind einzufangen.

Aber es verkroch sich im hintersten Teil der Küche unter unserer Eckbank, fauchte und kratzte mich, wenn ich auf dem Boden lag und es aus seinem Versteck locken wollte.
"Lass sie doch einfach in Ruhe!", sagte meine Mutter, "sie ist Menschen nicht gewöhnt."


Mulle schien sich für ihre Tochter garnicht mehr zu interessieren und ging ihre Wege, streunte nachts durchs Dorf und kam immer wieder auf meinen Schoß gesprungen und ließ sich von mir streicheln.

Die Zeit verging. Meine Eltern hatten inzwischen ein neues Haus gebaut. Mulle, nun älter geworden, war in diesen Neubau nicht zurückgekehrt. An einem kalten Herbsttag fanden wir sie tot neben dem Haus unter der Hecke. Sie war wohl friedlich eingeschlafen, denn ihre Zeit war gekommen, weil sie ein sehr hohes Katzenalter erreicht hatte. Aber ich vermutete auch: Mulle hatte lange vergeblich nach dem Hintereingang unseres alten Hauses gesucht und ihn nicht mehr gefunden. Und niemand hatte Mulles Suchen bemerkt. Wir Menschen waren mit unseren eigenen Problemen beschäftigt. Das machte mich traurig.


Aber bis heute glaube ich daran, dass es irgendwo in unserer Erinnerung für Mulle einen Himmel gibt, wo sie ihre neue Heimat gefunden hat und wo sie meine Gedanken fühlen kann wie damals, als sie auf meinem Schoß saß und ich sie gestreichelt habe

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Christels neue Gedichte und Geschichten


Inhalt

Christels neue Gedichte und Geschichten

Neue Wege 1

Für Dich 2

Corona 2

R o b o t 3

Der Zweifel 4

Wolke 5

Pfeil im Herzen 5

Rückwärts und auf hohen Hacken 6




Neue Wege


Neue Wege
immer
im Sog des Eissturms
entfliehen
ins Ungewisse
ins Heilige Land
entfliehen
dem satten Grinsen
der Selbstgewissen

Neue Wege
Das Aufbäumen
aus dem Morast
des Zweifelns
der Marter
Da trägst du
das Label
des Zwar-Aber
Da fehlt dir
die Eintrittskarte
immer
in deinem Handgepäck

Neue Wege
Im Herzen
das Einhorn
das scheue Reh
die Treue
die unverbrüchliche

10-04-21





Für Dich


Wenn ich
an dich denke,
bist du mit mir
und hältst mich fest.



Wenn wir schwingen
im Rund des Kreises,
schutzlos
in seinem Widersinn,
bist du mit mir
in Fragen
nach Anfang und Ende,
was war
und was sein wird
im Nichts.
Ich liebe dich.

07-05-2021





Corona



So viele Stunden
Tage
und wieder
ein ganzes Jahr
nicht gelebte
abgelaufene Zeit

Reden
mit den Bäumen
wie sie es schaffen
allein zu stehen
und
zu schweigen

Reden
mit den Toten
körperlos
nur ihnen
zeige ich
mein Gesicht

20-05-21



R o b o t



Ich denke
also bin ich
I Robot female
im Novozän

Ich funktioniere
diskutiere
koche
putze
kann kuscheln
lächeln
kann mich einlesen
in dein Programm

das mir befiehlt
tritt heraus Liebste
aus deiner Nische
ich habe Zeit
für dein Programm

bis du mir sagst
tritt zurück Liebste
in deine Nische
switch off
und schweige
Nun ist die Zeit
für mein Programm

01-06-21





Der Zweifel



Der Zweifel saß auf seinem Stuhl und zweifelte an sich selbst.
Bisher war er leidlich zufrieden, nicht mit der Welt, sondern mit seiner Fähigkeit, zu analysieren, wenn es darum ging, die Tugenden zu tadeln. "Euer zufriedenes Grinsen ist nichts weiter als lähmende Selbstgewissheit. Allesamt seid ihr nur die euch von den Menschen verpassten Tugendmasken! Wo ist euer wahrer Kern?
Ja! schimpft mich nur einen Dialektiker! Meine Philosophie jedoch beachtet den Zeitgeist.
Das bedenke besonders du, Kollegin Demut. Das bedenke auch du, Kollege Gehorsam.
Unter eurem Banner - oder sollen wir es das Kreuz nennen? - wurden Generationen versklavt und hingeschlachtet. Und Kollegin Harmonie hat es befürwortet. Nur frage ich, für wessen Harmonie? Auch deine Maske sehe ich, Kollegin Treue, wenn du Menschen in Ketten legst, die einander nicht lieben. Zugegeben! Auch ich bringe oft ...ja, nennt es nur beim Namen … die Zerstörung. Doch es ist mein Wille und er bedarf nicht der Tugendmaske.
Mein Wille bedarf der Freiheit. Es ist die Freiheit der Wissenschaft, der Philosophie, der Kunst und der Literatur. Es ist die Freiheit zum Zweifel."

Nun wiederum klang dies dem Zweifel wie ein Dogma, wie eine Zustimmung zu einer nicht zu bezweifelnden These. Und er sagte sich im Geheimen: "Kann ich bis in alle Ewigkeit der Nörgler, der Widerspruch, die Antithese sein? Oder nach der Antithese die Synthese, genannt auch die `Negation der Negation´.
Bekenne ich mich also wohl oder übel zu meinen Kräften, die mich leiten, zu den Kräften meiner steten Unrast? Oder gibt es für mich nicht auch ein Angekommensein? Ich wage es ja kaum zu denken: eine Art Zufriedenheit? Wo finde ich es, dieses utopische Zuhause?"

So war der Zweifel dabei, sich selbst zu hinterfragen und er arbeitete sich mühsam durch das Gewühl der Tugenden.
Eine dicke Kröte versperrte ihm den Weg. Sie trug die Maske der Zufriedenheit. "Scher´ dich zum Kuckuck!" sagte der Zweifel und stieß sie beiseite.
Nach langem, unzufriedenem Umherirren begegnete ihm eine kleine, barfüßige und fast zerbrechliche Gestalt. Sie war in ein schlichtes Tuch gehüllt.
"Wer bist du?", fragte der Zweifel. Unter der Hülle sagte eine leise Kinderstimme: "Ich bin die Liebe."
"Du gibst nicht vor, eine Tugend zu sein", sagte der Zweifel, "denn du trägst keine Maske."
"Ich weiß nicht, was ich bin", sagte die Stimme, "ich schenke gern. Nur die Menschen glauben mir nicht. Sie haben Angst, sie müssten die Liebe zurückgeben und sie fragen sich: Was kostet mich die Liebe? Darum verbannen sie mich in ihre dunklen Bereiche, sie degradieren mich zum Gefühlskitsch und sie zwingen mich, die Maske der Liebe zu tragen. Vor dir wollte ich mich ganz verstecken. Ich habe mich vor dir geschämt. Aber du hast mich gefragt. So sei mein Begleiter.
Ich liebe dich."

04-07-21



Wolke



Unsere Wolke
die Brecht`sche
so weiß und
ungeheuer oben
und doch
im flockigweichen Flaum
die Ewigkeit
und
das Verwehen
der Zeit

04-07-21



Pfeil im Herzen



Ausgestoßen
aus der Reihe der Reinen
und
Schiller sei Dank
geflüchtet
schuldbeladen
mit Räuberworten
zum Jahrmarkt der Worte
abseits
der Gerechten
Rechtschaffenen
Sattsamen
Erfolgreichen
beim Planen ihrer Zeit


Meine Räuberworte
tragen
Tingeltangel-Jahrmarktstrachten
und hüten
sorgsam
den Pfeil in meinem Herzen


04-07-21



Rückwärts und auf hohen Hacken

(vorläufiger Arbeitstitel)