Christel Schöllhammer
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Inhalte aller Bücher
Inhalt- überleben
Inhalt´- früher war es anders
Inhalt - Das Federkleid
Das Lied der ersten Lebensräume 163
Inhalt - Der Intimfeind
Lied der ersten Lebensräume 12
Der Griff nach den Sternen 25
Geburtstag – eine Zeitreise 67
Die Uhr – eine wahre Geschichte 73
Inhalt - Geschichten von früher für Kinder von heute
Inhalt-Christels neue Gedichte
Christels neue Gedichte und Geschichten
Rückwärts und auf hohen Hacken 6
Inhalt
Mein Gedicht
das Neugeborene
das sich mitteilt
und vertraut
auf dem Weg
zu den Worten
es könnte wachsen
und den Worten
mißtrauen
Im Chaos
der Wörter
auf Gemeinplätzen
stutzen rechtschaffene Leute
ihre Vorgärten
fällen Bäume
doch entlang meinem Schrei
finde ich
das Dickicht
im Chaos der Wörter
da gibt es zuweilen
noch gutes Holz
da hört man Vogelgezwitscher
und das Sprechen
der Toten
ich
der fötus
mit füßen
auf kaltem eis
blicklos
taste ich
durch eure kammern
und trinke daraus
zuversicht
das blutende ende
der nabelschnur
ist mein
anfang
Ich lebe
in der Info-Gesellschaft
Infokraken
kommen durch Wände
gefräßig
fressen sie
die Zeit
Time is money
ich will sie behalten
irgendwie
Beim Lackieren der Fußnägel
Old-Sartre
auf der Kassette
Old-Sartre ist tot
DIE WÖRTER
sind andere
Fernsehen
wenn die Haarkur einzieht
Werbung
und News aus Tschetschenien
Blut auf den Straßen
zerfetzte Leichen
Jelzin im Vollrausch
Die Bonner Akteure
Werbung
Hey Friedensbewegung
was ist los mit euch
von mir könnt ihr nichts
erwarten
keine Zeit
zur Zeit
jetzt macht mal selber
Beim Bügeln
Discosound
Girl plärrt
synthetisch
Marylin - Leute
war Marylin
drum ist sie tot
Taste
Wir sind die Kinder der Sonne
Die rote Sonne von Barbados
Frau Dings bedankt sich vielmals
und viele Grüße an ihr Schallarchiv
und alle die mich mögen
Im Autoradio
die Scorpions
Werbung
Ihr individuelles Styling
Akademiker diskutieren
den Verfall der Individualität
Musicalsound aus Miss Saigon
Das Wetter im Antenneland
Fußball
Taste
Ratespiel
Taste
Werbung
Tastenspiel
Gebt dem Volk Brot und Spiele
Gebt dem Volk Information
geh schneller
überhole
software
und deine reaktion
die zu spät käme
überhole
das überholen
geh schneller
nach nirgendwo
made in Silicon Valley
da weisen silberne spinnen
dir deine einbahnstraße
hinter die zeit
da ist der schilf
aus metall
da dümpelt
online
dein kahn
nach nirgendwo
du kennst die regel
sei cool
sei gut drauf
wenn das licht aufleuchtet
sag beim outing
daß du am arsch warst
sag nicht
daß du es immer noch bist
bleib cool
und gut drauf
du bist
online
vernetzt
verkabelt
du bist software
real ist der Computer
ist Multimedia
du kennst die regel
geh nicht bei rot
über die straße
Zeiten der utopie
zeiten der träume
sind vorüber
vorübergehend
Wozu
Geschichte
Mensch
und Tier
gehen
ihren Pfad
der Mensch
hält inne
und blickt
zurück
Sieh doch
die Mauer
Graues Wesen
alt wie die Welt
Aus einem Spalt wächst
grüner Efeu
Die Mauer hat geboren
ging lange schwanger
mit dem Geheimnis
ganz schweigender Stein
Sehnt sich
nach dem Augenblick
als der Wind sie küßte
Zurück blieb ein Samenkorn
das wuchs
Bei Hesse
zwischen Buchdeckeln
Perlen aus Glas
je und je
verwoben
in das Sehnen
bunte Glasperlen
von der alten Stadt
Grüngold im Fluß
und Tannenschwarz
Armeleutekind
und Herrensohn
Dienstmagd Lina
Fachwerk
Gassen
Stufen
Ein feste Burg...
Perlen aus Glas
der Wegweiser
Name der alten Stadt
beim Abschied
beim Wiederkommen
Glasperlen
im Staub
der verlorenen Zeit
Grüngold im Fluß
und Tannenschwarz
Türkinnen still
mit Kopftuch
Hi Baby!
Ciao Bella!
Reggae im Juze
Woodstöckle
Jobsuche
Wohnungssuche
Fachwerk
Gassen
Stufen
Glasperlen
von der alten Stadt
Ertrinken
im Warum
in den unausgesprochenen Dingen
im Kreis gedacht
Ertrinken
im Morast
der Lebensentwürfe
Euer Korn ist erntereif
Mein Häuschen steht windschief
am Weg nach Golgatha
Da gehen die Gescheiterten
im Kreis gedacht
Arbeitslose Obdachlose Junkies
im Namen der Vernunft
die sät und erntet
und Tempel baut
Heimgehen will ich
in die grauen Steine
sinnlos
am Weg nach Golgatha
Ertrinken im
Warum
Denk dir die
Berge
aus schwebenden
Quanten
drüben
im Hier
wo wir nicht
scheitern an
der Schwere des
Steins
und träumen auf
zertretenen Blumen
Wenn die Augentür
aufklappt in die
Spiegelleere
sind die
Gedanken
noch traumwarm
von eurem Gefieder
aber
gefangen im
Gitter der
Spiegelleere
Mißtraue
dem Schrei
nach Ambiente
auf deiner Bühne
sonst öffnet
der Kulissenschieber
der Narr
der Janusköpfige
die Fenster
und läßt aus blauer Luft
Gardinen flattern
stellt bunte Sträuße
in die Ecken
als wäre es
deine Beerdigung
damit du schreist
nach Kulissen
mit Fenstern
geschlossen
an die der Regen trommelt
und mit dir redet
und weint
Langsam
neben dem Gang
des Zentauren
zieht das
Warten
seine Kriechspur
Das nennen wir
Zeit
Vielleicht
hat ein anfängliches Wesen
die Wissenschaft
sagen wir
das Denken in Gegensätzen
sich selbst verordnet
als ewiges Spiel
damit
es nicht verzweifle
am großen Einerlei
an der Wahrheit
daß das Eine
auch das Andere sei
das Hier das Anderswo
und das Ich auch das Du
So legt sich um das große Einfache
wie der Schleier einer Fata morgana
die Vielfalt der Formen
und unser Leben wäre
sagen wir
ein Fleckchen Spielwiese
für den einsamen Gott
Mit meinen Gedanken
fliegen
fremde Vögel
gefiederte
Monster
aus Galaxien
unendlicher Kleinheit
umkreisen mich
und blicken stumme Zeichen
Aber im Tanz
verschwenden sie
Bedeutung
mit breiten Flügelschlägen
Aber im Tanz
hacken sie mit spitzen
Schnäbeln
auf Plastik
und singen
ihre klagenden Worte
Bin ich sicher
daß ich
bei dir
umhergehen kann
ohne den Stempel
eines
Zwar - Aber
und ohne den Stempel
deiner Gnade
als einer der
dazugehört
Im me r wi ed er d as
Z us amm en fü gen
v on Spl itt ern
mi t Ged ank enk itt
gi b m ir d az u
Ve rtr aue n
Eins zwei drei
der Teufel liebt die Zwei
nicht Eins nicht Drei
er liebt die Zwei
zwei Richtungen
im Teufelskreis
Jäger jagt Beute
Beute jagt Jäger
Bist du deshalb
immer noch Beute
Es ist nicht
ihr fremdes Gesicht
das mich verbirgt
Es ist
ihre Totenstarre
Der Tod
macht mich
unangreifbar
End - reinigung
Ent - rümpelung
Ent - seuchung
Ent - artung
End - lösung
Ent - nazifizierung
Ent - sorgung
End - lagerung
End - zeit
End - abnahme
Dein Lächeln
mondweiß
ohne
Bleibe
in Zeitschluchten
Auf dem
Grund
ruhen die toten Mütter
Theresa von Avila
Mutter Theresa
Mirjam
Judith
Rahel und Zippora
und Maria
AMCHA
ihre Arme reichen nicht
zum Kreuz
Arme ausgebreitet
Arme durcheinander übereinander
geschichtet in den
Gruben
und
mondweiß
dein Lächeln
Anne
ohne Bleibe
in Zeitschluchten
Gewiß ist uns
die Unsterblichkeit
der Hölle
Unter den toten Augen
des Himmels
glüht der Reaktor
von Auschwitz
Nicht entsorgbar
verglüht er
unsere Sprache
zur Unsterblichkeit
Daß er mir nun bei Aldi begegnet ist. Immer,
wenn ich versuche, über ihn zu schreiben, zappen
die Gedanken wie Fische davon, rücken wieder
näher an mich heran und drängeln: Schreib es auf,
aber so banal wie es war, sonst wird´s pseudo.
Ich sah ihn also den Einkaufswagen vor sich
herschieben. Schulterlanges, stumpfes Haar,
billiges, ausgeleiertes T-Shirt, schmutzige Jeans.
Typ “Loser".
Am Wühltisch sieht er sich lange einen Jogging-
anzug an, legt ihn wieder zurück. Im Wagen hat
er ein paar Flaschen Bier und einen Laib Grau-
brot vom Sonderangebot.
An der Kasse läßt er der Türkin mit dem quengeln-
den Baby und zwei Italienern mit Chianti-Flasche
den Vortritt. Nun legt er seine Sachen vor mir
aufs Förderband.. Die Kassiererin sagt ihm die
Endsumme. Er kramt in seinen Hosentaschen
nach Geld. Die Kassiererin schaut geradeaus, stolz
und still wie Nofretete. Das Baby hat aufgehört
zu quengeln, tatscht in den Bart des Mannes.
Er lächelt, und während er zahlt, lächelt er
noch immer.
Draußen erwartet ihn ein Pulk Obdachloser
- einige mit Rucksäcken, einige mit Plastiktüten.
Eine Frau ist dabei. Sie scheint zu ihm zu gehören.
Er gibt ihr den Laib Brot.
Man hört ihren Namen.
Es ist Magdalena.
Du hast keine Arbeit
Du hast etwas gelernt
Du hast ein Leben gehabt
Du hast einen Schlafplatz
unter der Brücke
Du bist arbeitslos
Du bist obdachlos
Du bist ein Mensch
Du bist noch am Leben
Du bist HIV-positiv
Du hast AIDS
Du hast keine Antwort
AHNUNGSLOS
FRISTLOS
ARBEITSLOS
MITTELLOS
WORTLOS
RATLOS
WEHRLOS
HEIMATLOS
ZIELLOS
MACHTLOS
HOFFNUNGSLOS
Als sie alle
so standen
auf der Seite wohin
der Daumen wies
und wohin das
Maul des Konzerns
Unrentables
ausspuckt
Als sie alle
so standen und
ihrer waren bald
fünf Millionen
da war es
einigen
als ging durch ihre Reihen
einer
den sie nicht kannten
Was auffiel war
das Schwarz in seinen
Augen und in seinem Haar
und daß er
jeden ansah
als wollt er sagen
Steht auf
Pack dich weg
auf die Autobahn
spinn dich ein
in die Verpuppung
in das Summen
der Kopien
in das Vorüberziehen
das nicht wehtut
Vielleicht
viel leicht
vielleicht
vielleich
vielleic
viellei
vielle
viell
viel
vie
vi
v
Ziellos treiben
auf Intervallen
zwischen den Inseln
unserer Highlights
Wachsen sehen
aus Intervallen
Brücken mit Schwingen
von mir zu dir
Umklammern
das darfst du
sollst du
mußt du
das mußt du
dir abgewöhnen
du sollst
du darfst
du mußt nicht
klammern
Er Wie geht es dir?
Sie Es war schön, daß du
bei mir warst.
Schade, daß du
wieder fort bist.
Er Warum siehst du es
nicht einfach
positiv?
Ich war doch bei dir!
Sie denkt
Was habe ich
falsch gesagt?
Ich will ihn doch nur
wiedersehen.
sagt nichts
Als du mich verlassen hast
um nocheinmal
mit ihr zu leben,
habe ich ihn gefunden.
Als du sie verlassen hast,
nocheinmal,
um mit mir zu leben,
nocheinmal,
habe ich ihn verlassen.
Als du mich verlassen hast
nocheinmal,
habe ich ihn gefunden.
Als ich ihn...
Du bist fort
So bist du in meinem
Schweigen.
So lerne ich früh
daß man allein
stirbt
Die Katze ist lange gelaufen, auf dem Feldweg
entlang der Autostraße. Manchmal setzt sie sich
unter einen Baum und leckt ihre Wunden. Sie
fühlt Geborgenheit, ihre Augen werden schmal,
sind plötzlich wieder grüne Blitze im schwarz-
glänzenden Fell, folgen hin und her dem Tagwerk
einer Ameisenkolonne.
Die Katze ist hungrig. Das Mäusefangen macht
ihr kein Vergnügen. Doch damit verdient sie ihr
Schälchen Milch. Sie bekam es immer, wenn sie
die tote Maus dem Herrn zu Füßen legte.
Die Katze wurde satt, nur - es blieb der Hunger
danach, daß die Hand des Herrn sie streicheln
möge. Der Herr indessen beachtete sie nicht.
Übers Jahr hatte sie zwei Kätzchen geboren.
Die liebte sie über alles und leckte sie liebkosend.
Bald fingen auch die Kinder Mäuse und legten
sie dem Herrn zu Füßen. Dafür bekamen sie das
Schälchen Milch.
Die Zeit verging. Nach und nach entfernten sich
die Katzenkinder aus der Obhut der Katze.
Da war sie einsam. Sie legte sich zu Füßen ihres
Herrn und wollte gestreichelt werden. Doch je
länger sie miaute, desto wütender wurde der
Herr, bis er sie schließlich - gegen ihren leichten
miauenden Widerstand - zur Tür hinausbeförderte.
Da beschloß die Katze eines Tages, ihren Kindern
Lebewohl zu sagen und sich auf den Weg zu
machen. Wenn sie hungerte und in der morgend-
lichen Kälte stumm wartend vor den Türen saß,
gab man ihr hier und da das Schälchen Milch.
Doch die Tür schloß sich bald wieder, denn man
hielt sie für eine Wildkatze.
Einmal lockte sie ein Mann ins Haus.
Er streichelte sie sanft, während er an seinem
Whisky schlürfte. Die Katze hatte nun ein neues
Zuhause, fing wieder Mäuse und legte sie dem
Herrn zu Füßen. Doch immer mehr fühlte sie,
daß der Herr im Grunde ohne Katze leben wollte,
allein mit seinem Whisky. Nachdem der Herr
nun abermals betrunken war und sie zur Tür
hinausgeworfen hatte, machte sich die Katze leise
auf den Weg.
Nun läuft sie entlang der Autostraße. Im strömen-
den Regen findet sie ein Mann. Er nimmt sie
auf den Arm und nennt sie seine Wildkatze.
Er streichelt ihr schwarzes, durchnäßtes Fell. Nachts
schläft sie an seinem warmen Körper, tags läuft sie
über weiche Teppiche und sitzt auf seinem Stuhl.
Allmählich beginnen ihre Wunden zu heilen.
Eines Abends - die Katze ist über Felder gestreunt,
hat unter Bäumen gesessen und den Ameisen
zugesehen - verliert sie auf dem Teppich ein
Büschelchen Heu. Das macht den Herrn wütend,
er redet nun von Katzenhaar auf Teppichen und
Stühlen. Die Katze versteht nicht, denn sie liebt
das Heu über die Maßen, und sie liebt auch ihr
Fell. Der Herr bleibt unnachgiebig.
So läuft die Katze nun tagtäglich hin und her und
sammelt Katzenhaar von Teppichen und Stühlen.
Immer öfter aber kriecht sie scheu in ihr Versteck.
Dann wieder fängt sie Mäuse und legt sie ihrem
Herrn zu Füßen.
Der nimmt sie zärtlich auf den Arm.
Er gibt ihr liebevoll das Schälchen Milch und
nennt sie seine schwarze Wildkatze.
An diesem Morgen
mir zum Geschenk
dein Warten
Weißgefleckte
dein Warten
auf meinem alten Pullover
Hin und her
sucht dein kleiner Kopf
mich
mit Menschenaugen
hinter deinem Spiegel
im Türglas
Nicht mehr
wird unser Schauen
zu dem einen Auge
das im Fragen versteht
Nicht mehr
in deinem Katzenleben
An diesem Morgen
mir zum Geschenk
dein Warten
Weißgefleckte
dein Warten
auf meinem alten Pullover
Überall
im fremden Haus
auf schweren leeren
Eichenstühlen
körperlos
Schneeweiß und Rosenrot
körperlos
auf abgehackten Ästen
und zwischen Frühlingsblumen
euer Mädchenlachen
erreicht nicht
mein Heimweh
In den Nächten
flecht ich
mir ein Kleid
aus weiß
und roten
Rosen
Ich habe
das Allerliebste
verloren
nun kette ich mich
an meine Gedanken
die sagen laut
du hast uns
du hast Luft zum Atmen
Wind Sonne Regen
darunter zu wandern
und ein warmes Zimmer
wenn es kalt wird
mit Büchern Zeitungen
Telefon und Fernseher
und mit Pflanzen
die sagen leise
Wann kommst du heim
Kleine Fäuste wie
Knospen
weich und weiß
und rot
fallen
vom grünen Uterus
Im Geäst
meiner Hände
öffnen sie sich
zum Fliegen
Aus der Wunde meines Bauches
kamst du
Rosenrot
kamst du
Schneeweiß
in meinen Arm
Als Schwester Erde
ihre Früchte wiegte
im weichen Blau
Kleines Märchen
im grünen Badetuch
kleines Märchen
mit dem traurigen Auge
Zufrieden wart ihr
an meiner Hand
Ich hatte keine Fragen an das Leben
Märchen sind keine Geschichten
mit Anfang und Ende
Man muß sie behutsam hegen
wie klingendes Glas
Doch es gab Tage
da strichen meine Hände
nicht durch euer Haar
Schneeweiß und Rosenrot
Was macht mein Kind - was macht mein Reh
Es sind des Märchens dunkle Schatten
wenn ihr mich anseht
Schneeweiß und Rosenrot
mit Frauenaugen
weiß ich alles
über mein Leben
und weiß auch
ich finde sie nicht mehr
eure kleinen Gesichter
eure kleinen Hände
und finde sie doch wieder
in eurem Wort
und find ein grünes Badetuch
und find das weiche Blau
Märchen sind ewig
Morgens
träumte ich
das Haus im grünen Meer
mit einem Strauch von weißen Rosen
das Blau vom Rittersporn
zum Rot der Beeren
Mittags
träumte ich
die Sonne in den Zweigen
Rosenrot
saß am Klavier
und im Gras
Schneeweißchen
Abends
fühlte ich
die Schatten wuchsen länger
mit den Bäumen
und deine Hätschelblume
Schlinggewächs
kroch über Rittersporn und Rosen
Ich bin
Topfpflanze
Meine Wurzeln
hungern
auf dem Grund
des Topfes
lch bin
transportierbar
pflegeleicht
funktional
bis in die
Blüte
Du
hast Erde
so hast du
auch
stets
deinen Grund
Ich schenkte dir
die Topfpflanze
pflegeleicht
funktional und
transportierbar nach dem
Abschied
Immer noch
treibt sie
Grün
in meinen Tag
Aber nie hat sie
geblüht
Im Gang der Wellen
mein Haar
Neptunus
plutoniumbeperlt
lautlos
wogt
an deiner Brust
Durch siechende Sonne
über Erdenmoleküle
trägst du mich
meine Flossen
eingehüllt
in grüne Seide
Doch abends
am Jahrtausendhimmel
gebettet
zwischen Galaxien
lautlos
schwimmt
unser kleiner Stern
Nun ruhe ich aus
Große Mutter
in deinem Arm
ich fühle
deinen geduldigen Atem
in der Rinde des Baumes
im Säuseln des Windes
im Duft der Erde
und im leisen Fall des Schnees
Meine Wunden
jahrtausendealt
sie bluten wieder
Blut in der Höhle des Waldes
beim sterbenden Kind
Blut auf Altären für Midgard
Blut auf Altären der Inquisition
Nun ruhe ich aus
Große Mutter
in deinem Arm
aus meinen Wunden
jahrtausendealt
fließt neues Blut
Wann
Große Mutter
kommt deine Zeit
langsam kommen wir
auf empfang die
wir schon
immer heimweh
hatten zwischen
euren gedanken und
unserem herzschlag
liegt der
gedachte
raum
so sollte man
es schreiben und als
geschenk eures
abschieds
auch das
heimweh
das unsterbliche damit
es uns nicht
verlasse
Hale Bopp
von den Zyklopen
im Reiche Plutons
weit hinter den kalten Monden
Hellgleißendes Einauge
Im Eis der Pupille
verborgen
der Tempel von Ur
und Babylon
Dein Wissen vom Nichts
Heute
vor deiner Wiederkehr
im fünften Jahrtausend
siehst du die Erde
furchtsam
teleskop- und menschenäugig
und auf dem Asphalt der Städte
wälzt sich
furchtlos
Polyphemos
Heimat
Fee meiner Kindertage
unter Dämonen
wohnst du noch
in den Ästen der Erlen und Weiden
am Fluß
und sonntags
im Wald
Heimat
flüchtig
im erdbraunen Kleid
Seetang vom toten Teich
über gebrochenen Flügeln
stellst mir ein warmes flackerndes Licht
neben das erloschene
Du kommst
mit einer Woge Schlüsselblumen
und dem Duft des Windes am Fluß
Du kommst allein
und bringst mir nur
das Bild von ihnen
So bleib doch
bleib doch
Hexe vom Fluß
Alraune
mit gebrochenen Flügeln
Heimat
flüchtig
im erdbraunen Kleid
Mutter
bleich und vogelleicht
embryonenhaft
schwimmen
deine Hände
ins Zeitlose
Ausatmen
der Erde
Sie war dein Heimweh
bis in die Zeiten
der Berge
und gab dir
deinen leichten Gang
dein schwarzes Haar
vom Gold der Sonne
schwesterlich
zu deinem Schmerz
Wo bin ich
Mutter
Irgendwo
Du wartest
Mutter
Wir sind angekommen
Laß dich umarmen
bevor du gehst
wenn ich es wagte
zu sagen
ich hab dich lieb
gib mir den Schlüssel
zu deiner Festung
aus Erinnerung
ich beträte sie
mit einer zerschlissenen
Fahne
darauf stände
verblichen
das Wort
NIE WIEDER KRIEG
und wenn ich
riefe
in diese Festung
aus Erinnerung
ICH WILL
ZU MEINEM VATER
wenn ich es wagte
Wie könnte ich
dich
befreien
In jenem Garten
an alten Ziegelmauern
gehe ich
müde
durch verwelkte Zeit
Finde ich
kleine Skulpturen
Bruder und Schwester
mit Augen aus Stein
In jenem Garten
an alten Ziegelmauern
sind wir Stein
auf verwelkter Zeit
und halten
geschwisterlich
die Totenwache
Deine Füße
Schwester
wissen
daß sie weiter
müssen
hin über Glut
die saugt
das Gewesene
die brennt
das Kommende
in deine Füße
die wissen
daß sie weiter
müssen
hin
über weiche Erde
da trägt eine Blume
dein Mädchengesicht
Weitab
vom Kriegsgeschehen
der Begriffe
wacht
die weise
die neunköpfige
Hydra
vor der
Herzmitte
Das ist es
wirst du mir sagen
Großvater
Großmutter
Hinter weißen Schatten
träumt das
Beerengärtchen
träumt der
Apfelbaum
Das Kind
es friert
Die Beeren sind
aus Glas
Zeit weht in
weißen Schatten
übers fremde Dorf
Sonntag
an Großvaters Hand
Der Sarg
von Schneewittchen
ist gläsern
Nonnen
spreizen ihre Flügelhauben
weit und tief
hinab auf
meine Kinderschuhe
Noch
die Mutter
Decke
hingebreitet
Noch
Nahtstellen
Einbrüche
Wo du Halt machst
des Messers Schneide
aufweinend
in dir
der Vater
Noch
die Mutter
Decke
hingebreitet
Noch
Über Asphaltwege
baumamputiert
hin zum Dorf
Aufgebahrt liegt es
eine blumengeschmückte
Leiche
auf dem grünen Rasen von
Disneyland
plunderbewußt
mit Jägerzaun
und Salzteigschmuck
Irgendwo
muß er doch sein
der Garten
meiner Großmutter
mit Huflattich und Gänseblume
und mit dem Holunder
am Hühnerstall
Wenn
am Bahnsteig
hinter der S-Bahn-Fensterscheibe
puppengesichtig
mein Kind
den Abschied lernt
Wenn
die Schwester
mir vor der Abfahrt
den Bund Liebstöckel bringt
und das Brotrezept
und ich spüre
es war wieder Sonntag
und lange noch
hätte sie für mich Zeit
Wenn
die Mutter
mühsam
sich aus dem Rollstuhl
tastet
in die Leere meiner Hände
die nichts geben
als diesen Abschied
Wenn
der Vater
umsichtig
das Gartentor aufmacht
und sein Händedruck bedeutet
nimm hier die vielen
ungesagten Worte
Wenn
der Bruder
plaudernd
mir schließlich noch
den Zeitungsausschnitt reicht
und ich begreife
nicht Abschied
sondern Wiederkommen
Wenn
am Bahnsteig
hinter der S-Bahn-Fensterscheibe
puppengesichtig
mein Kind
den Abschied lernt
La Mancha
ein Feldweg von roter Erde
endlich hier
umarmt mich
die Sonne
läßt meine Hüften schwingen
Im Hain die Zikaden
und grünen Oliven
Wann einmal
bin ich hier gegangen
Im irdenen Krug
an der weißen Mauer
von Santa Maria
lastet schwer
meine Trauer
Überm Distelfeld
zeichnet flirrende Hitze
das Kreuz
Goldgeschmückt
zogen Los Moros
und du mi amigo
über die Sierra
Glitzert
ein Tingeltangelhalbmond
auf la Mancha
und das Bettelweib
an der Plaza de Toros
Neuschnee
Darüber ziehen
Spuren
die Zeit
Postkartenblau
ist kein bleibendes Dach
über Pisten und
Parkplätzen
Alpe de Siusi
Der Schlern
ist eine schwarze Sphinx
hochfüßig hinabblickend
ins Tal
Auf dem Rücken
Neuschnee
_____________________________________________________________________
früher war es anders
Inhalt´- früher war es anders
Überall sind sie mit mir, ziehen an mir wie schwere Gewichte hin zu einem festen Grund, der fern ist und nie unter mir.
Es sind meine Wurzeln und sie reichen hin zum Dorf der Kindheit.
Hingeschmiegt liegt es am Berg, ganz eins mit ihm unterm Schutz des Waldes, ganz eins mit dem Fluss zu seinen Füßen, der aus den Bergen kommt, aus dem Gebirge, das bei Föhn am Horizont steht wie eine Kulisse, hinter der es - wie die Reitze-Großmutter sagte - hinunter geht in den Süden.
So ist es wohl in mich gekommen, das Heimweh. Muss ich es weitertragen als das Abschiedsgeschenk eines klaren Bergquells, den Ahnen einst mitgegeben auf die lange Reise, mitgeschickt durch das Wurzelgeflecht der Generationen? Muss ich es weitertragen als eine Sehnsucht der Grenzgänger, die ins Unbestimmte weist, ins Unerschlossene, letztendlich aber hin zur Heimat?
Das Kind erlebt Heimat aus dem Gefühl. Was bleibt, bedarf nicht der Deutung. Was bleibt, ist die Schwere der Wurzeln, ist die Magie der Bilder aus einer längst vergangenen Zeit.
Der Bach
Er kommt von Stetters Breite her. Da ist er noch der Breite Bach, da bauen die Buben Sperren und fangen Forellen und die Mädchen machen Sträuße aus Sumpfdotterblumen. Wir nennen sie Wasserpfannen. Im Dorf fließt der Bach neben der Hauptstraße her. Zwetschgenbäume, Wiesenschaumkraut und Brennnesseln geben ihm Schatten. Gemächlich trägt er Enten und Gänse, wäscht einer Mutter das Gröbste aus den Windeln und weiter unten der Bäuerin die Erdäpfel. Bei der Bachputze kriechen wir durchs Rohr unterm Platz, bis wir am Nestle wieder herauskommen. An warmen Sommerabenden sitzen wir auf dem Brückle, jedes Nachbarhaus hat sein eigenes: Zuerst kommen Herta, Hanna oder Klara, dann ich, dann Manfred, Helga oder Günter und weiter oben beim großen Birnenbaum die Anni. Wir waschen unsere Barfüße. Vorm Haus sitzen die Mütter und Großeltern auf dem Bänkle und sehen uns zu.
Der Gießen
In der Mitte reicht mir das Wasser bis zum Bauch. Wir baden in Unterhosen. Unter der Brücke gibt es ein tiefes Loch, ein boden-loses, gefährliches Dunkel. Das muss ich bezwingen. Mit Herzklopfen und sieben Froschzügen zappe ich hinüber. So lerne ich Schwimmen. An der Mühle, gefährlich nahe bei der Säge, spielen wir mit den Brettern Flößen. Die Müllerin schickt uns ihre Hunde. Die bellen nur und trauen sich nicht ins Wasser. Frau Mall umgibt das Geheimnis der Märchenhexe. Ihre Stimme krächzt. Heimlich holt sie unsere Kleider ins Haus. Wir bekommen sie zurück, wenn wir alle ihre Fragen beantwortet haben. Es geht um Neuigkeiten aus dem Dorf. Frau Mall verlässt ihre Mühle nie. Nur der Müller kutschiert herum, „von Wirtschaft zu Wirtschaft“, sagt die Großmutter Vier Schimmel ziehen die Schees. Früher einmal habe sich die Marie, die Müllerstochter, im Baggerloch ertränkt.
Das Baggerloch
Es hat das Grün des Nixenteiches, wechselnd zwischen Moos, Türkis und Blau unter tiefhängenden Weiden. Die kleinen Fische schlagen Purzelbäume, die großen streifen um unsere Schenkel. So schwimmen wir zu den Inseln. Auf der Wiese haben wir unsere Teppiche ausgebreitet. Bei Erna spielt das Grammophon.
Die Iller
Vom Baggerloch aus geht ein Pfad durch Griesgestrüpp und Büsche hinüber zur Iller. Ihr glasklares Wasser kommt von den Bergen. An den Ufern ist es knöcheltief, in der Mitte strudelt es um unsere Waden und Knie. Früher, bei der Schneeschmelze, sei das Wasser bis ins Dorf gekommen, an der Mühle fast bis zum oberen Stockwerk. Dann hätten die Männer den Illerdamm gebaut und später dann den zweiten beim Baggerloch. Die Iller hat breite, weiße Kiesbänke. Dort machen wir uns warme Sitzbadewannen und lassen flache Steine im Wasser hüpfen. Die dicken, weißen heißen Feuersteine. Wir schlagen sie unermüdlich gegeneinander, bis es Funken gibt und brandig riecht. Am anderen Ufer steigen die Bayern ins Wasser. Es ist auch ihre Iller. Die Iller gehört uns allen.
Der Himmel hat das Blau der Wegwarte und mittendrin hängt golden wie ein Bündel Stroh die Sonne. Um die Bretterzäune ranken sich Kapuziner und Wicken. „Der Mai ist gekommen, die Bäume schlagen aus ...“ spielt am offenen Fenster eine Ziehharmonika. Auf dem Platz steht der Maibaum, bunte Bänder wehen an den Kränzen. Das Bänkle ist besetzt in seiner ganzen Breite, Männer und Buben strecken ihre Füße von sich. Ich klettere auf die Mauer von Platzwebers Miste. Da sitzt schon der Bert in seiner braunen Uniform. Bert ist Hitlerjunge. Er trägt weiße Häkelkniestrümpfe mit Bommeln dran.
In der Stube gibt es ein festliches Gedränge. Die Kirche ist aus. Verwandte murmeln durcheinander, miteinander. Die einen kommen aus dem Nachbardorf, dem oberen, dem gleichnamigen, das man sich wie den Zwilling denkt, die anderen sind aus dem dritten Dorf, dem Drilling. Der liegt drüben hinterm Wald in einer Talmulde. Man nennt sie die Lochbären. Es sind die Wainer Bäsen und Vettern. Behäbig und gewichtig stehen sie herum, die Bäsen alle in schwarzen Kopftüchern. Im Dunkel der Rockschöße riecht es nach Mottenkugeln. Sonntag mit den Urgesteinen der Diaspora. Man festigt die Drillingsbande.
Er hat große, grüne Fensterläden und ist ein Teil vom Rathaus. Im Hof stehen zwei mächtige, alte Kastanien. Ich presse mein Gesicht fest durch eine Luke des grüngestrichenen Bretterzaunes und sehe in die Freiheit. Das ist die staubige Dorfstraße. Wie komme ich bloß auf die Straße? Im Kindergarten ist ein Feiertag. Mit Tante Hilde, der Kindergärtnerin, versammeln wir uns am Rathauszaun. Tante Hilde trägt ein weißes Schwesternhäubchen mit schwarzem Hakenkreuz. Die schwarz-weiß-rote Fahne wird hochgezogen. Alle singen das Horst-Wessel-Lied: „Die Fahne hoch, die Reihen fest geschlossen ...“. Mitten im Lied schwätze ich mit Annemarie. Sie ist ein Ferienkind aus der Stadt, mir treu ergeben und immer an meiner Seite beim Kichern und beim Schwätzen. Tante Hilde unterbricht das Dirigieren, zieht uns beide an den Ohren ins HJ-Heim - das ist auch unser Schlafsaal - und schließt uns dort ein. Zum Vesper sind wir wieder frei, denn der Lebertran muss geschluckt werden. Jeden Tag die Qual mit dem Lebertran: das Würgen gleich nach dem Vesper. Oskar ist mein einziger Leidensgenosse. Zusammen rennen wir hinaus ans Waschbecken zum Spucken.
Am Nachmittag klettern wir auf unsere Bastliegen im HJ-Heim. Alle müssen schlafen. Tante Friedel sitzt auf einem kleinen Stühlchen und spielt auf der Flöte: „Maikäfer flieg, dein Vater ist im Krieg …“
Die Furchen der Dorfstraßen sind hart gefroren und unsere Schritte hallen wie auf Bretterboden. Es schneit. Frau Holle, weiß ich, schüttelt ihre Betten aus. Wir tragen alle den gleichen dunklen Trainingsanzug, zweiteilig, das Oberteil mit Reißverschluss. Mit dem Rodeln beginnen wir am Schulberg, biegen gekonnt bei Bäckers in die Hauptstraße ein und fahren, wenn’s läuft, bis zum Spritzenhaus. Oder wir kommen die Rusela herunter, dass es Funken schlägt, sofern man einen Schlittschuhleiter hat. Der sitzt vorn auf dem Schlitten und ist gewissermaßen der Star und der erste Mann, in den ich mich verliebe.
Nun zieht's uns in den Brühl zur Mutprobe. Wir fegen die vereiste, fast senkrechte Bahn hinunter über die Schanze. Die haut uns in einem weiten Satz über den Bach.
Den Großvater Walcher nennt man den Sattler, weil er Sattlermeister ist. Man sagt: bei Sattlers. Das ist die Heimat meiner Mutter, „Sattlers Anna“. Großvaters Werkstatt, ein kleines separates Haus, wird getrennt vom Haupthaus durch einen schmalen Gang, das Gängle. Ein paar Stufen geht’s hinunter ins Halbdunkel der Werkstatt. Es riecht nach Schnupftabak und Lederzeug. Großvater sitzt in seiner grünen Schürze auf dem Hocker und repariert Pferdegeschirre, bezieht einen Stuhl mit Leder oder flicht Schuhe aus Seegras. Das wächst im Wald und damit füllt er auch die Matratzen. Früher hat für ihn ein ganzer Tross Seegrasrupferinnen gearbeitet, Frauen vom Dorf und eben die eigenen Töchter, die älteren vor allem: die Regine und die Marie. Großvater macht auch Holzsandalen. Sie heißen Klepfer. Er nagelt Riemen auf die Holzsohlen. Dank Großvater habe ich einen eigenen stolzen Schuhbestand: Seegrasschuhe und Klepfer in verschiedenen Ausführungen, darunter immer ein paar Holzsohlen mit ausgerissenen Riemen.
Großvater nimmt Schnupftabak aus der Blechdose, stopft ihn feierlich in seine großen, schwarzen Nasenlöcher direkt über dem Schnurrbart und lehnt sich weit zurück. Wie angewurzelt bleibe ich stehen. Beide warten wir auf das Niesen. Nun kommt es dreimal hintereinander mit Urgewalt und dröhnend, dass es mir weh tut.
Auf Großvaters Schreibtisch, der Türmchen hat und ein Wachstuch mit Tintenflecken, gibt es zwei riesige schwarze Bücher. In das eine schreibt er in Sütterlin-Schrift die Schulden seiner Kundschaft. Am Sonntagvormittag macht er Kundenbesuche. Kundschafttrinken nennt es Großmutter. Das andere Buch hat viele Druckbuchstaben in schwarzer, verschnörkelter Schrift und Fotografien in Braun-Weiß: alte Männer, junge Männer, die einen mit Vollbart, die anderen mit Schnurrbart wie Großvater, dazwischen manchmal eine Frau mit bauschig hochgestecktem Haar, hochgeschlossener Bluse und einer Brosche obendrauf. Es ist mein Bilderbuch. Oft sitze ich allein mit ihm am Küchentisch. Später einmal kann ich bei den Fotografien das Geschriebene lesen: Namen wie Bebel, Liebknecht und Rosa Luxemburg.
Sie ist eine geborene Stetter, ist klein und zierlich und hat eine helle, leise Stimme. Großmutter nimmt mich auf den Schoß und singt „Kommt a Vogel gefloga...“ oder erzählt die Geschichte von Jakob und Anna, die im Keller naschen, als die Eltern fortgegangen sind, die am Ende aber, als sie satt sind, ein schlechtes Gewissen haben, bis Anna sagt: „Einer hat’s doch gesehen, der liebe Gott. Der sieht alles.“
Großmutter erzählt Geschichten, wahre Geschichten von der Spinnstube, wo an Winterabenden die Dorfjugend zusammenkam. Sie erzählt von einem schaurigen Spiel, wo sie in der Dunkelheit ein Mädchen auf den Kirchhof geschickt haben. Die sollte ihre Spindel in ein Grab stecken als Zeichen ihres Mutes. Das Mädchen ging also hin zum Kirchhof und kam nicht mehr zurück. Man fand sie tot auf dem Grab liegend. Ihr Rocksaum war mit der Spindel in der Erde festgesteckt.
Großmutter erzählt auch von der Postkutsche und vom Postillion, wie er einmal die Woche ins Dorf gekommen sei. Auf dem Platz habe er sein Horn geblasen, dann seien alle Leute aus den Häusern gekommen und zur Kutsche hingelaufen.
Eines Tages bekommt Großmutter vom Rathaus ein Schächtelchen mit einem goldenen Kreuzchen an einem blau-goldenen Band. Es ist das Goldene Mutterkreuz und ein Geschenk vom Führer, weil sie neun Kinder großgezogen hat.
Die Großeltern sterben im März, zuerst Großmutter, ein Jahr später der Großvater. Drei Tage sind sie im Hausgang aufgebahrt. Die Nachbarn und viele andere Leute bringen ein Bukett oder einen Kranz, kommen zum Kondolieren, wie meine Mutter sagt. In der 2 Wärme der Märzensonne riecht es nach Tannen- und Buchsbaumzweigen. Großmutters Gesicht ist mit einem weißen Taschentüchlein bedeckt. Jedes Mal, wenn ich die Stiege herunterkomme, sehe ich unterm Tuch nach Großmutters Gesicht. Sie ist immer noch tot. Wenn die Leich ist, macht mir meine Mutter eine riesige, propellerartige, schwarze Schleife ins Haar direkt hinter meine Haarrolle, den Hahnenkamm. Jetzt läuten die Kirchenglocken. Vor unserem Haus stehen zwei Rappen mit dem Totenwagen. Sie tragen ein schwarz-silbernes Pferdegeschirr.
Sie ist eine geborene Walcher und Vaters Mutter. Mein Urgroßvater sei der Johannes Walcher und von Beruf Schmiedemeister gewesen. Deshalb seien die Nachbarinnen, also die Schmieds Friedel und die Metzgers Marie, auch noch Tanten von mir. Also sei die Metzgers Irene von gegenüber nicht bloß meine Spielkameradin, sondern mit mir verwandt. Das solle ich mir merken. Oft erzählt sie mir von ihrer Mutter, die von Stetters Hof gekommen und früh verstorben sei. Vier Kinder habe sie zurück-gelassen: sie, meine Großmutter, im Alter von drei Jahren, ihre beiden Schwestern, also meine Schreiners Bäs und die Bäcka-Bäs und dann noch den Habdanks Vetter. Wenn Großmutter an ihrer Singer-Nähmaschine sitzt und mit den Pedalen rasselt, mache ich aus Flicken Kleider für meine Zelluloid-Puppen. Zum Morgenessen gießt Großmutter den Kaffee aus geröstetem Korn und warme Milch in die Ohrenschüsseln. Es fehlen aber noch die frischen Wecken, die Voggesser. Großmutter bindet das Kopftuch um, nimmt die Tasche und macht sich auf zur Bäcke, ihrer Schwester. In der Biegung zu Gersters Hof sehe ich sie verschwinden und ich verstehe nicht, warum sie beim Fortgehen immer kleiner geworden ist.
Jeden Herbst zur Kirchweih backt Großmutter Schnitzbrot aus gedörrten Birnen, das Zeltes, und zu Weihnachten die Springerle aus Bisquitt-Teig mit Anis.
Fürs Springerles-Muster nimmt sie den Holzmodel. Den Teig rührt sie auf ihrem Schoß eine volle Stunde, damit ihre Brötla einen hohen Sockel bekommen. „Koi Haus em Dorf hot so hohe Schprengerlesfüßla wie i“, sagt Großmutter jedes Jahr an Weihnachten.
Die Reitze-Großmutter kann Hühner schlachten. Sie holt dazu das kleine Beil, den Schnauper, legt die Henne auf den Hackstotzen und schlägt ihr den Kopf ab. Nun liegt der Hühnerkopf im Gras neben dem Hackstotzen,
die Henne schlägt mit den Flügeln und hüpft kopflos ein ganzes Stück hinaus in den Garten.
Im Sommer fahre ich mit Großmutter zum Biberacher Schützenfest. Für die Biberacher Verwandten packt sie Brot, Eier, Schweineschmalz und Zwetschgengsälz in zwei große Pappschachteln und lädt alles im Morgengrauen auf den kleinen Leiterwagen. Den ziehen wir zusammen durch den Wainer Wald zum Bahnhof nach Großschafhausen; da gibt es einen kleinen Wartesaal mit zwei Bänken. Im Zug nimmt Großmutter gemütlich die Pappschachteln auf den Schoß und sagt: „Pscht! D’Lokomotiv! Hörsch, wie se pfeift?!“
Zum Palmsonntag färbt sie die Eier braun in einem Sud von Zwiebelschalen. Der Osterhase legt sie immer unter den eisernen Schuhabstreifer, hinter eine Holzbeige oder in den Tannenreisighaufen.
Großmutter erzählt auch von ihrer schweren Zangengeburt. Im Grund habe Kemmerles Bäbe ihr und meinem Vater das Leben gerettet. Die sei zu Fuß nach Dietenheim gelaufen, um den Doktor Fritz zu holen.
Seine Brille ist ein fahrradähnliches Gestell mit dicken Gläsern.
Wenn mir das Hoppe-Reiter-Spiel mit ihm langweilig wird, drehe ich sein Gesicht ruckartig nach links und nach rechts. Großvaters Trick besteht darin, dass er seinen Hals plötzlich stocksteif macht und so das Gesicht auf einer Seite zum Stehen bringt, bis es mit einem gewaltigen Ruck zur anderen Seite hin schnellt. Dann bricht er in lautes Gelächter aus.
Großvater riecht nach frischem Holz. Seitdem bin ich der Meinung, ein Mann müsse riechen wie Großvater. Am Samstagabend darf ich mit ihm in der großen Zinkbadewanne baden. Immer trägt er seine schwarze Badehose. Nachts schlafe ich im Gräbele zwischen Großvaters und Großmutters Bettlade.
Großvater schlägt mich nicht. Den langen Stecken hat er als einen Wunderstecken aus dem Wald mitgebracht. Wenn ein Spielzeug weit unters Küchenbüfett gerollt ist, kann man es mit dem Stecken wieder hervorholen. Das üben wir zusammen. Dann werde ich übermütig und schlage ihm mit dem Stecken fest auf die Brille. Er wird zornig und wirft mich in hohem Bogen auf die Matratze, aber es tut nicht weh.
Wenn Großvater denkt, fasst er an die Haut unter seinem Kinn und zitiert seinen Schopenhauer. „D’r Mensch isch von Natur aus o’zfrieda. D’ Welt isch bloß Lug und Trug. Drom sott ma mit dem Bissle, was ma hot, z’frieda sei. I bleib für mi ond lass de andre ihr Fraid.“
Großvater verdient sein Geld als Waldarbeiter. Jeden Morgen gibt ihm die Großmutter im Holzmacher-Kännle das Essen mit auf den Weg.
Einmal, als die Balzheimer den Adolf Hitler wählen sollen, geht Großvater mit der Großmutter ins Rathaus, aber er macht das Kreuzchen nicht. Großmutter wird ungehalten und sagt laut: „Kascht etz du et au doa wie andere?!“
Bedächtig, ja andächtig richtet Großvater im Herbst und Frühjahr den Obst- und Beerengarten. Er macht mir eine Holzschaukel zwischen zwei Zwetschgenbäumen. Dann plötzlich muss er wegfahren, nach Lettland an die Front. Ich gehe in den Abort neben Großmutters Waschküche, verriegle leise die Tür, setze mich aufs Plumpsklo und weine.
Tante Frieda ist die jüngste von Mutters Schwestern und sie näht in Sattlers Stube für die Leute Kleider und für mich Dirndl aus geblümtem oder kariertem Bettzeug, der Ziach. Im Radio sind kleine Männer versteckt. Jetzt singen sie „Heimat, deine Sterne...“ und Tante Frieda singt mit. Auf ihrer Nähmaschine sitzt eine ganz dicke Heftfadenrolle. „Tante Frieda, wenn d’ Heftfadaroll aus isch, isch dann d’r Krieg au aus?“ frage ich sie.
In der Schlafkammer von Sattlers Großeltern hängt das Bild vom Martin Luther, wie er kniend betet und dabei zum lieben Gott hinaufschaut. Und drunten in der Stube schaut der Adolf Hitler ganz groß von der Wand herunter. Ich habe eine dringende Frage an Mutter. Sie unterhält sich gerade mit ein paar Leuten. „Mama, wer isch mehr, d’r liebe Gott oder d’r Adolf Hitler?“ Mutter fühlt sich gestört und gibt irgendeine lustige Antwort. Die lässt mich unzufrieden, denn sie trifft nicht den Kern meiner Frage.
Bei Kreckers lebt die Frusa, eine junge Gefangene aus Russland. Mit singender Mädchenstimme spricht Frusa gebrochenes Balzheimerisch. Ihre Bewegungen sind fließend, dabei lösen sich glatte blonde Strähnen aus ihrem Knoten, fallen über die schrägen Kirgisenaugen und hohen Wangenknochen. Alle mögen Frusa und bei Kreckers, wo sie als Magd arbeitet, ist man gut zu ihr.
An einem Tag ist Frusa nicht mehr da. Ich höre das Tuscheln der Erwachsenen. Man habe Frusa fortgetan in ein Lager. Einmal ist auch Hascha verschwunden, die dunkelhaarige Fremdarbeiterin aus Polen. Kurz zuvor hat sie noch in Stetters Hof Radfahren gelernt.
Der Landjäger radelt durchs Dorf in brauner Uniform. Alle grüßen mit „Heil Hitler!“ und heben die rechte Hand bis Schläfenhöhe. Wenn der Landjäger vorbei-gefahren ist, sagt man wieder „Grüß Gott!“ und „Bfüa Gott!“ zueinander.
Mutter schickt ein Feldpostpäckchen an meinen Vater, der an der Front ist wie die anderen Väter. Die Front muss etwas sein wie ein Beruf, den jetzt fast alle Männer haben, ein Beruf, der mit dem Vaterland zu tun hat. Wenn Mutter weint, weiß ich: Vater hat wieder nicht geschrieben.
Der Onkel Tobi ist Soldat an der Ostfront und er ist das jüngste der neun Sattlers-Kinder. Im Botanischen Garten in Tübingen hat er eine Gärtnerlehre gemacht und in dieser Zeit mit Bleistift viele schöne Bilder gemalt von Tieren, Pflanzen und Landschaften. Die darf ich anschauen. Einmal kommt Onkel Tobi heim in Sattlers Haus. Er trägt Uniform. In der Küche sucht er sich umständlich und unsicher einen Platz. Warum kann er nicht lachen? Seine Augen versteckt er hinter dicken, runden Brillengläsern und er fragt mich ernst, ob ich die Christel sei.
Besuch kommt: der Onkel Fritz. Er stammt aus Oberbalzheim. Man sagt „Wirts Fritz“ und er ist der Mann von Tante Gretel. Die Sattlers Großmutter geleitet ihn in die Stube. Da steht er neben mir, riesengroß, in Uniform und schwarzen Stiefeln. Der Schaft reicht mir bis zum Bauchnabel. Ich fühle mich winzig, aber ohne Angst, denn Onkel Fritz verbreitet eine ganze Stube voller Fröhlichkeit.
Man lebt im Dorf mit einem grauen Gespenst. Das ist das Wort „gefallen“. Wenn die Mütter, die Großmütter und die Großväter weinen und am Denkmal vor der Kirche ein Trauergottesdienst ist, dann weiß ich: Wieder einmal ist das graue Gespenst in einem Haus gewesen und hat die Todesnachricht gebracht.
An einem Nachmittag steht Tante Gretel an der Haustür, den kleinen Edgar Frieder auf dem Arm, die Ingrid an der Hand. „D’r Fritz isch tot“, sagt sie. Dann bricht sie zusammen. Großmutter nimmt sie in die Arme und führt das vaterlose Dreigespann behutsam in die Stube.
Vater lebt. Er ist auf Kurzurlaub, nimmt mir immer wieder die Mutter weg. Aus unverständlichen Gründen habe ich keinen Zutritt zu Mutters Schlafzimmer. Ich sehe Vater durch die offene Tür, vielmehr sehe ich seinen großen, breiten Rücken, sehe, wie Vater mit dem Lineal hantiert, wie er schreibt und liest und immer nur liest. So halte ich Abstand bis zum Sonntagmorgen. Dann schlüpfe ich zu Vater ins Bett. Eben hat er noch Französisch gelernt. Gut gelaunt legt er die Bücher auf den Nachttisch und erzählt mir die Geschichte von dem Mädle und dem Vater, die morgens nicht aufstehen wollen, bis das Kaffeegeschirr die Stiege heraufpoltert und schreit: „Schtandet auf, schtandet auf! ’s isch Tag!“
Mutter und Vater
feiern Hochzeit. Vater trägt Uniform und Fliegermütze. Auf dem großen
Eichentisch steht etwas Kreisrundes und Weißbuntes, etwas, das ich noch nie
gesehen habe: Eine Torte! Tante Guste, meine Patentante, hat sie gebacken.
Die Glocke mit Klingelknopf ist im Hausgang rechter Hand neben der Ladentür. Man geht die Stufe hinunter ins schummrige Innenleben des Ladens. Es riecht nach Zichorie und Bohnerwachs. Links neben der Stufe lehnen Peitschenstecken, die Geißeln für die Kühe und Gäule, teils mit, teils ohne Riemen Darüber hängen farbige Pferde-Stoffohren. Ein Mann sitzt rauchend auf dem Ladentisch, unterhält sich mit Mutter. Mutter ist schön. Das blauschwarze, glatte Haar hat sie im Nacken geknotet. Ihre Haut ist sonnenbraun und duftet nach Heu. Ich rieche an ihren Armen und entdecke, dass der Geruch stärker wird, wenn ich ihre Haut ablecke.
Und wieder gehört Mutter ganz den Leuten. Eine Bäuerin kommt hereingestürmt, bringt eine leere Flasche. Mutter geht damit zum Essigfass, schaufelt danach Zucker aus dem Jutesack in eine braune Papiertüte, die Guck. Es gibt sie als Spitztüte und für größere Mengen rechteckig mit Boden. Mutter setzt die Guck in die Waagschüssel und wiegt mit Kilogewichten aus Eisen und mit kleinen Grammgewichten aus Messing.
In der warmen Stube brennt das Licht, die Holzscheite knistern im Kachelofen und im Rohr braten ein paar Äpfel. Dabei wackeln sie gemütlich hin und her. In einer Kachel bähen gerädelte Kartoffeln in der Milch und weiter hinten singen zwei Bettflaschen, eine kupferne und eine aus Zink.
Mutter sitzt an Großvaters Schreibtisch und klebt Lebensmittelmarken in ein Heft. Die hat sie aus den Lebensmittelkarten ausgeschnitten, mit denen man bei ihr einkauft. Es gibt Karten für Selbstversorger, die Bauern, und andere für Teilselbstversorger. Das sind Leute, die keinen Bauernhof, dafür aber Hühner und ein Schwein und eventuell noch einen Obst- und Gemüsegarten haben. Dann gibt es auch noch die Normalverbraucher. Die haben weder Landwirtschaft noch eine Sau zum Schlachten.
Das Fressen für unsere Suzzl darf ich manchmal selber richten. Ich zerdrücke Kartoffeln, schütte Kleie und Wasser darauf und knete alles zu einem Brei. Dann gehe ich mit dem Saukübel in den Stall. Suzzl hat Gesellschaft: drei graue Wanderratten. Zu viert fressen sie gemütlich die Reste aus dem Trog.
Nun ist die Suzzl ungefähr ein Jahr alt und soll geschlachtet werden. Vom Laubenfenster im ersten Stock sehe ich hinunter auf den Hinterhof. Der Metzger läuft mit Suzzl im Kreis herum, sie an den Hinterbeinen haltend. Nun schießt er ihr die Kugel zwischen die Augen. Mutter und Tante Frieda sitzen in der Hocke bereit mit der Schüssel, dann rühren sie mit bloßen Händen das Blut, das aus der toten Suzzl fließt. Daraus macht der Metzger die Blutwurst. Zum Speckschneiden kommen die Nachbarinnen. Großmutter heizt im Hof den großen Kessel für das Sauerkraut und Kesselfleisch. Vom Küchenherd nimmt sie mit einem Haken die Ringe, versenkt in der Öffnung die große Messing-Henkelpfanne und bringt darin die Speckwürfel zum Schmelzen. Dann gießt sie das Fett in blaugraue Steinguttöpfe, die Schmalzhäfen. Von den Specküberbleibseln, den Grieben, esse ich bis mir übel wird. Die Metzgersupp bekommen alle, die geholfen haben: eine Schüssel Kraut mit Kesselfleisch und warmer Blut- und Leberwurst.
Ich stehe im
Vorgärtchen, lutsche gelangweilt an den Türmchen des eisernen Zaunes und höre
plötzlich aus Richtung Dietenheim ein dumpfes Tapp-Tapp vieltausendfacher
Schritte. Allmählich werden sie lauter. Ein Heer Soldaten marschiert auf den
Platz ein, kommt die Hauptstraße herunter. Sind es Soldaten? Sie tragen
grün-braun gefleckte Kittel und sie gehen stumm im Gleichschritt. Soldaten
singen immer: „Schwarzbraun ist die Haselnuss ...“ oder „Auf der Heide blüht ein
kleines Blümelein...“, wenn sie durchs Dorf marschieren. Das Trippeln kommt
näher. Dem Heer voraus geht ein Soldat mit Stahlhelm und brauner Uniform. Dann
ziehen sie vorbei: Männer mit runden, kurzgeschorenen Köpfen. Ihre Gesichter
tragen sie wie Masken mit Augen so schmal wie schwarze Striche
unter dem breiten Wulst der Brauen. Und ihre Blicke laufen aus den Augenwinkeln
zu mir hin, senden eine Kraft aus, die mich lähmt. Einer hält das kreisrunde
Gesicht starr zu mir hingewendet, bis er zwischen den gefleckten Kitteln
verschwunden ist. Es sind gefangene Mongolen.
Immer wieder
übernachten Soldaten, die auf dem Durchmarsch sind. Einer rasiert sich morgens
am Küchentisch und sagt: „Sitzen ist das Schönste!“ Gegenüber bei Frau Walcher
wohnen die Offiziere, die tragen blitzende Abzeichen an ihren Mützen und
Uniformen. Alle Kinder müssen sie höflich mit „Heil Hitler!“ grüßen. Bei einem
muss man dahinter noch „Herr Hauptmann“ sagen und bei dem Wichtigsten „Herr
Major“. Ihr Büro haben sie im Schulhaus. An warmen Tagen sitzen sie auf Stühlen
im Freien. Wenn man den Major anschaut, zwinkert er und sagt: „Nu, Mädels, nu
tanzt uns mal was vor!“ So steige ich mit meinen Freundinnen auf das Podest vor
der Schulhauswaschküche. Da singen und tanzen wir unsere Reigen.
Der Hauptmann
möchte seiner kleinen Tochter ein blaues Fahrrad schicken. Er schenkt es aber
mir, weil alle Soldaten plötzlich abreisen müssen. Der Reitze-Großvater übt mit
mir das Fahren, hält dabei die Lenkstange und immer, wenn er klatscht, fahre ich
ganz allein. Irgendwann wird das Fahrrad für mich zum Ärgernis. Alle Kinder
wollen damit fahren und wollen deshalb mit mir befreundet sein. Wenn das Rad in
der Schupf steht, schleicht der Heinz, mein Cousin, ums Haus und radelt mir auf
der Hauptstraße davon.
Die Erwachsenen
haben Geheimnisse. Sie verpacken sie in Schweigen oder sie tuscheln
untereinander. „Dui kommt bald ens Kendbett“, höre ich eine Nachbarin zu meiner
Mutter sagen. Sie tuscheln hinter vorgehaltener Hand. Ich spitze die Ohren und
weiß nun, dass sie die Frau mit dem fürchterlich dicken Bauch meinen. Da soll
also ein Kind drin sein? Aber wie ist es da hineingekommen? Die Erwachsenen
schweigen.
Abends sitzt Mutter
bei mir am Bettlädle und singt mich in den Schlaf. Am liebsten singt sie „Dort
in dem Schneegebirge...“, wo der „Herzallerliebste“ nur wiederkommt, „wenn’s
schneiet rote Rosen und regnet kühlen Wein...“. Mein liebstes Lied ist „Aber
Haitschi Bumbaitschi, schlaf lange...“, wo die Mutter ihr „Büberl“ ganz
„alloanigs“ daheim lässt und nicht mehr wiederkommt und wie schließlich der
Haitschi-Bumbaitschi gekommen ist. Der hat das Büberl mitgenommen und er „hat’s
nimmer bracht...“. Ich habe Fragen: Warum lässt die Mutter das Büble allein und
kommt gar nicht mehr heim? Und wer ist der Haitschi-Bumbaitschi? Ist er lieb
oder ist er böse, wenn er das Büble einfach mitnimmt? „Mamma, sing ‘Aber
Haitschi-Bumbaitschi’“, sage ich zu ihr. Jetzt dürfe man das Lied nicht mehr
singen. Es sei ganz streng verboten. „Warum ist es verboten?“ Mutter schweigt.
Am ersten Schultag
bekomme ich eine große Spitztüte aus hell-blauer Pappe. Sie ist mit bunten
Papierblumen beklebt und heißt „Zuckertüte“. In ihrem großen Bauch finde ich
keine Süßigkeiten, sondern ein paar Sachen, die man nicht essen kann, darunter
eine Fotografie in silbernem Rahmen vom Führer, wie er lächelnd seine rechte
Hand auf die Schulter eines Mädchens legt. Das hat Zöpfe wie ich. Im Arm trägt
es eine Zuckertüte und auf dem Rücken einen Schulranzen. „Die Schule wird
bestimmt etwas sehr Fröhliches“, denke ich, denn der Führer blickt dem Mädchen
fröhlich in die Augen. Mein Schulranzen ist aus braunem Leder. An der
Schiefertafel hat Mutter zwei Schnüre mit Stofflappen befestigt, einen trockenen
und einen nassen Wischer, die man aus dem Ranzen heraushängen lässt. Der
Griffelkasten ist aus Holz und seinen Deckel kann man hin- und herschieben.
Mutter zeigt mir, wie man einen abgeschriebenen Griffel mit dem Messer wieder
spitz macht. Dann gehe ich als ABC-Schützin mit Mutter den Schulberg hinauf. Das
Klassenzimmer für die Unterklasse ist im linken Teil der Schule. Da setzt uns
der Lehrer Walcher an die langen pultartigen Holztische, die am oberen, ebenen
Teil eine Reihe Tintenfässer mit Metallklappen haben.
Nun lernen wir
grüßen. Wir müssen alle aufstehen, den rechten ausgestreckten Arm heben und
„Heil Hitler!“ rufen. Lehrer Walcher schwenkt seine Kärtchen mit Buchstaben und
Silben. Es gibt keine Fibel. Die Sitzordnung gefällt mir nicht. Ich schwätze mit
Herta in der hinteren Reihe. Lehrer Walcher steht vor mir mit blitzender Brille,
mit geschürzten Lippen und puterrot angelaufenem Kopf. Ich bekomme am ersten
Schultag eine Ohrfeige.
In der großen, der
Zehnerpause, spielen die Buben Mädchen-Einzingeln mit Garbenstricken oder wir
spielen alle Buuscht. Der Buuscht sucht und fängt die anderen im Gestrüpp der
Hohlgasse oder im Gebüsch um den Turnplatz herum. Auf dem Schulheimweg bildet
sich eine Clique. Die legt fest, wo man Verschlupferles spielt. Die besten
Plätze sind in Bäckers Schupf mit den verschiedenen Heuböden und dem vielen
Gerümpel und weil der Bäckers Ernst im Laden nicht um die Ecke gucken kann. Die
Mutigen und Furchtlosen verstecken sich in Kirchenbauers Stadl. Wir wissen alle:
da sitzt der Kirchenbauer in seinem Versteck. Er hat uns den Kampf angesagt,
denn er mag keine umgerannten Rechen und Mistgabeln und keine vom Haken
gefallenen Wannen und Körbe.
Den Platz ums
Spritzenhaus und um Kirchenbauers Backhäusle bestimmen wir fürs Fangerlesspiel.
Ganz selten fährt ein Auto vorbei und wenn, dann ist es das vom Dr. Guter oder
vom Done.
Gefährlich wird es
aber, wenn die Kirchenbäuerin über die Straße läuft mit einem vollen Backblech.
„Ihr Sau-Bagaasch!“ schreit sie. Und jedes Mal ist es für uns ein Spiel, noch
rechtzeitig vor ihr die Kurve zu kriegen.
Sie kommen aus den
großen Städten wie Berlin und Düsseldorf. Fritz und Günter verlassen Balzheim
erst nach Jahren wieder. Der Fritz lebt bei Schillers, der Günter bei
Hochbergers. Sie sind Brüder. Bei Barts ist die Helma, bei der Post-Marie die
Helga und die Brüder Heinz und Horst wohnen bei Kirchenbauers und bei Räbles.
Dann gibt es noch die Geschwister Finke, den Kurt und die Waltraud, bei
Hermanns. Anneliese, die Berlinerin, sagt „Jaul“ anstatt „Gaul“. Verduzt steht
sie vor Lehrer Walcher. Der schreit „Gaul!“. Anneliese duckt sich, nimmt das
„Gaul“ wie einen Befehl entgegen. Und wieder bringt sie nur ein „Jaul“ zustande.
Frau Pfistert ist
weggegangen. So ist Manfred der Hausherr und zeigt uns seinen Keller. Auf einem
mehrstöckigen Regal, dem Gsälzständer, ist noch so viel Platz, dass jeder von
uns sich auf einem Brett der Länge nach ausstrecken kann, wenn er sich nur
vorsichtig zwischen die Obst- und Beerengläser schiebt. Dann kracht der
Gsälzständer zusammen. Und unsere Mütter finden uns unter einem Haufen aus
Latten, Scherben und Apfelmus.
Mit Anni hüte ich
die Kühe in Müllers Mahd. Wir schaukeln in weitem Bogen an den unteren Ästen der
Fichten. Drüben am Hang sitzt Hubert mit seinen Kühen und pfeift „Lili Marleen“.
Ich steige mit Anni auf den Hochstand: Da fängt es an zu regnen. Ein
Platschregen fällt auf unsere nackten Arme. „Guck naus, d’r Himmel isch ganz
blau!“ ruft Anni. Wir stemmen uns hoch und sehen aufs Dach. Da sitzt Hubert und
pinkelt durch die Ritzen.
Im Juni gehen die
Bäuerinnen auf die Wiesen, mähen mit der Sense, der Seges, und machen Loreyen,
lange Grasreihen, oder sie gehen, wenn die Reihen abgetrocknet sind, mit der
Heugabel auf dem Rücken zum Umkehren, schichten das Heu auch auf Holzstecken. So
entsteht ein Hoiza. Der sieht ungefähr aus wie ein Indianerzelt. Wir buddeln
Türen und Fenster hinein und machen daraus ein Häuschen.
Im August ist die
Ähret. Das Kornfeld atmet sich ein in meine Erinnerung. Ich helfe auf dem Acker
beim Bänderschlagen. Nacheinander werfe ich die Garbenstricke aufs Feld, das
Ende mit dem bunten Holzklötzchen voraus. Dann legen die Erwachsenen ihre lose
Garbe hin und binden sie zusammen.
Im September macht
die Dreschmaschine die Runde von Stadl zu Stadl. Ihr Singen klingt melancholisch
und zufrieden und kündet den Herbst an. Man hilft sich gegenseitig. Mutter
bindet das Kopftuch um und geht zum „Maschinen“. Beim Vesper unterhält der
Reitze-Großvater die Frauen mit Witzen.
Im Oktober helfe
ich beim Erdäpfelklauben. Das Schlimme ist nicht das Klauben entlang der
endlosen Reihen, das Schlimme, beinahe Qualvolle ist die Erde, die an meinen
Händen festtrocknet und mir eine Gänsehaut macht über den ganzen Körper, dass
ich meine Finger krümmen muss. Nach dem Äpfel- und Birnenklauben geht man zur
Mostpresse und wartet, bis man dran ist. Überall riecht es nach Trebel, dem
ausgepressten Obst, das haufenweise herumliegt. Mutter füllt den Süßmost in
Flaschen und erhitzt ihn im Eindünstkessel. Der Sattlers-Großvater gießt den
Süßmost in ein Fass, macht im Hausgang die Falltür, die Kellerfall, auf und
trägt das Fass die Ziegelstufen hinunter in den Keller. Da wird der Süßmost
langsam zum Sußer, später zum richtigen Most. Großvater trinkt ihn jeden Abend
zum Vesper.
Die
Krautschneiderin kommt, man sagt auch: d'Riedgassere. Sie geht mit ihrem großen
Hobel unterm Arm von Haus zu Haus. Die Reitze-Großmutter heißt mich meine Füße
waschen, dann gehen wir zusammen in den Keller. Dort steige ich barfuss ins
Krautfass. Das gehobelte und gesalzene Kraut muss ich im Kreis herum festtreten,
bis der Krautsaft zwischen meinen Zehen herausdrückt und dann ganz allmählich
meine Füße überschwemmt bis zu den Knöcheln. Das ist der Augenblick, wo die
Großmutter zum Nachfüllen kommen muss. „Tuscht fescht eitrappa?!“ ruft sie in
den Keller herunter und dann mit der Krautschneiderin im Chor, dass ich „a
fleißig's Mädle“ sei.
Er trägt einen
schwarzen Schnauzbart. Sein Häuschen hat blaue Fensterläden und steht auf der
Anhöhe gegenüber der Kirche. Dort tut er zusammen mit seiner Frau den
Mesner-Dienst oder er schneidet in den Gärten die Obstbäume. Der Baumwart Rommel
repariert auch unsere Fahrräder und liebt uns großväterlich. Das geflickte Rad
übergibt er immer mit den Worten: „D's nekschde Mol besser aufpassa!“
Er hat eine
Bass-Stimme und die Enden seines Schnurrbarts hängen majestätisch tief herunter.
Immer trägt er seine blau-rote Uniform mit silbernen Knöpfen und eine Mütze mit
breitem schwarzem Lackschild. Der Bolezei ist der Gemeindediener und er
schreitet wie ein König durchs Dorf zum Ausschellen. Da und dort bleibt er
stehen und bimmelt mit seiner Kuhglocke, bis die Leute zum Fenster herausschauen
oder um ihn herumstehen. Nun klemmt er die Glocke unter den Arm, hält mit beiden
Händen ein Papier und kann es nicht leiden, wenn jemand ihm ins Blatt sieht.
Dann ruft er feierlich: „Bekanntmachung!“ Nun folgen langweilige Sätze darüber,
was Volksgenossen tun müssen oder wann wieder Lebensmittelkartenausgabe ist.
Am Rathaus gibt es
ein kleines, mit Eisenstäben vergittertes Fenster. „Wenn du et brav bisch“,
sagen die Erwachsenen, „no schperrt di d’r Bolezei ens Arrescht!“
Er ist der Großvater von
meinem Schulkameraden Oskar. Breitschultrig, massig und bärtig wie Rübezahl
tritt er aus seiner Schmiede heraus in den Hof, wo er den Gäulen neue Eisen auf
die Hufe klopft oder glühende Reifen auf die Holzräder der Fuhrwerke aufzieht.
Wenn in unserer Klasse die Buben streiten, sagt Oskar, sie könnten schon noch
was erleben, er sage es dem Großvater, der könne den Amboss mit beiden Händen
hochlupfen.
Er ist zwergenhaft
klein, von gedrungener Gestalt und er hat Asthma. Alle mögen Hans. Was Hans
wirklich denkt, das weiß man aber nie. Sein Gesichtsausdruck wechselt abrupt
zwischen verschmitzt und todernst. Bei Holderbarths in der Stube spielt Hans
Kasernenhof. Er ist der Feldwebel und der Gefreite in einer Person, brüllt und
jault Befehle, steht stramm oder marschiert mit kurzem Stechschritt im Kreis
herum. Dann legt er seine kleinen dicken Hände an die Hüfte und lässt sich
stocksteif zu Boden fallen. Da bleibt er eine Weile regungslos liegen, steht
schließlich wieder auf und schnaubt hingebungsvoll und grinsend. Wenn es Beifall
gibt, beginnt Hans das Kasernenhofspiel von Neuem.
Bei ihm holen wir
in der Pause die Brezg für vier Pfennig oder dasVogges, ein Doppelbrötchen, das
an den Längsseiten ohne Krusteist. Es ist Samstagvormittag. Die Mutter hat ein
Zwetschgenplatz gemacht. Das trage ich zu Bäckers, stelle es in der Backstube,
der Bachkuche, auf den Fliesenboden zu den anderen Kuchen, die in runden und
rechteckigen Blechen warten, bis der Ernscht leicht hinkend mit der großen
Schaufel kommt und anfängt, den Boden wieder freizumachen. Die Tür geht auf, ein
Bub kommt hereingerannt. „Ja du Heilandsaggerment!“ schimpft Ernst, denn der Bub
steht barfuss mittendrin in einem runden Obstkuchen.
Ihn umgibt die Aura
des Genies. Für den Hochberger bedeutet das: die einen begegnen ihm mit
Ehrfurcht, andere wieder mit Misstrauen oder gar mit Spott. Als erster im Dorf
besitzt der Hochberger eine Mähmaschine und einen Traktor. Wenn er nicht gerade
damit fährt, sieht man ihn in seinem Hof an den Maschinen herumtüfteln. Einmal
hat die Hochbergerin den Stubenboden zu glatt gebohnert. Hochberger rutscht aus,
schlägt mit dem Kopf auf, dann schreitet er zur Strafe: Er füllt den Schubkarren
mit Kies und beginnt, sich durchs Haus einen Weg zu streuen.
Im Nestle zeigt die
Wanderfilmbühne einen Bergfilm.
Hochberger sitzt
direkt vor der Leinwand auf seinem mitgebrachten Feldstuhl. In der Pause nach
„Fox Tönende Wochenschau“ schimpft er: „D’ Politik isch a Hur!“ Wenn der
Hauptfilm läuft, staunt Hochberger über die Schneegipfel und die blühenden Almen
und jammert: „Was isch doch d’r Mensch.“
Sie ist die
Hebamme. Als einzige der Dorfgestalten wohnt sie nicht im Dorf. Zu den Geburten
kommt sie mit dem Fahrrad aus Wain, tritt dabei lächelnd und gelassen die
Pedale, als halte sie im Fahren ihre Andacht. Sie hat streng zurückgekämmtes
Haar und am Hinterkopf einen großen, geflochtenen Dutt, das Nescht. Wenn ’s
Fräulein Kobler vor einem Haus vom Fahrrad steigt und ihr Köfferchen vom
Gepäckständer nimmt, laufe ich zu ihr hin und suche ihr Lächeln. Es ist das
Lächeln einer Klosterfrau, fein dosiert und weise. Und wenn sie mit mir spricht,
klingt ihre Stimme wie ein Wiegenlied.
Er ist der Lehrer
für die Oberklasse. Das sind die Klassen drei bis acht.
Es ist Montagmorgen
und Häußler ist schlecht gelaunt. Er kommt mit blassem Gesicht und weißem Kittel
ins Klassenzimmer. Das bedeutet: Erste Stunde Rechnen. Unter der Tafel auf dem
Kreidebrett lauert der Haselnuss-Stecken auf seinen Einsatz. Von der
Buben-Bankreihe her flüstert mir Walter einen lustigen Vers ins Ohr. Der hat
etwas zu tun mit dem Hermann Göring und einem Hering und ich bin dabei, den Vers
auswendig zu lernen. Häußler nimmt drei Sätze zu mir hin, lautlos wie ein
Panther. Er lässt mich meine Hand ausstrecken, Innenfläche nach oben, und setzt
den Hieb direkt auf die Finger. Das ist das höchste Strafmaß bei einer Tatze.
Der Gerechtigkeit halber soll auch Walter bestraft werden. Vorne beim Pult muss
er sich - Bauch nach unten – über eine Schulbank legen. Nun stört die Lederhose.
Ungefähr beim dritten Hieb bricht der Stecken auseinander. Lehrer
Häußler holt sofort den Ersatzstecken aus dem Pult und besorgt den restlichen
Hosenspanner auf die Schenkel.
Wenn es draußen
warm ist, trägt Häußler kurze Hosen. Er setzt sich direkt vor uns auf die Bank,
schiebt den Zeige-Stecken in die Kniekehle, hält sich an den beiden Enden fest
und balanciert gemütlich hin und her. Er nimmt sich Zeit, er hört in uns hinein.
Keiner von uns Schülern ist ihm gleichgültig. Für die siebte und achte Klasse
richtet er zusätzlich das Fach Französisch ein. Er lässt uns an
Märchenwettbewerben teilnehmen. Wir sollen uns als kleine Autoren fühlen. Gudrun
bekommt den ersten Preis.
In seiner Freizeit
kümmert sich Lehrer Häußler um die Balzheimer Geschichte, beginnend mit dem
„Hain des Baldur“, später „Baldeshain“, bis hin zu „Balzheim“. Wir lernen, dass
das Illertal von riesigen Gletschern gemacht wurde. Die haben sich unendlich
langsam vorwärts geschoben von den Alpen bis zur Schwäbischen Alb. Hinterlassen
haben sie die Seiten-, Grund-und Endmoränen.
Lehrer Häußler
steigt mit uns auf die Ringburg, zeigt mit dem Stecken hinunter auf den im Kreis
laufenden Graben. Die Ringburg sei früher einmal eine Römerburg gewesen und der
Grenzwall der Limes. Und der sei direkt an Balzheim vorbeigelaufen, der Iller
entlang bis hinunter ins Unterland.
Lehrer Häußler ist
in Langenau bei Ulm aufgewachsen. Einmal höre ich ihn zu meinem Vater sagen:
„Von Balzheim möchte ich nicht mehr weggehen.“
„Nähre“ bedeutet
„Schneiderin“. Man sagt „Hubers Nährena“ und meint damit das gehörlose
Zwillingspaar in mittleren Jahren. Die eine der Taubstummen, die Lisbeth, ist
von gedrungener Gestalt, hat dünnes, weißes Haar. Am Hinterkopf kringelt sich
ein hauchdünnes Zöpfchen zu einem winzigen Nest. In Lisbeths dickem Gesicht gibt
es drei Schlitze: zwei zusammengekniffene Augen und einen Strichmund mit tief
herabhängenden Mundwinkeln. Lisbeths Stimme verwandelt sich in ein beleidigtes
Knurren, wenn Mutter ihr die Worte nicht vom Mund ablesen kann. Dann muss
Sattlers Großmutter geholt werden. Die kennt sich nicht nur aus in der
Behandlung von allerlei Krankheiten, sie versteht auch die Sprache der
Taubstummen.
Katharina, die
andere der Schwestern, ist die sanfte. Ihre Taubstummensprache zelebriert sie
behutsam, mit weichen Händen und ängstlicher Altstimme, als wolle sie sich
entschuldigen.
Im Dorf sagt man,
Lisbeth wiege zu Hause die eingekauften Lebensmittel ab, für jede der Schwestern
die gleiche Menge.
Zusammen mit Lore
und Liesel beschließe ich, Lisbeth zu ärgern. Wir sitzen hinterm Zaun in Hubers
Gängle und werfen Steine in ihren Garten. Lisbeth stürzt schnaubend und mit
hängenden Mundwinkeln aus dem Haus, sammelt die Steine ein und schleudert sie
gegen unser Versteck. Katharina, die Sanfte, bleibt hinter der Fensterscheibe
stehen. Doch Lisbeth scheint sich dauerhaft zu rächen. Sie erscheint nachts in
meinen Träumen, hat sich einmal hinter dem Ofen, das andere Mal hinter dem
Vorhang versteckt und springt hervor mit listigem Augenzwinkern,
um mich unaufhörlich und qualvoll zu kitzeln.
Er ist überhaupt
kein Mensch, aber mindestens ein Ungeheuer, das im Wald in irgendeinem Keller
wohnt und die Kinder holt, wenn sie nicht folgen wollen. „Jetz isch aber Zeit
ens Bett, sonscht kommt d’r Nachtfugeler!“ sagt die Reitze-Großmutter. Den
Nachtfugeler stelle ich mir so vor: Er ist riesengroß, geht auf zwei Beinen und
hat einen pechschwarzen Hundekopf mit glühenden Augen unter einer roten Kapuze.
Flüchtlinge kommen,
fahren ins Dorf ein auf langen Pferdeschlitten, vermummt in Decken und eng
aneinandergekauert. Sie kommen aus den bombardierten Städten, sie kommen mit dem
großen Treck aus Ostpreußen und Pommern, sie kommen aus Böhmen, Mähren und
Siebenbürgen.
Mit der
Reitze-Großmutter gehe ich ins Rathaus. Da stehen die Flüchtlinge als trostlose
Menschenknäuel den Balzheimern gegenüber. „I möcht des Mädle mit de lange Zöpf“,
sage ich zu Großmutter. Das Mädle heißt Gerda. Sie kommt zusammen mit der Mutter
und den Großeltern aus dem bombardierten Ludwigshafen. „So viel Leit kennet m’r
et braucha!“ schimpft Großmutter. Inzwischen habe ich mich mit Gerda schon
ange-freundet. Großmutter schmunzelt misstrauisch. Das bedeutet: einverstanden.
Zuerst fragt mich Gerda, ob mein Vater schon gefallen sei. „Meiner ist schon
tot“, sagt sie und zeigt mir sein Foto.
Mutter weckt mich
nachts aus dem Schlaf, zieht mich an und steigt mit mir auf den Burschlet. Über
Dietenheim flackert der Himmel in grellem Rot und Gelb. „Jetzt brennt ganz Ulm“,
sagt Mutter und hält mich fest an der Hand. Dann weint sie, die Tante Hilde
müsse jetzt durchs Feuer rennen. Ich will mir da nicht vorstellen und staune das
gelbrote Geflacker an wie ein Feuerwerk.
Auf der Straße höre
ich das Traben von Pferden. Mutter, Tante Frieda und Großmutter kommen aufgeregt
angesprungen und sehen durch das Fensterglas der Haustür. Draußen halten
Pferdegespanne. Die Wagen sind bogenförmig überdacht mit Planen. Nun tribbeln
die Pferde auf der Stelle, wiehern und schütteln ihre Mähnen. Die Baronen kommen
heim! Langsam begreife ich, dass sie nur noch bis zum Oberbalzheimer Schloss
fahren müssen und aus dem Märchen weiß ich, dass zu einem Schloss eine
Prinzessin gehört. „Do hot grad oine zom Waga raus-gucket!“ ruft meine Mutter
und nun streitet sie mit Tante Frieda darüber, ob das nun die Baroness Ria, die
Baroness Gudrun oder die
Baroness Eva gewesen sei. „I kenn doch d’ Ria!“ sagt Mutter, „die isch mit mir
konfirmiert worda!“
Mutter erklärt, sie kämen aus Posen mit dem
großen Treck. Da hätten sie ihr Gut zurücklassen müssen. Aus einem Wagen steigt
eine junge Frau in Reitstiefeln. Sie hat ein energisches Kinn und trägt das
glatte, blonde Haar halblang. „Die Baroness Eva!“ ruft Tante Frieda. Ich bin ein
Stück mehr zufrieden, denn das ist ungefähr ein Prinzessinnengesicht und
Baronessen tragen eben Reitstiefel.Mit
dem Wort „Baroness“ bin ich einverstanden. Es klingt so ähnlich wie „Prinzess“.
Aber warum hat die Baroness kein langes, blondes
Die Sonne strahlt
warm, hüllt das ganze Dorf in laue Luft. Doch dieser Luft ist etwas beigemischt:
etwas, das man ein- und ausatmet, worüber man aber nicht spricht. Meine Mutter
kleidet die Großeltern ein wie zum Kirchgang. Großvater trägt über dem Anzug
noch den dicken schwarzen Wintermantel, ich trage meinen dunkelblauen mit
Pelzkrägelchen. So gehen wir - Mutter, die Großeltern, Tante Frieda und ich -
hinauf auf die Bühne. Da versteckt Mutter ihren Schmuck unter dem Bretterboden.
Nun stehen wir am offenen Bühnenfenster und warten. Aus den Häusern hängen weiße
Fahnen. Ich kenne nur die schwarz-weiß-rote mit dem Hakenkreuz. So sieht auch
meine Kinderfahne aus. Wo ist meine Kinderfahne?! Sie ist auch nicht mehr da.
Aus Richtung
Dietenheim höre ich ein fremdes Motorengeräusch, ein drohendes, lauter werdendes
Brummen. „Jetzt kommet se!“ schreit jemand auf der Straße. Unten auf dem Platz
sammelt sich ein Haufen Leute. Jetzt müsse der Ortsgruppenleitervorausgehen und
sie empfangen, sagt meine Mutter. Aus dem drohenden Brummen wird ein
ohrenbetäubendes Dröhnen. Dann rücken sie näher: Riesenfahrzeuge wie
olivfarbene, träge Raupen. Der Platz färbt sich oliv und das Oliv kriecht in
alle Straßen, in alle Höfe und Gassen. Ein Panzer hält vor
unserem Haus. Bestimmt haben die ganz schwarze Gesichter, denke ich. Ich habe
Angst. Aus der Panzerluke taucht ein Kopf auf mit Stahlhelm. Ich staune: der
Mann hat ein mir vertrautes Gesicht. Das blickt mich traurig an und scheint zu
sagen: „Ich bin ein ganz normaler Vater.“
Nun traue ich mich hinters
Haus, mache einen Satz über den Hof zum Plumpsklo. Ich verriegle die Tür, spicke
durch die Bretterritzen und sehe, wie ein paar Amerikaner
- geduckt und Gewehr im Anschlag - ums Haus herumschleichen, ganz nahe vorbei an
meinem Versteck. Noch hat keiner an der Aborttür gerüttelt. Doch ich fühle mich
als Gefangene. Als sie verschwunden sind, befreie ich mich selbst, renne in die
Stube und verstecke mich hinter der offenen Tür, bis mich die Großmutter findet.
Am anderen Morgen
kommen sie in die Küche, freundlich, hochgewachsen, mit federndem Schritt, der
aus der Hüfte kommt. Sie hängen herum, stützen sich ab, lehnen sich an, haben
ihre Zigarette im Mundwinkel oder kauen Kaugummi, während ihre Sprache auf einem
ganz breiigen „R“ dahingleitet. Doch alles schwingt in lässigem Gleichklang. Ich
spüre darin Freundlichkeit und ebenso das Gebieterische. Ich fühle den Charme
einer fremden Welt.
Nun gestikulieren
sie lachend mit der Großmutter. Winzig klein und verloren steht sie mitten unter
ihnen, schüttelt verneinend den Kopf. Dann gehen sie alle zusammen in den Keller
und kommen wieder mit Großmutters selbstgemachtem Holunderschnaps. Großmutter
bekommt ein Gläschen voll eingeschenkt und darf ihnen zum Abschied zuprosten.
Dann fahren sie in ihren Jeeps davon und lassen die Beine heraushängen.
Im Dorf beginnt das
große Wandern. Das Försterhaus vom Förster Bosch verwandelt sich zum Lazarett
der Amerikaner. Aus dem Haus der Reitze-Großeltern wird eine Feldküche. Hier
kochen und backen sie mit Großmutters gutem Geschirr und Tafelsilber. Einmal
findet Großmutter ihre silbernen Gabeln auf der Miste, weggeworfen mit den
Essensresten.
Die
Reitze-Großeltern sind umgezogen samt ihrer Ludwigshafener Flüchtlingsfamilie.
Sie haben sich in dem garagenförmigen Teil von Schmieds Stadl einquartiert, wo
auch die Schmieds Frieda und ihre Schwester Marie mit Tochter Irene wohnen. Der
Stadel ist Wohnraum und Küche in einem. Den Herd feuert man mit Holz und für den
Rauchabzug lässt man das Tor offen. So kann man alle drei Familien versorgen.
Geschlafen wird im Heu auf der hinteren Seite des Stadls. Da liegen Betten und
Decken kreuz und quer herum. Nun kann ich wählen zwischen Schlafkammer und
Stadl. So übernachte ich bei den Großeltern im Heu.
Im Nestle sind bis
auf die Küche alle Räume vollgestellt mit Liegen: die Wirtsstube samt
Nebenzimmer und auch der Saal im oberen Stockwerk.
Durchs offene
Fenster sehe ich einen sehr jungen Amerikaner. Der liegt auf einer Pritsche und
spielt auf seiner Mundharmonika. Dann steht er auf, kramt in seinen Hosentaschen
und schenkt mir ein Päckchen Kaugummi. Einmal schiebt er lachend ein flaches
Etwas durchs Fenster. Ich ziehe das Papier ab und halte in der Hand eine kleine,
dunkelbraune Tafel. Die kann man essen. Zum ersten Mal esse ich Schokolade.
Wenn die Amerikaner
ihre leergegessenen Bleche zum Spülen in Nestles Hof tragen, wittern wir den
Bratenduft noch in der hintersten Ecke des Dorfes. Mit anderen Kindern lese ich
die weggeworfenen Schlüssel der Konservendosen auf und kratze damit die Reste
von den Blechen. Wir schmecken fremde Gewürze, die uns noch hungriger machen. So
streiten wir uns jeden Tag um Schlüsselchen und Bleche.
Wir haben keine
Schule. Der Dorfalltag scheint begraben unter dem Treiben der Amerikaner. Nur
abends hole ich wie immer die Milch beim Käser. Ich nehme die
Zweiliter-Milchkanne vom Haken und gehe die Abkürzung durchs Gängle in die
Sterngasse, wo die Käserin geschäftig die großen Milchkannen, die Millbonta der
Balzheimer Bauern, hin- und herkreiseln lässt und „jo wegger!“ schimpft, wenn
wir vor der Ladentür im Hof unsere Hüpfspiele machen und dabei eine volle
Milchkanne umkippt. Außer der Milch kann ich beim Käser nichts kaufen.
Bei Anni erfahre
ich, was Butter ist und wie sie schmeckt. Wir sitzen zusammen in der Küche und
drehen abwechselnd am Hebel eines hellgrünen Holzkastens. Der enthält Rahm von
Annis Kühen und wie an einer Drehorgel müssen wir endlos lange drehen, bis im
Inneren des Kastens ein Klumpen Butter in der Molke schwimmt. Ich kenne eine
einzige Käsesorte. Großmutter sagt dazu „Healeskäs“, Mutter nennt es „Quark“.
Zubereitet wird er so: Großmutter Reitze lässt die Milch im Topf sauer werden.
Dann gibt es zuerst Dickmilch, die Schlottermill, und daraus entwickelt sich
nach einigen Tagen etwas Bröseliges, das man zu Erdäpfeln in der Schale isst:
der Healeskäs.
Die
Reitze-Großmutter rennt den Trippel herunter, kommt mir entgegen und macht das
Gesicht, das sie immer macht, wenn der Osterhase gelegt hat. „Was denksch, wer
komma isch?! D’r Babba!“ D’r Babba sitzt in Großmutters Stube auf einem Stuhl.
Vor der Türschwelle bleibe ich stehen. Die wächst vor mir hoch zu einer
unsichtbaren Mauer, durch die mir ein fremder Mann entgegenstrahlt, jung und
aufregend wie der große Bruder, den ich mir so sehr wünsche. Nur die blauen
Augen scheinen mir vertraut, darüber wuchert schwarzes Kraushaar, es wuchert an
Armen und Waden und quillt aus dem offenen Hemd. In Vaters Lachen liegt blanke
Freude und etwas wie Kampfeslust und Aufbruch. Nun nimmt er mich auf sein Knie,
umarmt mich und fragt, in welcher Klasse ich sei. Ob ich auch eine fleißige
Schülerin sei. Die Frage macht mir Angst und ich sage einfach „ja“, erzähle von
der Schule, denn Vater ist ein guter Zuhörer.
Aber nun höre ich
seine eigene Geschichte, wie er sich zu Fuß von Köln bis Balzheim
durchgeschlagen und in den Wäldern und auf Bauernhöfen versteckt habe vor den
Besatzungstruppen, einmal vor den Engländern, dann wieder vor den Amerikanern.
Nun habe ich
richtige Eltern. Wenn sie sich im Haus begegnen, bleiben sie im Türrahmen stehen
und küssen sich.
Vater soll ins
Schulhaus gehen, da bekomme er einen Pass, höre ich meine Mutter sagen. Vor dem
Weggehen fasst mich Vater an mit unerbittlicher Strenge: „Gang mir ja nicht mehr
en Neschtl nei zu dem amerikanischa Kerle mit d’r Mundharmonika!“ Ich verspreche
es ihm und begleite ihn bis vors Schulhaus. Später sehe ich ihn auf dem Platz in
einen offenen amerikanischen LKW steigen. Da sitzt er zusammengepfercht mit
anderen Kriegsheimkehrern und fährt davon.
Nach Tagen kommt
eine Frau aus Ulm und erzählt, Vater sei in amerikanischer Gefangenschaft in
einem Camp hinter Stacheldraht. Sie könne ihm aber etwas zum Essen durchgeben.
Wochen vergehen. Es
ist Sommer und ich bin bei meiner Lieblingsbeschäftigung, dem Herumstreunen. Auf
dem Illerdamm humpeln mir langsam zwei Gestalten entgegen, abgemagert, in Lumpen
gehüllt und barfuss. Sie tragen Bärte. Die eine der Gestalten ist Vater, die
andere sein Vetter, der Habdanks Hermann. Vater lacht. Er lacht wieder sein
strahlendes Heimkehrerlachen - ganz für mich allein - und sagt, er müsse jetzt
nie mehr fortgehen.
Nach langer Pause
gehe ich wieder in die Schule. Jetzt müssen wir vor dem Unterricht nicht mehr
„Heil Hitler!“ rufen, sondern„Grüß Gott, Herr Lehrer!“ Das klingt komisch. Der
Lehrer ist schließlich kein Nachbar!
Während der
Schulstunden sind wir oft mit dem Lehrer beim Sammeln. Auf den Äckern gehen wir
in Reihen und sammeln die gelb-schwarz-gestreiften Kartoffelkäfer und ihre
fetten, roten Larven in unsere Gläser. Im Wald sammeln wir Bucheckern, die
Buchela, auf den Wiesen den Spitzwegerich, die Blüten der Taubnessel und
Pfefferminze. Die Stoppelfelder suchen wir im Herbst ab nach liegengebliebenen
Ähren und binden sie zu kleinen Sträußen. Das nennt man „Ährenlesen“. Alles
Gesammelte müssen wir abliefern.
Man spricht jetzt
nicht mehr vom Krieg, sondern vom Hunger und der großen Not. Mit der Reichsmark
können wir fast garnichts mehr kaufen. Die Erwachsenen sagen, die Städte im
ganzen „Deutschen Reich“ seien zerstört worden durch Fliegerangriffe, viele
Menschen seien umgekommen in den Luftschutzkellern. Ulm sei ein einziger
Trümmerhaufen, Stuttgart auch. Aber das Ulmer Münster - das hätten sie stehen
lassen. Es sei halt sehr beschädigt. Tante Hilde aus Ulm und meine Stuttgarter
Tante Regine mit Familie haben das Bombardement überlebt.
Die Städter ziehen
mit dem „Hausknecht“ durchs Dorf, wir nennen es „Hamstern“. Der Hausknecht ist
das erste Fahrzeug, das nach dem Krieg gebaut wird: ein pritschenartiges
Wägelchen mit einer Ladefläche aus Holzlatten und einer Deichsel zum Ziehen. Auf
den Hausknecht lädt man die Gaben der Bauern wie Kartoffeln, Mehl und
Schweineschmalz. Oft haben die „Hamsterer“ dafür eine Zeitlang auf den Feldern
gearbeitet.
Die Städter kommen
in Scharen. Der Hunger treibt sie aufs Dorf, sie fallen ein in unsere Wälder,
finden die Heidelbeeren und Pfifferlinge selbst an den geheimsten Plätzen und
ernten alles kahl. Darüber ärgere ich mich, denn nun brauche ich beim
Sammeln eine Ewigkeit, bis die Heidelbeeren am unteren Rand der Milchkanne
sind.
Bäckers Ernst backt
nun das Brot aus Maismehl. Es ist goldgelb und schmeckt mir besser als das
Schwarzbrot. Bei Anni in der Waschküche werden die Zuckerrüben in einem
brodelnden Sud zu Sirup. Den essen wir als Brotaufstrich.
Mutter färbt den
Stoff der Hitlerfahne um. Aus dem Weiß und dem Rot entsteht ein Violett und ein
Lila. Tante Frieda näht mir daraus ein Dirndl. Ich habe Dirndl aus geblümtem und
kariertem Bettzeug und nun auch noch aus Fahnenstoff. Seitdem mag ich kein
Dirndl mehr tragen. Aus Vaters Fallschirmseide bekommt Mutter ein paar schicke
weiße Blusen. In seinen Stahlhelm bohrt Vater ein Loch, steckt einen Holzstiel
hindurch und hat nun einen Schöpfer, die Schapf, zum Leeren der Abortgrube. Die
Balzheimer nennen es das Lachaloch.
Die Zeitung ist
voller Tauschanzeigen. So bekomme ich mein erstes Paar Halbschuhe. Sie sind aus
dunkel- und hellbraunem Leder gemacht und ich bin ungeheuer stolz: Kein anderes
Kind im Dorf hat zweifarbige Schuhe wie ich! Es sind meine Sonntagsschuhe, aber
der linke drückt qualvoll. Ich sage darüber kein Wort, denn ich habe Angst,
Mutter könnte mir die Schuhe wegnehmen. Jeden Sonntag ertrage ich heldenhaft
meine Schmerzen. Seitdem habe ich am linken Fuß einen plattgedrückten kleinen
Zeh.
Wenn der Winter
kommt, haben wir in der Schule Kohleferien. Es fehlt an Heizmaterial. Das
bekommt man spärlich vom Rathaus zugeteilt. Im Frühjahr liegt das Holz und
Tannenreisig in den Höfen. Überall wird auf Baumstümpfen, den Hackstotzen,
gehackt und gescheitet. Die Großmütter und Mütter knüpfen das Reisig zu Bündeln.
Die nennt man Wellen. Mit den Wellen machen wir Feuer im Küchenherd oder im
Kachelofen, bevor wir die Holzscheite und danach die Briketts hineinlegen.
Mutter wirft Körbe
voller Holzscheite in den oberen Stock der Schupf. Ich klettere über die
Katzenleiter hinauf. Vater zeigt mir, wie man die Scheite sauber ineinander
verzahnt und wie eine gerade und keine krumme Beige entsteht. Ich fürchte mich
vor seinen regelmäßigen Kontrollen.
Vater beginnt eine
Hasenzucht. Die Ställe sind hinter der Schupf direkt unter dem Starenkasten.
Rechts daneben ist die Miste mit dem Holunderbusch und dem alten Zweiräder. Hier
habe ich mein geheimes Blätterhaus und hier esse ich immer den in Habdanks
Garten gestohlenen Jakob-Fischer-Apfel.
Mein Lieblingshase
heißt „Muckl“ und ist schwarz-weiß-gefleckt. Mit dem kleinen Leiterwagen hole
ich das Hasenfutter, suche entlang der Feldwege und auf Grasnaben nach
Löwenzahn. Mutter nennt die fetten Blätterbüschel Milchstöcke.
Am Sonntag soll es
Hasenbraten geben. Vater verspricht mir, den Muckl nicht zu schlachten. Dafür
muss ein brauner Hase sterben. Vater hängt ihn mit dem Kopf nach unten an die
Hüttentür und zieht ihm das Fell ab.
Deutschland wird
eingeteilt in Zonen: die amerikanische, die englische, die französische und die
russische. Die Amerikaner räumen das Dorf, ziehen aber nicht weiter als bis
Dietenheim. Wenn ich etwas aus der Dietenheimer Apotheke holen muss, dann steige
ich bei der Wirtschaft „zur Stadt“ vor einem rot-weißen Schlagbaum vom Fahrrad.
Hier zeige ich meinen Passierschein, dann kann ich weiterfahren.
Eines Abends kommen
Franzosen ins Haus und holen unsere Wolldecken, die in der Mehltruhe versteckt
waren. Mutter und Großmutter schimpfen hinterher.
Trauer liegt über
dem Dorf, eine Trauer, die man miteinander teilt, ein Schmerz, der alle
verbindet. Die Franzosen sind gekommen, den Wald abzuholzen. So versündigen sie
sich nicht nur am Wald, sie versündigen sich auch an den Balzheimern, vergehen
sich an ihrem Mythos, dem Burschlet. Jahrhundertealte Fichten fallen. Über dem
Dorf erhebt sich der Burschlet als ein kahler Buckel. Wir stehen trauernd
zwischen den Baumstümpfen. „Was die Franzosen genommen haben, kann die Natur
wieder zurückgeben“, sagt man uns in der Schule. Aber die Natur braucht Zeit.
Sie braucht so lange, bis wir erwachsen sind.
71
Mit einem Bezugschein
kann man verschiedene Sachen kaufen. Man nennt sie Waren. Das sind Dinge, die
morgen anders aussehen können als heute und die immer neu sind. Mutter fährt mit
dem Fahrrad nach Ulm zur Firma Abt. Abends kommt sie abgekämpft und erschöpft
heim. Auf dem Gepäckträger hat sie ein großes Paket mit Holzkochlöffeln und
kleinen Schälchen aus Glas, außerdem einen Ballen braun-weiß-karierten Stoff aus
holzigem Gewebe. Davon macht Tante Frieda lauter gleiche Glockenröcke für ihre
Kundschaft.
Die Wolle ist aus
einer stacheligen weißen Faser gemacht. Man bringt sie zu Frau Kutter. Die
strickt uns Pullover, Jacken und Strümpfe auf ihrer Strickmaschine. Später
werden die Wollstränge farbig. Ich bekomme von Frau Kutters Strickmaschine ein
paar dicke graue Strümpfe. Die haben am oberen Ende einen Knopf, mit dem ich sie
an den Strapsen befestige. Die Strapse wiederum bestehen aus einem grauen,
vielfach gelochten Gummi, der an meinem gehäkelten Trägerleibchen, dem Leible,
hängt. Die Strümpfe kratzen. Man sagt: sie beißen. Und sie beißen so
fürchterlich, am allermeisten am Sonntagmorgen nach dem Füßewaschen, so dass ich
mit stocksteifen Beinen die Treppe hinaufsteige.
Im Laden gibt es
Zückerla, bunte Bonbons in großen Gläsern. Es gibt auch Lindes Kaffe und
Sanella. Die Zigaretten heißen Zuban, Roxi und Golddollar. Fast jeden Tag stehen
volle Pappkartons herum und verheißen Arbeit.
Die Arbeit wird
mehr und mehr und frisst die Zeit. Mutter erzählt kaum noch Geschichten. Nun
redet sie im Laden viel mit den Leuten, weil sie Geld verdienen muss.
Der Herbstwind jagt
Staub und Blätter durch die Straße. Es kommt ein langer Zug von Pferdewagen.
Eine alte Frau hält die Zügel. Die Zigeuner sind da! Schnell noch will Mutter
die Haustür verriegeln. Die Zigeuner sind schneller. Frauen in farbigen Tüchern
drängeln sich in den Laden. Im Hausgang steht groß und stolz die
alte Zigeunerin. Meine kleine Großmutter kommt aus der Küche gelaufen, lächelt
scheu hinauf in die schwarzen Augen der Zigeunerin. Zwei Großmütter stehen sich
gegenüber, verharren sekundenlang im Schweigen. Dann sagt die alte Zigeunerin:
„Oh Muater, s’wird kalt, d’ Zigeuner kommet wieder.“
Wir haben Besuch
aus Dietenheim: Tante Marie mit Elisabeth. Die ist meine Cousine, hat eine
Stupsnase und ihre Zöpfe hoch-gebunden zu „Affenschaukeln“. Elisabeth ist drei
Jahre älter als ich. Ich bewundere sie, weil sie mir immer etwas Neues zu
erzählen hat. Tante Marie und meine Mutter tuscheln am Küchenherd. Elisabeth
steht dabei und hört zu. Ich sitze hinterm Küchentisch. Elisabeth kommt auf mich
zu, zieht sich an der Tischkante hoch, robbt sich mühsam über die Tischplatte.
Nun sind wir Gesicht an Gesicht. Sie blickt mir streng in die Augen und sagt:
„Mei! Heit isch a Tag! En Nürnberg werret se alle g’henkt!“
Vater liebt Goethes
Werke und davon besonders den „Faust“. Wenn er abends in seinem Bett vorliest,
kuschle ich mich zwischen ihn und Mutter ins Gräbele. Von den vielen Bildern
fasziniert mich das von der Hexenküche, wo unflätige Meerkatzen den Erdball
herumkegeln. Vater erklärt mir, der Faust komme schließlich doch noch in den
Himmel - und warum? Weil er ein Gewissen gehabt habe.
Jede Woche kommt
eine Zeitung mit vielen schwarz-weißen Fotografien. Man sagt dazu Illustrierte.
In der linken oberen Ecke ist ein Stern und „Stern“ heißt auch die Illustrierte.
Irgendwo auf den hinteren Blättern finde ich meine Geschichten vom „Kohlenklau“
und vom Prinz Eisenherz. Der Kohlenklau trägt immer eine schwarze Augenklappe
und einen Sack voller Kohlen auf dem Rücken. Prinz Eisenherz hat eine schwarze
Pagenfrisur und muss jede Woche neue Abenteuer bestehen. Die Bilder sind ohne
Geschichte. Längst habe ich begriffen: sie sind die Geschichte selbst. Was die
Leute sagen, steht im Bild auf einem weißen Fleck. Die
Wanderfilmbühne kommt ins Dorf mit dem Stummfilm „Der gestiefelte Kater“. Mit
Lehrer Häußler gehen wir in den Nestle. Bei einem Film - das habe ich schon
einmal gehört - können die Bilder laufen. Aber wohin? Und können die Leute aus
den Bildern herauslaufen? Mit Herzklopfen sitze ich auf einer der aufgeklappten
langen Bänke. Die Fensterläden sind geschlossen, die Vorhänge zugezogen. Der
Saal ist verdunkelt. Ganz vorne sehe ich auf einem Gestell die aufgerollte weiße
Leinwand, etwas größer als unsere Schultafel. Die Spannung wird unerträglich,
denn jetzt lässt der Vorführer hinter mir den Filmapparat surren. Aus der
Leinwand wird plötzlich eine Tür. Ich könnte in das Bild hineingehen bis hin zu
dem Bänkle vor der alten Mühle, wo der Müllersbursch sitzt mit seinem klugen
weißen Kater. Der bekommt Stiefel, läuft später in seinen Stiefeln vergnügt
hinter einer Postkutsche her und winkt den Bauern zu, die auf dem Kornfeld
arbeiten. Die Bauern winken zurück. In der Ferne sieht man das Schloss des
Zauberers. Wenn der Kater seinen Mund zum Sprechen bewegt, hört man Lehrer
Häußlers Stimme. Der sitzt mit der einen Po-Hälfte auf einem Wirtshaustisch
hinter mir. Das Märchen geht zu Ende, die Leinwand wird zu einem blinden weißen
Auge. Ich sehe mich hinausgeschleudert ins grelle Tageslicht.
Vater ist im
Musikverein. Er besitzt ein Schlagzeug, eine Mandoline und eine Ziehharmonika.
Mit Hans, der Geige spielt, und mit Hermann hat er oft geübt in Habdanks Stüble.
Mit seinem Vetter Dolf und anderen spielt er zum Tanz auf, wenn Hochzeit ist im
Nestle.
Es herbstelt. Die
Tage werden kürzer und im Zipfel brennen schon die Lichter. Mit Vater gehe ich
die Berggasse hinauf zum Hirtenhaus. Vater ist auch im Theaterverein. Da gibt es
die Martha und den Lude, den Ernst, den Gustl, die Elies, den Bib und die Berta,
die Trudel, die Erika, den Otto, die Barts Erna und den Karl, den Emil und die
Emma, die Holders Erna und die Lore. Die beiden singen und jodeln zu ihrem
Zitherspiel. Da gibt es auch den Schorsch mit der Ziehharmonika,
die Wegmanns-Brüder und die Steigrommels-Brüder.
Das
Hirtenhaus-Stüble hat eine niedere Holzdecke. Im kleinen Eisenofen neben der Tür
bullert das Feuer. Aufgereiht wie die Glieder einer Kette sitzen die
Theaterspieler entlang der Wand am langen Tisch. Es ist Leseprobe. Vater
unterbricht gelegentlich und korrigiert die Betonung.
Wenn Vater abends
aus dem Haus geht, sitzt Mutter allein in der Stube und nadelt an ihrem
Strickzeug. „Du bisch koin Obed me dohoim“, jammert sie. Vater tröstet. Ich höre
sein Lieblingswort: Kameradschaft.
Am zweiten
Weihnachtstag geht man in den Nestle ins Theater. Und der Nestle wird zum
Bienenhaus, denn die Besucher kommen auch aus den Nachbarorten. Leute ohne
Sitzplatz stehen bei Max am Ausschank neben der Flügeltür, die unermüdlich auf-
und zuschlägt. Wenn Vater vor den Vorhang tritt und die Begrüßungsrede hält,
bekommt Mutter ein hochrotes Gesicht, ist außer sich vor Freude und ihre Hände
zittern. Ich schleiche mich wieder hinter die Bühne. Da wartet Martha mit
rotgeschminkten Wangen nervös auf ihren Auftritt. Einer steht an einem großen
Blech und macht - wenn er dran ist - den Donner. Ein anderer zieht den
Theatervorhang auf oder zu.
Mäuschenstill sitze
ich zwischen Kostümen, Werkzeugen, Rollenbüchern und Schminktöpfen. Ich habe ein
starkes Gefühl Für dieses Gefühl habe ich keinen Namen. Aber ich will es
festhalten und wenn es mich verlassen wird, dann werde ich mich aufmachen und
seiner Spur folgen.
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Inhalt
Das Lied der ersten Lebensräume 163
Annerose
M. will es wissen:
Sie wächst
auf in einer süddeutschen, pietistisch geprägten
Dorfgemeinschaft der Nachkriegszeit, kämpft sich mühsam
durch für
sie perspektivlose Schulversuche und durch
ungeliebte
Jobs bis hin zum Studium ihrer Wahl.
Annerose
M. will es wissen:
So taucht
sie ein in die außerparlamentarische
Bewegung
der Achtundsechziger, wird Mitglied bei den
Jungsozialisten und knüpft Kontakte zu K-Gruppen und zur
Friedensbewegung der Achtzigerjahre.
Annerose
M. erzählt aus dem Blickwinkel ihres
eigenen
Erfahrungsbereiches, spricht über ihr mit
politischen Aktivitäten eng verzahntes Privatleben, ihre
Partnerbeziehungen und ihre Kinder.
Widersprüche in Theorie und Praxis erfährt sie als
Glücksmomente und tiefstes Leid und sie versucht diese -
fern
jeglicher Missionierungsanstrengungen - schreibend
zu
bewältigen.
mit meinen
gedanken
fliegen
fremde
Vögel
gefiederte
monster
aus
galaxien
unendlicher kleinheit
umkreisen
mich und
blicken
stumme
zeichen
aber
im tanz
verschwenden sie
bedeutung
mit
breiten flügelschlägen
aber
im tanz
hacken sie
mit
spitzen
schnäbeln
auf
plastik
und singen
ihre
klagenden worte
Der Vater
schwimmt in ruhigen Zügen. Das Mädchen sitzt auf seinem Rücken.
Der ist
ihm die Insel im schwarzen Gewässer, ist das mächtige, fleischige Wesen, das es
trägt.
Der Vater
schwimmt dem Ufer zu, bleibt schließlich zurück im Wasser. Das reicht ihm bis zu
den behaarten Schultern. Er fasst mit seinen großen Händen den Hals des
Mädchens, lacht breit: „Jetzt tu ich dich ein bisschen abhärten“. Und drückt es
hinunter in die Tiefe. Dort fühlt das Mädchen an seiner Haut die Algen und
Fische. Es muss hier wohl bleiben. Für immer.
In dieser
schwarzgrünen Welt.
Dann
sticht Helligkeit in sein Gesicht. Das Mädchen ist herausgezogen, holt zitternd
Luft, klammert sich an den Hals des Vaters. Der nimmt den Kopf des Mädchens
zwischen seine großen Hände, lacht breit und drückt es wieder und wieder
hinunter in die schwarzgrüne Welt der Algen und Fische.
Einmal
kommt das Ufer nah, fährt träge heran wie ein rettendes Schiff.
„Du bist
mir vielleicht ein Angsthase!“, lacht der Vater, steigt aus dem Wasser, drückt
das Mädchen fest an sich.
Es pustet,
möchte weinen, aber die Tränen können nicht fließen.
Eine Angst
ist in sein Leben gekommen, schwer und mächtig wie Vaters Hände.
Nun steht
es allein am Ufer, eingehüllt in den sonnenwarmen Tag und in den Duft der
Blumenwiese.
Vom See
her kreischen die Wildgänse und aus dem Geäst des Busches fliegt ein kleiner
Vogel.
Er fliegt
sehr hoch bis zu den Wolken. Dann ist er verschwunden.
Der Vater
ist vom Krieg zurückgekommen. Er züchtet Hasen. Seitdem gibt es am Sonntag oft
Hasenbraten.
Das
Hasenfutter – meist Löwenzahn – sammelt das Mädchen mit dem kleinen Leiterwagen
entlang der Rübenäcker und Kartoffelfelder.
Wenn der
Vater einen Hasen tot macht, schlägt er ihn mit dem stumpfen Teil des Beils auf
den Nacken, dann nimmt er ihn bei den Hinterläufen, hängt ihn an die Schuppentür
und beginnt, den Pelz abzuziehen.
Das
Mädchen weiß: Muggl wird bald geschlachtet.
Im Hof hat
der Vater ein kleines Gehege gebastelt. „Da soll Muggl noch einen Nachmittag
lang herumhoppeln“, sagt der Vater, „und pass gut auf, dass er nicht wegläuft!“
Der Vater
verlangt Gehorsam.
Das
Mädchen wartet, bis Muggl mit einem Sprung über den Gehegezaun verschwunden ist.
Eine
Freundin kommt vorbei, nimmt das Mädchen an der Hand. Sie hüpfen beide davon zum
Versteckspielen.
Dann
bringen Kinder die Botschaft, das Mädchen solle gleich heimkommen, sie bekomme
eine Strafe.
In der
Küche sitzen die Mutter und die Nachbarin beim Erbsenausschälen. Das Mädchen
schöpft Hoffnung.
Da kommt –
übergroß und lautlos wie ein Tiger – der Vater durch die Küchentür.
Er beginnt
mit starken Schlägen auf beide Ohren des Mädchens, zischt Fragen, die es nicht
verstehen kann, stellt es schließlich auf den Kopf, hält mit einer Hand seine
Füße umspannt und schlägt es mit der anderen auf Po und Rücken.
Die Haut
beginnt zu brennen und das Mädchen wimmert: „Ich bin wieder lieb, ich bin wieder
lieb!“. Es nässt dabei auf den Küchenboden.
Nun flehen
die Frauen, der Vater solle aufhören.
Als das
Mädchen wieder aufrecht steht, sieht es Tränen im Gesicht der Nachbarin.
Er ist
weiß gekalkt und hat dunkelgrüne Fensterläden.
Am frühen
Morgen geht Tante Hilde mit den Kindern zum hellgrünen Bretterzaun.
Sie trägt
ein weißes Schwesternhäubchen mit schwarzem Hakenkreuz.
Zwei Buben
ziehen die schwarz-weiß-rote Fahne auf Halbmast und alle singen: „Die Fahne
hoch, die Reihen dicht geschlossen, SA marschiert im gleichen Schritt und
Tritt…“
Das
Mädchen langweilt sich, schwatzt und lacht mit der Nachbarin, einem Ferienkind.
Tante
Hilde zieht die beiden an den Ohren ins HJ-Heim. Das ist ein Raum im
Kindergarten, wo die Hitlerjugend abends zusammenkommt. Dort sind die Mädchen
eingesperrt bis der Raum zum Nachmittagsschlaf geöffnet wird.
Die Kinder
klettern auf ihre Bastliegen.Tante Hilde sitzt auf einem kleinen Stühlchen und
flötet: “Maikäfer flieg, dein Vater ist im Krieg, deine Mutter ist in
Pommerland, Pommerland ist abgebrannt, Maikäfer flieg.“
Nach dem
Aufwachen und bevor es zum Spielen in den Garten geht, ruft Tante Hilde:
„Zwei und
zwei aufstellen zu den Aborten!“ Die Kinder halten sich gegenseitig an der Hand
und trippeln die Steintreppe hinunter. Die Größeren kümmern sich um die Kleinen.
Und um das
Mädchen kümmert sich wie jeden Tag die riesengroße, böse Fee.
Sie drückt
es fest an ihren Bauch. Es will sich befreien, dreht den Blick nach oben und
sieht am Ende der Gestalt den schwarzen Pagenkopf der bösen Fee.
Das Ritual
beginnt. Sie schlägt auf das Mädchen ein, drückt es schließlich auf den Abort.
Das
Mädchen wehrt sich, schreit und strampelt. Dafür bekommt es wieder Schläge.
Es weint,
aber da ist niemand, der es hört.
wenn ich
es wagte
zu sagen
ich hab
dich lieb
gib mir
den Schlüssel
zu deiner
Festung
aus
Erinnerung
ich
beträte sie
mit einer
zerschlissenen Fahne
darauf
ständen
verblichen
die Worte
nie wieder
Krieg
und wenn
ich
riefe
in diese
Festung
aus
Erinnerung
ICH WILL
ZU MEINEM VATER
wenn ich
es wagte
wie könnte
ich
dich
befreien
Die
Matrone hat Vogelaugen über der fein geschwungenen Nase und graues, streng
zurückgekämmtes Haar. Das mündet am Hinterkopf in eine senkrechte Rolle.
Zwischen
ihr und dem Mädchen dehnt sich die dunkle, kalt glänzende Tischplatte und
spiegelt schemenhaft das Kaffeegeschirr.
Die
Matrone führt die Tasse an den Mund, den kleinen Finger dabei weit abspreizend.
Sie
schlürft kurz und gierig. Dann ordnet sie die Hände nebeneinander auf dem Tisch
und lehnt sich zurück. Die Vogelaugen blicken stechend.
„Ich höre,
du malst und zeichnest gut, du liest Bücher. Warum um Gottes Willen schickt man
dich auf die Handelsschule? Du solltest Kunst studieren. Sprich mit deinen
Eltern! Eines Tages ist es zu spät und dein Leben ist verpfuscht.
Da! Nimm
einen Keks!"
„Danke“,
sagt das Mädchen. Der Keks lastet auf seiner Zunge wie ein Schuldspruch.
Es
versucht, den Schuldspruch hinunterzuschlucken.
Vom
verpfuschten Leben hat es nie etwas gehört. Das Leben sei ein ewiger Kampf,
sagen die Eltern, und der Großvater sagt, schon der Schopenhauer habe gewusst,
dass jeder von dem vielen Leid sein Päckchen zu tragen habe.
Das
Mädchen schweigt, fühlt sich von den dunklen Möbeln eingeschlossen wie in einem
Käfig. Die ganze Welt scheint sich plötzlich zu verwandeln in eine Ansammlung
von Käfigen.
Das
Mädchen kommt nach Hause, kämpft sich durch Kisten, Pappschachteln, Säcke,
Regale. Das ist die Käfigwelt der Waren. Der Vater ruft: „Du solltest dich um
deine Geschwister kümmern!“ Das Mädchen nimmt sie an der Hand, geht mit ihnen
zur Mutter ins Schlafzimmer. Die Leute sagen, sie liege im Sterben.
Wenn die
Küche aufgeräumt ist, die Geschwister zu Bett gebracht und die Schulaufgaben
gemacht sind, geht das Mädchen zu seinem Leseversteck. Das ist Vaters
Bücherschrank in der Guten Stube. Es nimmt sein Lieblingsbuch, setzt sich damit
auf den Boden und liest:
„…denn
also sprach Zarathustra: Ich will Kobolde um mich haben, denn ich bin mutig und
es ist Weisheit darin, dass vieles in der Welt übel riecht. Der Ekel selber
schafft Flügel.“
Ich finde
mich zu dick. Margot meint, ich hätte aber eine Mannequin-Figur oder eine wie
Marylin Monroe oder nein, eigentlich sei ich mehr der Typ Gina Lollobrigida,
weil dunkelhaarig.
Ich
schnüre mich mit einem breiten Gummigürtel. Den gibt es jetzt in allen Farben.
So komme
ich beim Baucheinziehen auf fünfundsechzig Zentimeter. Am schmalsten wirkt meine
Taille, wenn ich unter dem Kleid zwei Petticoats übereinander trage oder wenn
ich langgestreckt auf dem Fahrrad nach vorne hänge. Hans fragte mich, als er mit
seinem Fahrrad neben mir herfuhr, ob ich in letzter Zeit schlanker geworden sei.
Ich bin
unglücklich.
Abends
stehe ich lange am Spiegel und drücke meine Pickel aus. Am nächsten Tag sind sie
wieder da, vor allem am Kinn und über der Nasenwurzel.
Zu meinem
Pferdeschwanz habe ich mir ein Halbpony geschnitten. Vater hat es gleich
bemerkt. So könne ich geradewegs zum Zirkus gehen. Das Haar gehöre aus dem
Gesicht. Ich solle die Fransen auf der Stelle mit einem Klämmchen feststecken.
Jedesmal,
wenn ich aus dem Haus gehe, lasse ich das Klämmchen in der Tasche verschwinden
und kämme mir die Fransen ins Gesicht.
Meine
Beine, eigentlich meine Waden, sind ungefähr in Ordnung. Die Kerle schauen als
erstes auf die Waden, vor allem, wenn sie die Mädchen von hinten sehen.
Am
Sonntag, wenn ich mit meinen Freundinnen ins Kino gehe, tragen wir
Nylonstrümpfe, auch wenn es kalt ist. In einer Fünferreihe marschieren wir zum
Nachbarort ins Kino, drehen uns synchron nach etwa fünfzig Schritten um, gehen
dabei leicht in die Knie und sehen nach, ob die Naht noch in der Mitte sitzt.
Ich habe
nun auch Ballerina-Schuhe, ganz flach mit einem kleinen Schleifchen an der
Ferse.
Ich finde
mich zu dick. Eigentlich aufgebläht. Mutter meint, dass komme daher, dass die
Periode immer ausbleibe. Das sei in meinem Alter normal. „Irgendwann, spätestens
wenn du Kinder bekommst, wird sich alles einrenken.“
So lange
werde ich nicht warten.
Aber das
Problem Periode scheint unlösbar, auch das nächste, meine Sucht nach Süßigkeiten
Davon gibt es haufenweise im Laden meiner Mutter. Ich bediene mich heimlich da,
wo die Zuckerringe, Schokoriegel oder Mohrenköpfe in großen Mengen
aufgeschichtet sind.
Dennoch
erwischen mich die Eltern. Vater nennt es Stehlen. Am Mittagstisch habe ich
keinen Hunger, schöpfe aber von Mutters gesundem Essen eine Portion, die man als
normal bezeichnen könnte. Mutter sitzt mit beleidigtem Gesicht am Tisch. Vaters
Blick kontrolliert meinen Teller. Ich versuche, so viel Essen wie möglich in den
Backentaschen zu sammeln. Dann gehe ich zur Toilette, spucke alles in die
Closchüssel und gehe wieder zurück zum Tisch. Zwischendurch klingelt die
Ladenglocke. Weil entweder die Mutter oder der Vater vom Tisch geht, fülle ich
währenddessen ein zweites Mal meine Backentaschen, ohne dass sie es bemerken.
Weniger
schwierig ist es, die Süßigkeiten-Mahlzeit loszuwerden.
Ich
schleiche mich auf die oberste Bühne ins Dachgeschoss. Man kann sie nur mit
einer Leiter erreichen. Dort wartet meine Schüssel. Ich stecke den Finger in den
Rachen und würge das eben Gegessene heraus. Wenn ich mich unbeobachtet fühle,
leere ich die Schüssel, mache sie sauber und stelle sie zurück ins
Dachboden-Versteck.
Vater war
auf dem Dachboden. Er zelebriert die Entdeckung, trägt die von mir noch nicht
geleerte Schüssel feierlich vor sich her, bleibt vor mir stehen und schweigt.
Ich bin
angeklagt.
Angeklagt
nicht nur wegen der Schüssel. Sie ist nur der neueste der Ungehorsamsbeweise.
Seit einem Jahr bitte ich Vater, bei meiner Firma kündigen zu dürfen. „Das
kannst du dir vollkommen aus dem Kopf schlagen, bevor du volljährig bist,
nämlich einundzwanzig. Bedenke aber, hier hast du eine Lebensstellung.“
Das Urteil
lautet: Lebenslänglich.
Lebenslänglich ist für mich bis einundzwanzig. Bis dahin werde ich eingesperrt
bleiben mit widerlichem Papierzeug aus Geschäftsbriefen, mit Texten, die von
Maschinen und Maschinenteilen reden, eingesperrt und ausgesetzt der täglichen
Folter einer Bürouhr, die aussieht wie eine Bahnhofsuhr. Das heißt: zwischen dem
Verweilen des Zeigers auf dem Minutenstrich und dem Vorrücken zum nächsten liegt
eine ganze Ewigkeit.
Wenn
endlich Mittagspause ist und ich zu meinem Fahrrad gehe, weiß ich nicht, wie es
möglich war, dass so ein Vormittag zu Ende gehen konnte.
Ich sage
den Eltern, ich möchte Kunst studieren.
„Warum
heißt es wohl die brotlose Kunst?“, sagt Vater, „kommt überhaupt nicht in
Frage!“
„Dann
verstehe ich nicht, warum ihr allen Leuten meine Bilder zeigt!“
Ich könne
ja das Malen und Zeichnen als Steckenpferd betreiben, sagt Vater.
„Dann
möchte ich Stewardess werden oder Arzthelferin.“
Dr. Berg
meinte, ich solle Arzthelferin werden. Die würden weggeheiratet wie die warmen
Semmeln, sagte er zu meinen Eltern. Heiraten will ich noch nicht.
Mutter
sieht traurig aus. „Du wirst so oder so heiraten, dann wäre ein Studium ganz
umsonst gewesen, und als Stewardess wärst du immer so weit weg von daheim, auch
weg von deinen Geschwisterchen.“
Ich habe
viele meiner Bilder weggeworfen. Mit dem Malen und Zeichnen habe ich aufgehört.
Stattdessen schlage ich mir den Magen voll mit Süßigkeiten.
Für meine
Schüssel habe ich ein neues Versteck. Es ist im Obergeschoss des Schuppens.
Maloja.
Ich bin in der Mädchen-Freizeit. Mit dem Bus sind wir über den Julier-Pass in
Richtung Engadin gefahren. Unterwegs haben wir verschiedene Fahrtenlieder
gesungen wie „Wir lieben die Stürme, die brausenden Wogen…“ oder „…ein Hase saß
im grünen Gras, singing holly, dolly, doodle all the day…“. Bei „Kreuzesfahnen
wollen uns bahnen den Weg durch die finstere Nacht…“ stellt sich Fräulein Müller
neben den Busfahrer und dirigiert. Drüben am Silser See liegt Sils Maria. Hier
hat Friedrich Nietzsche den Zarathustra geschrieben. Neben unserem Freizeitheim
ist ein französisches Jungen-Internat. Leider von uns getrennt durch einen hohen
Zaun. Dahinter sehen wir sie manchmal Fußball spielen. Fräulein Müller verbietet
uns, an den Zaun zu gehen. Der einzige Mann in unserer Freizeitgruppe ist der
Pfarrer. Er hat ein fröhliches Gesicht und ist lange nicht so streng wie die
Gemeindehelferin. Fräulein Müller hat einen Damenbart, trägt stabile Bergschuhe,
einen weiten Faltenrock und eine Hemdbluse.
Ich bin
froh, dass ich nicht eingeteilt bin für den Weckdienst. Frühmorgens um sechs
rennt ein Mädchen mit Kuhglockengeläute die Gänge entlang.
„Du hast
noch kein Morgengebet gesprochen“, sagt Babette, meine Zimmerkameradin. „Das
geht dich wohl nichts an!“, sage ich. „Jawohl geht mich das was an, morgens und
abends müssen wir im Bett ein Gebet sprechen. Hat man uns am ersten Tag gesagt!“
Ich haue Babette mein Handtuch um den Kopf, sie haut mit ihrem Handtuch zurück.
Zerstritten und unausgeschlafen stehen wir in der Schlange zum Wasserhahn, denn
Fräulein Müller hat die Anweisung gegeben: „Jeden Morgen wascht ihr Gesicht und
Hände und auch euren Oberkörper! Warmes Wasser gibt es nicht.“ Wir versammeln
uns im Hof um den Brunnen zur Morgenandacht. Anschließend ist Frühstücken im
großen Speisesaal.
Endlich
ein freier Tag. Ich verstehe nicht, warum sich die anderen in nur zwei Gruppen
auf die Wanderung machen, die eine mit dem Pfarrer, die andere mit der
Gemeindehelferin. Ich bin schon unterwegs mit einem Einkaufsnetz, trage mein
ärmelloses Sommerkleid und meine Ballerina-Schuhe.
Ich
spaziere durch die Gässchen von Maloja, sehe Kühe, die aus dem Dorfbrunnen
trinken, kaufe in einem kleinen Laden ein Yoghurt und höre, wie die Frauen
miteinander Rätoromanisch sprechen. Beim Kommen und Gehen sagen sie „Ciao!“ und
es klingt wie Musik. Ich bin im Süden! Ich bin auf einem fremden Stern! Ich habe
ihn allein entdeckt an diesem Sommermorgen, ohne das Fräulein Müller, ohne den
Pfarrer und die anderen!
Die
Schneegipfel des Engadin glitzern in der Sonne.
Mit meinem
Yoghurt im Einkaufsnetz wandere ich über die Almen. Weiter oben sonnen sich die
Murmeltiere vor ihren Höhlen. Sie sind ohne Scheu, wenn ich vorbeigehe. Ich
steige kreuz und quer, der Schnee kommt näher. Wenn ich ins Tal hinunter sehe,
sind die Kühe so klein wie Ameisen.
Schließlich komme ich auf ein Hochplateau.
Ich habe
Durst und einen Sonnenbrand. Den Schnee will ich nicht mehr erreichen. Und die
Aussicht ins Tal hinunter macht mir keinen Spaß. So suche ich den Weg, den ich
heraufgestiegen bin. Ich gelange ein kleines Stück bergabwärts. Doch unter
meinen Füßen tut sich eine tiefe Schlucht auf. Ich klettere zum Ausgangspunkt,
probiere einen neuen Weg aus. Nun ist es eine Schlucht mit Wasserfall. Wieder
stehe ich auf dem Hochplateau, will um Hilfe schreien, aber meine Stimme ist
nicht mehr da. Dann werfe ich Steine in die Tiefe. Wenn sie vom Fels abprallen,
sagen sie mir, dass die Wand ein Stück begehbar ist. Manche der kurzen
Abschnitte lassen sich klettern, andere kann ich rutschen. In einer Hand halte
ich das Netz mit meinen Ballerina-Schuhen. Das Yoghurt habe ich auf dem Plateau
zurückgelassen.
Allmählich
komme ich auf Pfade, die ich aufrecht gehen kann. Mein Kleid und meine Unterhose
sind zerschlissen und meine Haut spüre ich nur als ein einziges höllisches
Brennen.
Ein
Murmeltier sitzt wachsam auf einem Stein, als hätte es auf mich gewartet. Die
anderen sind in den Höhlen verschwunden, denn es beginnt dunkel zu werden.
Ich habe
meine Stimme wieder, probiere leise ein paar Melodien aus und sie gelingen.
Im großen
Speisesaal sitzen sie alle beim Abendessen.
„Gerade
wollten wir die Bergwacht alarmieren! Wie kannst du uns in solche
Schwierigkeiten bringen! Deine gerechte Strafe hast du ja bekommen!“ schimpft
Fräulein Müller auf mich ein. Ich finde kein einziges Wort, mit dem ich
antworten könnte, gehe schweigend und leicht gebeugt durch die Stuhlreihen und
fühle im Rücken die selbstgerechten Blicke.
Margret,
die Älteste, wohl Klügste, Gläubigste an unserem Tisch zwinkert mir zu und
schöpft mir mütterlich das Essen auf den Teller.
Wochen
nach unserer Mädchenfreizeit bekomme ich von Margret einen lieben Kartengruß.
Mit keinem Wort erwähnt sie meine einsame Bergwanderung.
Ich weiß
nicht, warum ich diesen Gruß nicht beantworte. Aber ich werde Margret nicht
vergessen.
Vater
bezahlt mir einen Tanzkurs. Abends radle ich zum „Grünen Baum“. Der hat einen
großen, sehr niedrigen Saal mit Tanzfläche. Der Tanzlehrer wendet sich an uns
Mädchen: „Nehmt alle Platz in einer Reihe auf den Stühlen! Der junge Mann, der
euch heute zum Tanz auffordert, wird euer Tanzkurspartner.“
Unscheinbar und zierlich steht Friedhelm eingezwängt zwischen den anderen.
Allesamt Kerle, die mir mindestens besser gefallen als Friedhelm. Vor allem sind
sie lässig. Lässig ist das Zauberwort. Keiner braucht schön zu sein wie James
Dean.
Aber James
Dean ist beides, vor allem mit der Zigarette im Mundwinkel „und dem schwierigen
Blick“, sagt Margot immer. Zum Sterben lässig! Manche Kerle versuchen, ihn
nachzuahmen.
Friedhelm
versucht es nicht mal. Er starrt nur unentwegt zu mir herüber, starrt wie ein
kleines Mädchen auf ein Stück Torte.
Der
Tanzlehrer wirft die Schallplatte an. Es kommt der erste langsame Walzer. „Ich
tanze mit dir in den Himmel hinein, in den siebenten Himmel der Liebe…“
Nur mit
Wolf möchte ich jetzt tanzen. Er brauche keinen Tanzkurs, sagt er.
Wolf ist
zum Sterben lässig. Er muss James Dean nicht nachahmen. Wolf hat die Lässigkeit
selbst erfunden. Und Wolf hat seinen eigenen, schwierigen Blick. Von James Dean
hat er nur die Frisur und die Art zu rauchen.
Die Musik
läuft, die Kerle schießen los. Friedhelm hat einen Riesenvorsprung und kommt als
Erster direkt vor mir zum Stehen. „Man darf nie einem Mann einen Korb geben. Das
tut man nicht“, hat Vater zu mir gesagt, als ich mit den Eltern zu einer
Hochzeit eingeladen war. So gebe ich nun auch Friedhelm keinen Korb.
Nach dem
ersten Kursabend kommt Mutter ins Schwärmen und summt: Ich tanze mit dir in den
Himmel hinein… „Zu dieser Melodie haben wir früher schon getanzt!“
Beim
nächsten Kursabend ist der klassische Walzer dran mit Dreivierteltakt.
„Ich
schmeiß den Kurs. Den Scheiß mach ich nicht mehr mit!“, mault Dieter, tanzt aber
weiter ungelenk und missmutig seine Runden. Einer fragt: „Wann lernen wir
endlich den Rock`n`Roll?“ Erst sollten wir mal gefälligst das Tanzen lernen,
meint der Tanzlehrer am Ende des Abends.
Wir
begreifen endgültig: er lässt nicht mit sich handeln.
Ein paar
der Kursteilnehmer gehen heim. Zum Glück geht Friedhelm mit ihnen. Ich ahne,
dass ich nie mehr mit ihm tanzen werde. Mein Körpergefühl sagt es mir.
Der
größere Teil des Kurses beschließt, ab dem nächsten Mal zu schwänzen und dafür
zu Rudi zu gehen. Rudi hat eine Kellerbar. Dort lassen wir Bill Haley und Elvis
über die Maßen laut aufdröhnen und spielen dazu „Blinde Kuh“. Später zeigt uns
Rosemarie, wie man den Boogie-Woogie und den Mambo tanzt.
Zu Hause
fragen mich die Eltern, ob es schön gewesen sei und was wir gelernt hätten.
„Heute den
Tango“, sage ich. Den kann ich nämlich, weil Vater ihn längst mit mir geübt hat.
So hüten
wir alle das Geheimnis „Kellerbar“.
Wir
trinken Coca-Cola, weil man ohne nicht dazugehört. Die meisten Kerle rauchen.
Von den Mädchen raucht nur Rosemarie.
Und eines
Abends kommt Wolf vorbei.
„Wenn du
mit Wolf gehst, dann hast du mit dem auch schon was gehabt“, sagt Margot zu mir.
„Erstens geh ich nicht mit ihm und zweitens hab ich mit ihm noch nichts gehabt“,
fauche ich sie an. Weil Margot meine beste Freundin ist, sage ich hier die
Wahrheit.
Etwas
nicht zu erzählen, halte ich nicht für gelogen. So sage ich nicht, dass ich mich
heute Abend mit Wolf unten am Friedhof treffe.
Pünktlich
taucht Wolf mit seinem Fahrrad aus dem Nebel auf. Er geht neben mir her und
schweigt. Die Stille macht mich unsicher und ich sage, ich hätte Angst, jetzt in
dieser Dunkelheit auf den Friedhof zu gehen.
Wolf
schweigt, er legt seinen Arm um mich und macht mit einer Hand das große, eiserne
Tor auf. Dann spazieren wir eng umschlungen zwischen den Gräbern umher. Ich habe
keine Angst und drücke meinen Kopf in seine Achselhöhle. Dann halten wir unter
einem Baum. Wolf nimmt mein Gesicht zwischen seine Hände und gibt mir einen
Kuss. Er sagt nicht, „ich liebe dich“, er sagt: „Du hast ja eisblaue Augen und
ganz schwarzes Haar.“
Ich bin
zum Faschingsball eingeladen und trage einen blau-rot-gelben, seidigen Kimono.
Lange sitze ich am Spiegel mit den Schminkstiften, forme meine Augen zu
rabenschwarzen Schlitzen, mache die Augenlider hellblau, die Lippen rot, türme
mein Haar hoch auf und stecke in den Dutt bunte Papierschirmchen. Die bekommt
man in der Milchbar, wenn man Eis isst.
Die
Kapelle nennen wir „Jambalaja-Freddy“, weil am Schluss jedes Mal der
Jambalaja-Song dran ist. Natürlich spielen sie auch „Am weißen Strand von
Surabaja…“ oder „Jim, Jonny und Jonas, die fahren an Java vorbei, Jim, Jonny und
Jonas, die fahren direkt nach Hawaji…“ oder den „Tom Dooley“ und das
„Banana-Boot“. Die Hawaji-Gitarren singen von fremden Ländern. Die hat im Saal
noch keiner gesehen. Auch die Alten sind jetzt auf der Tanzfläche zum langsamen
Walzer.
Später
kommt eine Pause. Die Alten sitzen an den Tischen.
Jetzt erst
sehe ich Wolf bei ein paar Freunden an der Bar stehen.
Freddy
spielt einen Tusch. Im Saal wird es ganz still.
Es beginnt
der Rock´n´Roll.
Wolf geht
auf die Bühne, nimmt das Mikrophon und singt „Rock around the Clock…“
Wir
stürmen vor die Bühne, wippen wild im Takt, schwenken die Arme und lassen die
Hüften kreisen. Jemand vom Tisch der Alten ruft: „Das sind unsere Halbstarken!“
Freddy
spielt jetzt Elvis.
Auf der
Bühne rockt Wolf, rockt und singt, ist nicht mehr Wolf, ist nur noch Elvis.
Ein
älteres Ehepaar mault: „Jetzt müssen wir wohl das Feld räumen.“
Ich rocke
bis mir schwindlig wird. Mein Japanerinnen-Dutt ist vom Kopf gerutscht, hat sich
vollkommen aufgelöst und die Schirmchen liegen zertreten am Boden. Ich rette
mich an die Bar und trinke ein Coca-Cola, höre nur noch Wolfs Stimme durchs
Mikrophon und fühle, dass ich einen jener Momente erlebe, die nicht bleiben und
die das Leben wieder fortnimmt, weil sie so glücklich sind, dass ein Mensch sie
nicht ertragen kann.
Ostersonntag. Die Morgensonne scheint durch die bunten Kirchenfenster. Ich sitze
neben meiner Mutter in der Bank. Des Pfarrers Stimme, die Choräle, das betende
Gemurmel der Leute – all das drängt sich mir auf wie ein einziger Schuldspruch.
Nur von
meiner Mutter geht etwas aus, das sich an mich schmiegt wie wundersame
Solidarität. Uns trennt nicht mehr das Unaussprechliche. Und doch kennt sie mein
Geheimnis nicht.
Ich habe
heute Nacht mit Wolf geschlafen. Und er hat mir dabei gesagt, dass Sex zwischen
Mann und Frau sehr wichtig sei. Ich habe nichts darauf geantwortet, denn ich
brauche den Sex nicht, weil ich Wolf ja so sehr liebe.
Und doch
ist es jetzt geschehen.
Ich habe
etwas gehabt mit Wolf.
Meine
Periode ist wieder ausgeblieben. Irgendwie ist in letzter Zeit einiges normaler
verlaufen, auch die Periode. Auch habe ich nichts mehr ausgekotzt.
Die Eltern
tun mir leid in ihrer unverhohlenen Dankbarkeit, denn ich weiß nicht, wann ich
sie wieder enttäuschen werde. Nicht mehr mit dem Auskotzen, aber wer weiß –
vielleicht mit etwas anderem.
Die
Periode bleibt aus. Es sind nun drei Monate über die Zeit. Ich verabrede mich
mit Wolf.
Wir gehen
die Iller entlang.
„Das eine
muss klar sein“, sagt Wolf, „wir heiraten katholisch und die Kinder werden
katholisch erzogen. Mein Onkel ist Priester und hat mich zu seinem Erben
eingesetzt."
„Ich habe
einen katholischen Großvater und der ist immer gut zu mir gewesen. Zwar ist er
mein Stiefgroßvater, aber doch mein liebster Großvater bis in alle Ewigkeit“,
sage ich zu Wolf. „Ich kann mich auch katholisch trauen lassen.“ „Vergiss nicht,
die Kinder!“, sagt Wolf.
Am Abend
sitze ich bei ihm in seinem Zimmer. Er legt eine Schallplatte auf von Schubert:
„Die Unvollendete“.
Meiner
Mutter erzähle ich nichts von der ausgebliebenen Periode.
Den ganzen
Samstag warte ich auf einen Anruf von Wolf. Er hat mich gefragt, ob ich Lust
hätte, übers Wochenende mit ihm und seinen Freunden zum Skilaufen zu fahren.
„Ich habe nie Skilaufen gelernt“, sage ich ihm. Wolf meldet sich auch am
Sonntagmorgen nicht.
Ich weiß,
unsere Nachbarin hat in ihrem Nachttischchen eine volle Packung Schlaftabletten.
Ich weiß es deshalb, weil ich der Schwerkranken immer das Abendessen gebe und
anschließend zum Einschlafen eine Tablette.
Meine
Eltern sind bei Bekannten eingeladen. Nur meine beiden Geschwister sind im Haus.
Ich gehe hinüber zur Nachbarin. Die schläft. Leise nehme ich die Tabletten aus
dem Nachttisch und drücke sie in mich hinein, Stück um Stück, mit viel Wasser.
Dann gehe ich nach Hause und lege mich aufs Sofa. Meine Geschwister laufen
besorgt und hilflos hin und her. Sie fragen: „Hast du Schmerzen?“ Ich kann nicht
antworten. Sie bringen mich ins Bett.
Ihre
ängstlichen kleinen Gesichter sehe ich ganz nah. Ich bin so glücklich und fliege
einfach dahin.
Im
Krankenhaus betreuen mich Nonnen. Sie tragen hoheitsvoll die Flügelhauben und in
den Gängen schleift die weiße Tracht über hellgrünes Glas. Immer hantieren sie
lächelnd. Beim Abendgebet besprengen sie mich mit Weihwasser.
Nachts
treibe ich mit einer alten Nonne Unfug. Es ist unser beider Spiel. Sie hat mir
verboten, im Nachthemd über den Gang zu laufen. Um mich zu kontrollieren, hält
sie das Schwesternzimmer einen Türspalt offen. Ich renne im Nachthemd den Gang
entlang, die Schwester mit Gelächter hinter mir her. Wenn es ihr gelingt, mich
einzufangen, packt sie mein Hemd am Saum und zieht es mir zur Strafe über den
Po.
Am
liebsten möchte ich noch eine Zeitlang bleiben. Wenn ich als gesund entlassen
bin, würde ich keinen Grund mehr haben, zu klagen. Die Eltern würden weiter ihr
tägliches Beispiel geben, wie das Leben zu meistern sei trotz aller
Schwierigkeiten.
„Wenn man
denkt, es geht nicht mehr, kommt von irgendwo ein Lichtlein her“, sagt Mutter
beim Krankenhausbesuch. Wolf habe angerufen und nach mir gefragt. Sie habe sehr
energisch mit ihm gesprochen.
Nun fühle
ich, dass etwas zu Ende geht.
„Iss viel
Obst, immer wieder eine kleine Portion“, sagt Mutter und schiebt mir besorgt
eine Traube in den Mund.
Meine
Periode ist wieder da. Mein ganzer Körper atmet durch.
Über Wolf
will ich jetzt nicht nachdenken.
Ich bin
Scarlett O`Hara, seitdem ich „Vom Winde verweht“ lese. Nur ist Wolf halb Rhett,
halb Ashley, das macht es überhaupt so schwer. Scarlett hat in Rhett stets den
Ashley gesucht und in Ashley den Rhett, als Ashley am Ende des Buches um ihre
Liebe bittet.
Alles, was
ich an Wolf liebe, ist verloren.
„Morgen
ist ein neuer Tag, morgen will ich drüber nachdenken.“
So sehe
ich mich abends einsam auf dem Hügel stehen. Ich bin Scarlett und mein Haar
flattert im Wind.
Sonntag.
Nach dem Mittagessen mache ich mit Mutter den Abwasch.
Es ist die
Zeit, die Mutter und mir gehört, wo Mutter sich nicht verschwenden muss an die
Kunden, die Zeit, wo Vater die Buchführung macht und ständig vor sich hinseufzt.
Ich
erzähle Mutter aus „Onkel Tom`s Hütte“, vom Leben der schwarzen Sklaven, wie
machtlos sie waren gegenüber ihren Herren.
Mutter
wiederholt, was sie schon zu Vater gesagt hat: mit mir könne man richtig
philosophieren. Sie ahnt nicht, dass ich diesmal ein festes Ziel im Auge habe.
„Denk an
meine Firma. Wenn ich durch die Fabrikhallen gehe, dann sehe ich Frauen, Männer,
junge, alte, aber nichts als Sklaven“, sage ich. „Sie schuften von morgens bis
abends im Staub der Maschinen und haben nicht mal Ohrenstöpsel gegen den Lärm.
Der schlägt dich nieder und ich kann ihn nur ertragen, wenn ich im Galopp durch
die Hallen renne. Und in der Färberei stinkt es nach Chemie, dass einem die Luft
wegbleibt.“
Mutter
meint, „dann kannst du ja froh sein, dass du es viel schöner hast in deinem
Büro“.
„Das ist
es ja, auch meine Arbeit ist Sklavenarbeit und weißt du warum? Nicht das
Mindeste hat sie für mich zu tun mit Lust und Freude, ich funktioniere
mechanisch, den Takt bestimmt die Bahnhofsuhr. Sie hängt in jedem Raum wie ein
Sklavenaufseher und sieht zu, wie man dahinvegetiert. Warum verwehrt ihr mir,
ein Ziel zu haben?
„Du
könntest doch ein Ziel haben, nämlich die Lebensstellung bei der Firma, dein
Chef hat dich gelobt“, sagt Mutter.
Dass ich
eigentlich studieren möchte, wage ich nicht mehr zu sagen, das Thema scheint in
den Bereich der Obszönitäten verwiesen.
Ich
versuche, Mutter auf Umwegen auf meine Seite zu bringen.
„Was
hältst du davon, wenn ich Hauswirtschaftslehrerin lernen möchte?“ Dabei ist mir
sonnenklar: diesen Beruf würde ich über die Maßen hassen. Doch wenn die Eltern
zustimmen, wäre es der wohl einzige Weg, von der Firma wegzukommen.
Jedoch für
Vater gibt es einen anderen Weg.
Vaters
Freund erzählt von seinem „Wurstneffen“. Der soll eine Wurstfabrik haben mit
Patent auf eine Art Saitenwürstchen, inzwischen schon berühmt in ganz
Deutschland. Die Firma samt Hotel und Metzgereiladen laufe gut in unserer
Wirtschaftswunderzeit. Der Junior, der Fritz, habe Gymnasium und Hotelfachschule
hinter sich und volontiere jetzt in der Metzgerei. Da sei noch eine junge
Angestellte im Haus, mache sich unentbehrlich als „Mädchen für alles“, die sähe
sich gern als die Juniorchefin. Er fürchte, sie könne Fritz eines Tages doch
noch rumkriegen. Er sei gern bereit, mich als Haustochter dahin zu vermitteln,
zumindest für eine Zeitlang. Was könne für eine Frau besser sein, als an einem
solchen Platz die Praxis kennen zu lernen. Studieren – das könne ich immer noch.
Und das würde ich allemal noch schaffen. Wenn ich volljährig sei, könne ich ja
selbst entscheiden. Meine Eltern sind sehr angetan.
Für mich
zählt nur noch, von der Firma wegzukommen.
Aber es
wird ein Abschied sein, ein schwerer und vielleicht für immer. Weil man ihn
nicht teilen kann in einen nur teilweisen und in einen endgültigen.
Abschied
ist, wenn man über das, was einem eben in den Sinn gekommen ist, nicht mehr an
Ort und Stelle miteinander reden kann und es vergessen haben wird, bis man
einander wiedersieht.
Abschied
ist, wenn der kleine Bruder sich weinend hinter einer Tür versteckt,
wenn die
kleine Schwester mir nicht mehr schwesterlich zur Seite ist mit ihrem Lachen und
nicht mehr ungelenk in meine Ballerinas schlüpft,
wenn der
Großvater einsam durch den Garten geht,
wenn
Großmutter im Kämmerchen für mich die Zwetschgenmarmelade bereitstellt
und beide,
in der Küche sitzend, auf mich warten.
Abschied
ist, wenn die Eltern sagen, ich ginge nun in die Fremde.
in jenem
Garten
an alten
Ziegelmauern
gehe ich
durch
verwelkte Zeit
finde ich
kleine
Skulpturen
Bruder und
Schwester
mit Augen
aus Stein
sie halten
für mich
die
Totenwache
Das Hotel
hat grüne Fensterläden und mehrere Stockwerke. Im linken Gebäudeteil ist der
Metzgerladen. Dort arbeitet die Chefin mit einem Tross Verkäuferinnen, alle in
weißen Kitteln.
Im Gang
riecht es nach Bier und Rauch aus der Gaststube, nach Wurst aus dem Laden und
nach Essen aus der Hotelküche.
Die Chefin
kommt auf mich zu mit nach oben gereckter Nase. Ihre Pfennigabsätze klopfen
zornig auf die Bodenfliesen. Sie habe sich von der Kellnerin emporgeschafft,
sagten zu Hause meine Eltern, und jetzt seien die halt durch ihr
Saitenwurst-Patent reich geworden.
Ich grüße
artig, wie ich es den Eltern versprochen habe. „Mach uns ja keine Schande!“,
sagte mein Vater am Bahnhof beim Abschied.
Die Chefin
zeigt mir das Haus. Im rechten Gebäudeteil zieht sich die große Gaststube hin
mit dem sich anschließenden düsteren Nebenzimmer. Hinter dem Büfett geht eine
Durchreiche in
die
Hotelküche. „Hier arbeitest du in der Mittagszeit, da geht es drunter und
drüber“, sagt die Chefin, „meine Bedienung schafft das nicht allein.“
Frau Minz
kommt mit einem Stapel Geschirr flink auf uns zugetänzelt, blond und pummelig,
eng sitzendes schwarzes Kleid und weißes Rüschenschürzchen.
„Ich kann
dich gut am Tresen gebrauchen“, sagt sie zu mir mit sächsischem Akzent und
zwinkert mit den Augen. „Momentan arbeite ich für zwei.“ Sie hetzt mit ihren
Bons an die Durchreiche, übernimmt das dampfende Essen, stellt es auf den Tresen
und legt eine Schallplatte auf: „Wheels“.
Vom Gang
aus geht die Chefin mit mir durch Büro und Hinterhof zur Wurstfabrik. Hier im
Büro wirst du vormittags und nachmittags arbeiten. Um sieben ist Frühstück.
Weil du
Haustochter bist, kannst du bei uns am Familientisch essen. Unser Esszimmer ist
gleich neben dem Metzgerstübchen. Zu Abend isst du allein. In der Küche gibt es
immer eine Schüssel voller Wurstreste aus dem Laden. Das Brot dazu wirst du auch
finden.“
Hinter der
Wurstfabrik liegt ein weiterer Hof. Durchs Fenster höre ich die Schweine
quieken. „Da schlachten wir“, sagt die Chefin und zeigt theatralisch hinaus.
Nun geht
sie vor mir die schmalen Holztreppen hinauf. Die Stufen sind abgetreten und es
riecht nach Bohnerwachs. Ich schleppe meinen schweren Koffer hinter ihr her bis
ins Dachgeschoss.
In meinem
Zimmer gibt es ein kleines Fensterchen, von dem aus ich auf den Dorfplatz
hinuntersehe, und an der rechten Wand eine hohe Großeltern-Bettlade aus dunklem
Holz. Das Federbett ist prall und schwer und hat einen Bezug aus lila-weißem
Bauernkaro. An der linken Wand steht ein schmaler Kleiderschrank. Irgendwann
wurde er mit hellgrüner Farbe überpinselt, die jetzt abblättert und stellenweise
hellbraunes Holz freigibt.. Neben der Tür ist die Waschschüssel mit Krug aus
weißem Emaille auf einem hellgrün gestrichenen Hocker.
Hier könne
ich mich waschen, sagt die Chefin. Der Kaltwasserhahn mit weißem Emaille-Becken
ist draußen auf dem kleinen Treppenabsatz.
„Und hier
wohnt die Frau Thea, unsere Salaterin, die wäscht sich auch an diesem Becken.
Ihr müsst euch eben einigen“, sagt die Chefin und zeigt auf die danebenliegende
Tür.
„Und da
ist gleich die Bühne“. Die Tür öffnet sich knarrend. Über dem großflächigen
Bretterboden hängen unzählige Wäschestücke zum Trocknen.. Durch ein kleines
Fenster und die Ritzen der Dachplatten dringt ein wenig Licht ins Bühnendunkel.
Am
Frühstückstisch sitze ich mit der Chefin, dem Chef, mit Fritz und Gertrud.
Sie reden
übers Geschäft, die Chefin über Kundinnen, die schon längere Zeit nicht mehr in
den Laden gekommen seien, der Chef über die neuesten Nachrichten in der Zeitung
und im Radio. „Kann man`s denn gleich zum Nitrit-Skandal aufbauschen, wenn da
und dort ein bisschen zuviel ins Fleisch gekommen ist? Kein Mensch ist noch dran
gestorben! Ja sollen denn die Metzger am Bettelstab gehen?“
Die Chefin
kaut und murmelt zustimmend. Fritz schweigt artig und Gertrud, selbst am Tisch
in untertänig gebeugter Haltung, nickt heftig.
Auch habe
er dem Koch ein letztes Mal gesagt, schimpft der Chef, die Suppe müsse so
dampfend heiß vor den Gast, dass der sich den Mund verbrenne.
Ich sage
nichts, da niemand mich etwas fragt, und fühle mich nur vorhanden, wenn Gertruds
Augen kontrollierend zwischen mir und Fritz hin- und herwandern. Mit ihrem
Hundeblick sagt sie zur Chefin hin, sie habe nun die Putzfrauen anders
eingeteilt. Frau Schuck habe den Gang unter aller Sau geputzt. Das könne in
Zukunft doch die Frau Lindemann machen. Frau Schuck könne man ja in der
Wurstküche lassen und ihr den Hof dazugeben.
Ich habe
beschlossen, ab heute in der Hotelküche mit den Putzfrauen und Verkäuferinnen zu
frühstücken. Eine gewisse Trotzigkeit in mir gibt mir den Rat, mich mit keinem
Wort vom Familientisch abzumelden.
Beim
Putzfrauen- und Verkäuferinnen-Frühstück bekommen wir nur Schwarzbrot mit
Marmelade ohne Butter oder Sanella. Dazu gibt es Lindes-Kaffee. Wurst, sagt Frau
Schuck, könne ich immer vormittags zum Vesper und auch abends essen. Sie geht
mit mir an den Kühlschrank und zeigt mir eine große Schüssel voller Wurstreste
und Anschnittstücke.
„Du hast
die Karten schlampig einsortiert!“ Gertrud beugt sich über den fahrbaren Wagen
der Taylorix-Durchschreibebuchführung. „Und wie heißt der Buchungssatz? Kasse an
was? Das hast du wohl vergessen?“ Ich räume den Fehler ein, habe aber einen
Verdacht. Abends sehe ich durch die Büro-Fensterscheibe Gertrud am
Taylorix-Wagen hantieren. Ich werde meinen Verdacht nicht aussprechen. Als ich
leise die Tür aufmache, zuckt Gertrud erschreckt zusammen, wird puterrot im
Gesicht und fährt mich an: „Was suchst du hier noch so spät? Wenn du den Fritz
suchst, der ist nicht mehr in der Wurstküche.“
Nun wird
mir klar, dass Gertrud mich bei der Chefin denunziert.
Im Büro,
gleich neben meinem Schreibtisch, ist das Lager der Jagdhunde. Meist nachmittags
nimmt sie der Chef mit auf die Jagd. Immer, wenn die Hunde das Lager verlassen,
schleppen sie ein paar Heubüschel durchs Büro, die ich daraufhin
zusammenzukehren habe.
Mein
Telefongespräch mit einem Lieferanten hat das nun verzögert. Die Chefin stöckelt
zur Tür herein, die Nase nach oben gerichtet. Sie entdeckt die auf dem Boden
verstreuten Halme, scheucht die Hunde vom Lager, greift mit beiden Händen ins
Heu, verstreut es über den Boden bis hinein in alle Winkel des Büros und schreit
auf mich ein: „Das als Denkzettel! Nun weißt du in Zukunft, was du zu tun hast!
Hier rumsitzen, wenn andere arbeiten – so geht das nicht!“
Büroschluss ist, wenn die angefangene Arbeit getan ist. Anschließend, wenn ich
Hunger habe, gehe ich in die Hotelküche zur Schüssel mit den Wurstzipfeln, setze
mich damit ins Metzgerstübchen. Hier ist es ruhig und beinahe dunkel, die
Metzger haben längst Feierabend. Ich bin allein. Jedoch ist das Metzgerstübchen
der Durchgang zum Esszimmer der Familie. Ich habe große Angst, die Chefin könnte
mich hier ertappen.
Wenn ich
mein Brot mit Wurst gegessen habe, gehe ich ins Lokal.
Da muss
ich mit Frau Minz zusammenarbeiten.
Das
Stimmengewirr der Gäste wird zum mich einhüllenden Murmeln. Doch aus der Küche
kommen die Kommandorufe wie Peitschenhiebe, wenn Frau Theas strenges Gesicht an
der Durchreiche auftaucht und sie mir ein frisches Menü anvertraut. Das schiebe
ich erst mal zur Seite. Denn Frau Minz hat mir den Plattenspieler anvertraut und
wird nicht schimpfen, wenn ich mich zu allererst um die Musik kümmere.
Sie
schwärmt für Heidi Brühl und eben hatte sie noch laufen: „Wir wollen niemals
auseinandergeh`n“.
Es gibt
hier keinen Elvis und keinen Bill Haley, kein „Just walkin` in the rain“, aber
es gibt meinen Lieblingswalzer „An der schönen blauen Donau“ und viele Schlager.
Ich lege den Banana-Boat-Song auf und danach „Ciao, Ciao, Bambina“.
Im
Nebenzimmer sitzt Jenny rauchend an ihrem Stammplatz. Eigentlich heißt sie
Helga, die „Jenny“ hat sie sich selbst zugelegt, weil sie Jenny viel toller
finde, vertraut sie mir an.
Jenny
arbeitet beim Zahnarzt nebenan als Sprechstundenhilfe.
Gestern
Abend gab mir Frau Minz frei. Das hatte Gertrud beobachtet. Sie schleppte zwei
Fahrräder mit Gießkannen an. „Du solltest mit mir zum Friedhof fahren, Gräber
gießen.“
Daran
anschließend rannte ich ins Nebenzimmer. Jenny saß noch rauchend an ihrem
Stammplatz, heute im Sackkleid, allerneueste Mode. „Guck mal!“ sagte sie und zog
den Ausschnitt ein wenig vom Körper. „Aber du bist ja nackt unter dem Kleid!“
Ich sagte es, als würde ich mich darüber freuen, weil ich außer Jenny hier keine
Freundin habe und Angst habe, sie zu verlieren.
„Ja eben“,
sagte Jenny, „gleich kommen die Franzosen von der Garnison, du kannst hier nicht
sitzen bleiben. Ich gehe mit denen eh woanders hin.“
Frau Minz
winkt mich beiseite: „Die hat`s mit den Franzosen, Zustände wie bei der
Nitribitt! Nur kann man ihr nichts nachweisen. Du musst dich jedenfalls von ihr
fern halten, Anweisung von der Chefin und vom Chef!“
Ich
erzähle Frau Minz nicht, dass ich Jenny zweihundert Mark geliehen habe.
Sonntag.
Am Wochenende hat Jenny ohnehin keine Zeit. Chefin und Chef sind frühmorgens mit
Gertrud und Fritz weggefahren. Sie haben einen neuen Mercedes. Das Lokal ist
geschlossen, das Haus ist gespenstisch leer und das Dorf liegt im
Sonntagnachmittags-Schlaf. Ich ziehe mein Sonntags-Jackenkleid an und wandere
durchs Dorf. Dabei sehe ich nur Herrn Abele. Er ist im Sonntagsanzug und grüßt
freundlich. Bei ihm kaufe ich sehr oft ein paar Gläser Yoghurt, weil es heißt,
das Yoghurt mache schlank, es sei im Grund gestandene Milch. Die macht
Großmutter immer noch selbst.
Ich
vermisse den Wald. So streune ich wieder durch die staubige
Kiesgrubenlandschaft.
Überall
werden Häuser und Straßen gebaut.
Ich richte
es so ein, dass ich zum Hotel komme, bevor die Familie eintrifft. Wenigstens am
Sonntag will ich sie nicht sehen. In meinem Zimmer wartet ein Stapel Bücher. Den
Rest des Sonntags werde ich mit Lesen feiern und auch mit ein paar Gläsern
Yoghurt, damit ich nicht dicker werde. Während der Woche habe ich tagsüber und
auch am Abend keine Zeit für Bücher. So lese ich auch mal die ganze Nacht
hindurch, wenn das Buch spannend ist. In der Dorfbücherei habe ich einen neuen
Nietzsche entdeckt, „Die fröhliche Wissenschaft“. Ich habe ihn mitgenommen
zusammen mit Klaus Mehnert, „Der Sowjetmensch“, und noch einem Angelique-Band
dazu. Angelique hat ein gefährliches und schweres Leben unter dem Volk der
Bettler von Paris, aber sie ist mutig. Ihr Ziel ist der Hof von Versailles. Wird
sie es schaffen?
Gestern
Abend ist die Neue eingetroffen. Anneliese, die Büglerin. Sie kommt aus
Niederbayern. Letzte Nacht hat sie in einem Hotelzimmer geschlafen. Nun sitzt
sie mit am Putzfrauen- und Verkäuferinnen-Frühstückstisch. „Weißt du übrigens,
dass ich zu dir ins Zimmer komme?“ fragt sie mich, „ich bin fei schon am
Einziehen.“
In der
Mittagspause helfe ich Anneliese beim Auspacken. Zwischen den beiden Betten ist
der Gang so schmal, dass wir uns gegenseitig anrempeln. Das finden wir lustig.
Die
Waschschüssel soll Anneliese mit mir teilen.
Ihr
Arbeitsplatz ist die Bühne nebenan. Hier besuche ich sie heimlich, wenn Gertrud
die Lieferwagen kontrolliert und im Laden so viele Leute sind, dass die Chefin
keine Zeit für ihre eigenen Kontrollgänge hat.
Anneliese
bügelt bei elektrischem Licht, obwohl draußen die Sonne scheint.
„Wenn das
die Madame wüsste!“ seufzt sie. Die „Madame“ war ihre einstige Chefin, eine
Ungarin. „Wenn überraschend Besuch zu uns gekommen ist, hat die Madame gesagt:
Anneliese, du brauchst nur ins Auge putzen, mehr machst du nicht.“
Sie wischt
mit dem feuchten Bügeltuch ein paar Tränen ab.
„Hier
bleib ich nicht. Sowie ich meinen Monatslohn habe, haue ich ab.“
Angelique
ist aus dem Buch gestiegen.
Wenn
Anneliese zornig mit den Händen fuchtelt, fallen ihr schwarze Haarsträhnen übers
Gesicht. Und hinter diesen Strähnen blinken gefährlich grüne Augen.
Anneliese
macht mir Mut.
Vor dem
Einschlafen schmieden wir Fluchtpläne.
„Geh` doch
mit!“ sagt sie zu mir. „Ich darf nicht, ich bin noch nicht volljährig“, sage ich
in fröhlich singendem Ton, weil ich mich für meine Traurigkeit schäme. Denn
wieder werde ich eine Freundin verlieren. Als ich mit Margot am Zug stand,
wussten wir beide, wir würden nun getrennte Wege gehen. Die langen Jahre auf den
Feldern bei der Ernte, am Waldrand beim Kühehüten – sie waren unsere Freizeit
und sie waren schön und schienen nie zu Ende zu gehen. Nun waren sie schon
Erinnerung.
Aber wir
sagten einander nur: „Schreib` bald!“
Es ist
drei Uhr morgens. Annelieses Zug fährt um vier Uhr. Wir packen hastig, aber
mäuschenstill, damit Frau Thea nicht aufwacht. Die schweren Koffer ziehen uns
beinahe zu Boden, einmal stolpern wir auf der Treppe.Vor dem Hotel ist dicker
Nebel.
Anneliese
winkt mit ihrem Halstuch lange aus dem abdampfenden Zug, bis wir einander aus
den Augen verloren haben.
„Du sollst
gleich zum Chef kommen!“ So begrüßt mich Gertrud, als ich unausgeschlafen die
Treppe herunterkomme.
„Da habt
ihr beide ganze Arbeit geleistet. Ich hab´ euch gesehen, wie ihr zusammen zum
Bahnhof marschiert seid .“ Der Chef sagt es gelassen mit dem immer gleichen,
gebieterisch-herrischen Gesichtsausdruck, der nicht wirklich böse sein kann.
„Ich
möchte heute kündigen“, sage ich, weil mir für eine Entschuldigung nichts
einfällt.
„Ja, du
kannst aufhören. Eine Kündigungsfrist brauchst du nicht einzuhalten“, sagt der
Chef fast väterlich. Ich sage „danke".
„Lila,
hast du auch ein warmes Beinkleid an?“ Schwester Elsa, die Oberin, verabschiedet
Lydia, die Chemielehrerin, am Haupteingang. Schwester Lydia ist im
Sonntags-Schwarz mit leuchtend weißem Diakonissenhäubchen. Sie fährt fürs
Wochenende ins Mutterhaus nach Neuendettelsau.
Ich stehe
mit Loll, Mike und Uscha hinterm Vorhang am Fenster. Wir atmen auf und kichern..
Wenigstens zwei Tage lang wird Lydia nicht durch die Zimmer gehen auf ihrer
Suche nach Staub, wird nicht mit ihrem langen, weißen Zeigefinger über
Bettgestelle und Regale streichen, wird nicht die Symmetrie der Kissen und
Leintücher kontrollieren und uns beiseite winken, wenn wir unflätig aus dem
Speisesaal drängeln. „Du komm mal her! Ja du! Ich werd´ dir zeigen, wie ein
Mädel geht – akkurat und anständig!“ Dabei benutzt sie ihren langen, weißen
Zeigefinger, ihre Augen glitzern amüsiert, ihre schmalen Lippen verzerren sich
boshaft. Wie Jagdtrophäen übergibt sie die erbeuteten Mädchen an Elsa, die
Schwester Oberin. Lydia ist Elsas Freundin.
„Weißt du
noch, Lila, wie streng wir es bei den Englischen Fräuleins hatten?“, fragt Elsa
Lydia in unserer Anwesenheit. „Da wissen unsere Mädels nicht, wie gut sie es
hier haben, nicht?“
Ich hatte
viele Tage geweint, bis Vater einverstanden war.
„Wenn du
es bezahlst, kannst du eine Zeitlang dort was lernen. Hauswirtschaft ist ja
nichts Verkehrtes.“ Ich rechnete nach, wie lange mir das Geld reichen würde, das
ich in der Firma verdient hatte. Mutter hatte immer wieder etwas davon
abgezweigt für die Aussteuer. Und oft hat sie Sachen dazugetan, die ich nicht
bezahlen musste. „Das ist was ganz Gutes“, sagte sie dann zu mir. Sie schaffte
für mich ständig an, Bettzeug aus weißem Damast, weiße Damast-Tischdecken,
Kochgeschirr und Schüsselsätze aus Chromargan, tat ständig auch zum
Silberbesteck hinzu.
Als ich
noch mit Wolf befreundet war, gingen Mutter und Vater zum Schreiner Mack und
gaben für mich ein Schleiflackschlafzimmer in Auftrag: Zwei Bettladen mit
fünftürigem Schrank, zwei Nachtschränkchen und eine Spiegelkommode.
Aussteuer
finde ich doof.
„Ich mache
nicht bis zur Hauswirtschaftslehrerin“, sagt Waltraud. Ich möchte
Jugendrichterin werden. Waltraud nennt mich ihr Botschamberl. Sie kommt aus
Nürnberg. „Ich durfte mal dem Hitler die Hand geben. Aber natürlich kannst du
dir das nicht vorstellen“, sagt Waltraud leise zu mir, während Schwester Rotraut
an die Tafel den Grundriss der Neresheimer Kirche zeichnet. „…hab ihm ein
Blumensträußchen überreicht im weißen Tüllkleid mit Kränzchen auf dem Kopf. Ich
war ganz fertig – so hat der mich angesehen!“
Wenn in
der Nähstunde bei Frau Riemann, der einzigen Weltlichen, das Nähzeug zu Ende
gegangen ist und neu gekauft werden muss, melde ich mich. Ich muss Frau Frank,
Oberin Elsas Sekretärin, meinen Erlaubniszettel vorzeigen, dann gehe ich in der
Sonne den Weg durchs Blumengärtchen und schließlich durch den Torbogen der hohen
Mauer, die uns gefangen hält.
Dann
galoppiere ich über den hölzernen Boden des Wehrgangs rund um die Stadt, halte
mein Gesicht in die Sommerluft und streune zwischen alten Brunnen und
Fachwerkhäusern umher.
Im
Kurzwarenladen drängeln sich die Kunden. So setze ich mich vor die
gegenüberliegende Milchbar und esse Schokoladeneis mit Sahne, bis der letzte
Kunde den Laden verlassen hat.
Frau
Riemann schimpft auf Kölsch, für heute brauche sie das Nähzeug nicht mehr. Und
ein nächstes Mal dürfe ich nicht mehr nach draußen.
Alle Post
geht durch Schwester Elsas Hände. Nach dem Mittagessen ruft sie die Namen auf.
Von Wolf ist eine Karte gekommen. „Viele Grüße aus Salerno! Auf dem Rückweg
besuchen wir die Ewige Stadt. Lern fest, damit du eine tüchtige Hausfrau und
Mutter wirst!“
Die Karte
verstecke ich in meinem Schrank zwischen den Wäschestücken. Ich krame sie
heimlich hervor, sobald Loll und Uscha nicht im Zimmer sind, und ich lese sie
Buchstaben für Buchstaben, Wolfs Buchstaben in steiler Füllfederschrift. Wenn
ich die Augen zukneife, wird daraus der Schattenriss einer Reihe gotischer
Türme. Wolf liebt mich noch.
Schwester
Frida ist die Wäschebeschließerin. Das immer beleidigt dreinschauende
Vogelgesicht sitzt auf einem langen, dünnen Hals und hat nur eine Andeutung von
Kinn. Deshalb schließt die Schleife des Schwesternhäubchens direkt unter dem
Mund.
In der
Schule geht das Gerücht, Schwester Frida werde schikaniert, aber man hört sie
weder klagen noch schimpfen. Schwester Frida unterrichtet nicht, sie
beaufsichtigt. Ihr Zimmer liegt am Ende der Schlafsäle.
Jeden
Sonntagnachmittag führt sie uns in Paarreihen um die Stadt. Dabei geht sie am
Anfang des Zuges und zeigt denen von den vorderen Reihen jede Blume am
Wegesrand. Am allerliebsten mag sie die Gänseblümchen. Da macht sie schon mal
Halt und riskiert damit, dass die Reihen wild durcheinandergeraten.
Ich gehe
mit Mike ganz am Ende des Zuges.
Wir planen
einen Streich, überlegen, was alles nicht geht, zum Beispiel nichts gegen Frida
oder nichts, was schon mal da war oder weil es schief gelaufen war wie der
nächtliche Besuch der Knabenkapelle. Die Jungen waren damals am späten Abend
über die Mauer in unsere Zimmer gestiegen. Die liegen in einem vom Hauptgebäude
getrennten Haus, das man die Villa nennt..
Wir
deckten den Fußboden mit dem ganzen Rest an Säften, Süßigkeiten und aus der
Schulküche geraubten Auflaufbrocken und Kuchen. Als alles aufgegessen war,
einigten wir uns auf den nächsten Besuch nach der Musikprobe.
Dann
verschwanden sie wieder über die Leiter.
Nach dem
Frühstück klingelte damals Schwester Elsa mit der Tischglocke: „Heraustreten!
Und wer gemeint ist, das wissen die, die es vorziehen, zur Nachtzeit mit Jungens
zusammen zu sein.“
„Die
Knabenkapelle geht nicht mehr. Es war eh nur einer dabei, der mir gefallen hat“,
sagt Mike und meint dabei denselben wie ich. Beide würden wir ihn gern
wiedersehen. Die Karte von Wolf lese ich nicht mehr jeden Tag.
„Wir
könnten mal nachts ins Hauptgebäude schleichen und wenn alle schlafen, zu ihnen
in die Betten steigen und hineinpupsen.“ „Das geht doch nicht auf Kommando“,
sage ich, „und wenn es nicht funktioniert, dann ist es kein richtiger Spaß.“
„Man kann
sie auch noch zwicken und grunzen, als wäre es ein Pups“, sagt Mike. Schließlich
einigen wir uns. Lediglich Dorle und Loll wollen mitmachen, die anderen reden
sich feige heraus, es sei kein echter Streich.
Uscha
schläft nicht in der Villa, sondern im Hauptgebäude. Wir trauen ihr nicht und
ausgerechnet bei ihr fangen wir an, weil wir sie im Dunkeln nicht erkennen
können. Sie schreit wie am Spieß und weckt, noch ehe der Spaß beginnen kann, den
ganzen Saal auf. Schwester Frida kommt herbeigerannt und führt uns mit
beleidigtem Gesicht zurück in die Villa. Unseren misslungenen Streich hat – das
haben wir später erfahren – nicht Schwester Frida, sondern Ulla gemeldet.
Elsa
klingelt mit der Tischglocke: „Da ist ja wieder einiges gewesen in der
vergangenen Nacht, nicht?“ Sie zittert mit dem Kopf in unsere Richtung. Bei
diesem Zittern geht es stets um eine Anklage.
Sie ruft
Mike, Loll, Dorle und mich auf und heißt uns aufs Podium zu gehen.
„Da stellt
ihr euch mal in einer Reihe auf und nicht hintereinander!“, sagt Elsa.
„Etwas
sehr Unsittliches hat sich heut` Nacht zugetragen, nicht? Ihr habt euch beinahe
nackt zu den Mädels ins Bett gelegt.“
„Nein, wir
haben das Nachthemd angehabt!“ sagt Mike, „und wir sind nur bis zur Uscha
gekommen.“
„Wir
wollten nur Spaß machen!“ sagt Dorle in viel zu bravem Ton.
„Im
Nachthemd ist man doch nicht angezogen, nicht? Oder wollt ihr das nun behaupten?
Im Nachthemd schläft man im eigenen Bett und geht nicht sonstwo hin. Man mag
sich nicht vorstellen, was ihr euch dabei gedacht habt.“ Elsa zittert nun
heftiger mit dem Kopf und ihr Gesicht bekommt hellrote Flecken.
„Hier geht
es um einen sehr unsittlichen Vorfall an unserer Schule und ich muss mir
überlegen, ob ich euch hier behalten kann“, sagt Elsa in ruhigem Ton, während
sie hastig etwas in ihr Heft kritzelt.
Ich
verharre in Schweigen, blicklos abwesend und doch konzentriert wie ein Vogel,
der sich anschickt, seine Flügel auszubreiten.
Es lohnt
sich nicht, mich zu verteidigen gegen die Mauer, die sich nun greifbar festigt
zwischen mir und ihr. Wenn ich mich verteidigen würde, hätte ich schon verloren.
Als Büßerin wäre ich wieder in den Schoß der Schule aufgenommen.
Leid tut
mir Großvater. Er hat mir versprochen: „Wenn du kein Geld mehr hast, kann ich
die Schule weiter bezahlen.“
„Es gibt
für dich keinen Grund, das Internat zu verlassen“, sagt Elsa.
„Ich
möchte etwas ganz anderes machen, Schwester Oberin“, sage ich artig.
In
Kunstgeschichte nimmt Schwester Rotraut die Prüfung ab und gibt mir eine Eins,
die ich nicht verdient habe.
Vielleicht
kann sie mich nur gut leiden. Ich mag sie auch und bin ihr dankbar. Aber ich
schäme mich, danke zu sagen.
Bin ich
sicher
dass ich
bei dir
umhergehen
kann
ohne den
Stempel
eines
Zwar –
Aber
und ohne
den Stempel
deiner
Gnade
als eine
die
dazugehört
Nichts
Warten
worauf
und doch
ein Gefäß
umschließt
das Nichts
Nichts
geschieht
im Gefäß
des Nichts
außer dem
Hand in Hand
von Gefäß
und Nichts
Ich frage
Vater, ob ich nun Kunst studieren könne.
Tante
Martha meint, ich solle mich bei der Kirche bewerben. Da wäre zum Beispiel die
Evangelische Akademie.
„Manch
einer wäre froh an so einer Stelle“, sagt Mutter, schaut drein, als finde sie
sich endlich mit einer Krankheit ab. Die Krankheit ist ihr Leiden am Abschied.
Bald wird sie wieder „schreib bald“ zu mir sagen müssen.
Ich fühle
mich gespalten in zwei Teile, die gleichermaßen voneinander wegstreben und
zueinander hindrängen, als wären sie nur so ein Ganzes.
Das
Schuldgefühl.
Der
Wiederaufbau macht meine Eltern zu Arbeitssklaven.
Ich
erkenne es, fühle es, trage es mit mir, dieses Gewicht schwerer, schmerzender
Wurzeln.
Mutter –
Vater. Ich möchte euch zur Hand sein.
Als ich
klein war, habe ich dir, Mama, einen Tischkranz geflochten - aus hellblauen
Vergissmeinnicht und dunkelblauen Stiefmütterchen. Dazu mit Erstklässlerschrift
die Gedicht-Strophe abgeschrieben:
Liebe
Mutter, glaube mir, wenn ich groß bin, helf ich dir, dann will ich dir alles tun
und du, du sollst im Sessel ruhn.
Heimweh.
Ich möchte
bei euch bleiben, kleine Schwester - kleiner Bruder, euch immer Geschichten
erzählen.
Ich möchte
bei euch sein, Großmutter – Großvater.
Euer
Warten im Schweigen - an den Feierabenden in der kleinen Wohnküche beim Ticken
der Wanduhr.
Euer
Warten trage ich stets mit mir.
Doch ich
schäme mich, euch dies zu sagen.
Das
Gefühl, nicht bleiben zu können.
Hier wären
die immergleichen Dorfsonntage, der Spaziergang der Eltern zum Wald und zurück.
Und das Warten auf Wolf.
Den
Sonntagsspaziergang verweigere ich seit langem. Die Eltern haben es hingenommen.
Sie wussten, ich würde selbst bei schönem Wetter in der Stube sitzen und malen.
Doch ich
male nicht mehr.
Es bliebe
der Sonntagsspaziergang mit Margot zum Fußballplatz. Doch auch Margot möchte
wegziehen.
Es bliebe
der Kreis des Christlichen Vereins Junger Mädchen, wo man uns zwingt, Reigen zu
tanzen.
Normale
Tanzveranstaltungen gibt es nur manchmal, in Verbindung mit Hochzeiten. Da habe
ich öfters mit Vater getanzt.
Ich muss
mich auf den Weg machen.
Die
Akademie hat hohen Besuch, diesmal nicht den Bundespräsidenten, den wir den
„Papa Heuss“ nennen. Es ist die Gesandtschaft des Haile Selassie, Negus und
Kaiser von Äthiopien. Der sei Christ, sagt Pfarrer Conrad, mein Chef.
„Ich wäre
Ihnen dankbar, wenn Sie Tagungsdienst machen würden!“ Er schreitet
lutherisch-beherzt auf meinen unbesetzten Schreibtisch zu. Ich fühle mich beim
Haarewaschen ertappt, komme durch die Vorhänge mit nässetriefendem Haar,
versuche vergeblich, darauf einen Berg von Frotteetuch zu balancieren, bemühe
mich zu schweben mit einem Ausdruck von Folgsamkeit und Eleganz.
Pfarrer
Conrad indessen ist noch dabei, sich zu bedanken. „Meinem Chaos haben Sie
wahrlich den Garaus gemacht!“ Er wolle sich für dieses gute Werk erkenntlich
zeigen und mich zum Familien-Mittagstisch einladen. Es gebe Reisauflauf.
Eine
Belohnung habe ich mir längst geholt: Während der Aufräumarbeiten habe ich mir
längere Pausen gegönnt und im Chefsessel Bultmann, von Rath, Martin Buber und
Jochen Klepper gelesen.
Zu
Hannelore sage ich bei Kaffee und Zigarette: „Ich bin zu einem pietistischen
Reisauflauf eingeladen.“ „Steh` es einfach durch!“ sagt sie.
Im großen
Sitzungssaal läuft die Diskussion mit den Äthiopiern. Es geht um Politik,
deshalb warte ich draußen mit Dina, bis ich gebraucht werde. Politik
interessiert mich nicht. Ich lese keine Zeitung, nur Bücher.
Dina kommt
aus Indonesien, hat in Holland studiert, spricht auch Holländisch und Englisch,
aber noch kein Deutsch. Irgendwie kommen wir zurecht. Dinas Hautfarbe ist von
stumpfem, dunklem Gelbbraun, die Lippen sind blauschwarz. Die Handflächen der
schmalen, unendlich biegsamen Hände sind rosafarben. Dinas Gesicht scheint nur
aus Unterkiefer und zwei Reihen makelloser, starker Zähne zu bestehen. Den
Lippen gelingt es kaum, sich über dieser Wucht von Zähnen zu schließen.
In Dinas
Elternhaus leben viele Bedienstete. Eine Dienerin hat sie jeden Morgen
angekleidet und gekämmt, auch als sie schon erwachsen war. Ich erzähle, dass ich
als Kindergartenkind gelernt habe, meine Schuhe zu schnüren, erzähle von der
Heu-, der Kartoffel- und der Rübenernte, vom Kühehüten, vom Geschirrspülen,
Bodenwischen und vom Kuchenbacken. „Alle Kinder mussten bei uns arbeiten, also
bei uns im Dorf“, sage ich zu Dina. „Du kannst Kuchen backen!?“ Dina kann es
nicht fassen. „Bei uns arbeiten nur die Armen“, sagt Dina. „Aber sie haben zu
essen, weil wir ihnen Arbeit geben. So sind sie sehr glücklich. Wir wollen gut
sein auch mit den Armen. Sind wir nicht gut, so bestrafen uns die Toten. Die
sitzen auf den Bäumen, aber wir können sie nicht sehen.“
Manchmal
trägt Dina ihre Nationaltracht, schwere Seide in grellbunten Farben unter Gold-
und Silberfäden, dazu Ketten und Armreife aus reinem Gold.
Dina
schenkt mir einen Fächer aus Elfenbein mit Ornamenten aus kleinen Elefanten.
Er soll
mir Glück bringen.
Wir sitzen
auf der Terrasse bei der Rosenhecke und schlürfen unseren Kaffee.
„Ich habe
wieder keine Post bekommen von zu Hause. Es ist Krieg in Indonesien. Sie wollen
Sukarno stürzen.“ Dina weint. „Vielleicht gibt es eine Revolution.“
Nun öffnet
sich die Saaltür. Ich bin wieder im Dienst, halte mich bereit für Fragen der
Gäste.
Pfarrer
Conrad schießt winkend an mir vorbei. Fräulein von Zitzewitz und Frau von
Schaeven stöckeln mit beiden Gesandten vorüber, sind ins Gespräch vertieft. Am
angewinkelten Arm lassen sie sorgsam die Tagungshandtasche baumeln.
Offiziersgattinnen. Die von Schaeven arbeitet für den General a.D. im Parterre
gleich neben der Empfangshalle. Dort planen sie ihre Bundeswehrtagungen.
Angewidert drehe ich meinen
Kopf zur
Seite, wenn ich an diesem Kriegsbüro vorbeikomme. Mein Jahrgang war der erste,
aus dem sie schon wieder Soldaten herausgeholt haben. So musste auch Manfred,
mein Sandkasten-Spielkamerad, zur Bundeswehr einrücken. Vater nennt es
„einrücken“. Als Manfreds Mutter weinte, sagte Vater, die hätten aus zwei
Weltkriegen immer noch nichts gelernt.
Die Gräfin
D. mag ich sehr. Sie ist meine Büronachbarin, arbeitet in der Buchhaltung und
macht viel Unsinn mit Hannelore und mir. „Wenn Ihr nicht endlich die Gräfin
weglässt, dann bin ich böse mit Euch!“, sagt sie und haut uns kräftig auf den
Po.
Die von
Zitzewitz und die von Schaeven beachten mich nicht, nehmen niemals Blickkontakt
mit mir auf.
Im
Vorbeigehen dreht sich der eine der Äthiopier blitzartig nach mir um. Er ist
tief dunkelbraun, seine Gesichtszüge sind aristokratisch gebieterisch.
Da geht
der schönste aller schwarzen Pharaonen – da geht der schönste aller Prinzen aus
dem Königreich der Nubier.
Warum hat
er sich nach mir umgeschaut?
Das war
nicht der Blick der Vikare, stets eifrig bemüht um Geschlechtsneutralität.
Die
Theologiestudentin, vielleicht auch die Gemeindehelferin als die spätere
Pfarrersfrau, scheint eingeplant in ihren Lebensentwurf, so unumstößlich wie das
Examen.
Natürlich
gibt es unter diesen Theologen Ausnahmen. Ich kenne Axel, den Film- und
Fernsehkritiker. Er schreibt für die Kirchenpresse.
„Ich sag`s
nur dir: Überallrum in den Cafés hab ich Schulden. Schreiben kann ich halt nur
in Cafés“, sagte er mir eines Abends im Akademie-Fernsehraum nach
Richard
Kimble in der Serie „Auf der Flucht“. „Du solltest auch deine Filme woanders
abarbeiten, dann müsstest du hier nicht immer auf Berlinerisch
dazwischenquatschen“, sagte ich zu ihm, wissend, dass Axel nur Menschen mit
brutaler Offenheit liebt.
Daraufhin
fuhr ich um Mitternacht mit ihm sowie Rudolf, dem Redakteur der Kirchenpresse,
mit Udo, dem Akademiechauffeur, und mit Erika aus der Teeküche in die Luna-Bar.
Zum ersten Mal sah ich einen Striptease.
„Det is ja
Vorstadt vom Ordinärsten!“, meckerte Axel und grinste fröhlich in sein
Whisky-Glas.
Warum hat
er sich nach mir umgeschaut, mein schwarzer Prinz aus dem versunkenen Königreich
der Nubier?
Ich sehe
nach unter der Rezeptionstheke, in welchem Gebäudeteil sein Zimmer liegt. Es ist
die zehnte Tür nach dem Eingang zur Hauskapelle. Nur – was nützt mich, zu
wissen, wo sein Zimmer liegt?
Mein
Dienst ist zu Ende. Dina hängt sich an mich, wird immer mehr zur Klette. Erika
wundert sich, dass ich nicht beim Abtrocknen der Gläser helfe. Ich müsse gleich
noch in mein Büro, sage ich. „Soll ich mitkommen?“, fragt Dina weinerlich.
„Nein! Pfarrer Conrad kommt gleich!“, schreie ich sie an.
Ich gehe
ins Büro, schminke mich am Waschbeckenspiegel hinter dem Vorhang.
Draußen im
Vorraum wieder mal Klimpern und ausgerechnet jetzt!
Sollte
Pfarrer Conrad hereingestürmt kommen – ich könnte seine Schritte nicht hören
wegen dem Blödmann am Flügel.
Die
äthiopischen Gäste sitzen im großen Speisesaal beim Abendessen. Ich hole mir
einen Happen bei der Köchin und gehe damit ins Nebenzimmer. Dort kann ich es
hören, wenn im Saal Aufbruchstimmung ist.
Schon
verabschieden sich ein paar Leute.
Ich habe
eines der roten Gesangbücher bei mir, die in der Akademie-Kapelle aufliegen.
Sollte mir Conrad begegnen und mich auf das Gesangbuch hin ansprechen, werde ich
sagen, dieses Gesangbuch hätte ich versehentlich mitgenommen und wolle es nun
zurücktun. Niemand begegnet mir, die Tür zur Kapelle steht offen. Hier müsste e
r vorbeikommen. Ich müsste also vor der Kapelle rechtzeitig in die
entgegengesetzte Richtung gehen, um ihm wie zufällig zu begegnen.
So lege
ich mein rotes Gesangbuch auf eine Bank und verstecke mich hinter dem Altar.
Einmal
höre ich den Schritt der Wirtschafterin. Sie wäre die Person, die hinter den
Altar schauen könnte. Sie hätte eine gewisse Ahnung, weil sie mich nicht leiden
kann.
Ich sitze
in der Hocke. Nach einer halben Stunde schmerzen die Knie. Dann lege ich mich
auf den Bauch neben dem Altar, aber so, dass ich jederzeit den Kopf hinter den
Altar zurückziehen kann.
Nun höre
ich einen ruhigen, gleichmäßigen Schritt, keinen Akademiepfarrer-Schritt, der
ist schnell, nimmt bis zu drei Stufen. Keinen Frauenschritt.
Ich gehe
hinaus, er kommt auf mich zu und sagt: „Guten Abend, sind Sie hier beschäftigt?
Ich habe Sie heute schon gesehen. Sie haben blaue Augen, eine weiße Haut und
schwarzes Haar.
Haben Sie
Lust, noch ein bisschen mit mir im Park spazieren zu gehen? Es ist noch zu warm,
um zu schlafen. Ich heiße Abebe Wolde Mikael. Der Vorname ist Mikael. Ich bin
der Gesandte von Haile Selassie.“
Wir gehen
durch die Dunkelheit. Mikaels Hautfarbe verwandelt sich in reines Schwarz. Seine
Augen leuchten weiß. Von den Wiesen her duftet es nach Heu und im Park duftet
der Jasmin. Es ist Sommer.
Mikael
fragt, ob ich ihn einmal in Tübingen besuchen komme. Er habe ein Zimmer in der
Neckargasse. „Was machst Du nächstes Wochenende?“
Er fragt,
ob er meine Eltern kennenlernen dürfe, zwei Wochen nur sei er noch in
Deutschland. „Ich habe viel Zeit. Die Universiät ist nicht so wichtig.“ Mikael
spricht gut Deutsch.
„Warum
willst du meine Eltern kennenlernen?“ frage ich ihn. „Ich möchte Dich heiraten.
Ich bin
Christ und werde nur eine einzige Ehefrau haben. Du bekommst Dienerinnen und
Diener. Du wirst es gut haben. Und ich liebe Dich.“
Er
verabschiedet sich mit einem Kuss auf meine Stirn. „Ich besuche Dich nächstes
Wochenende“, sage ich zu ihm.
Vom
schmalen Weg an der Neckarpartie gehen Stufen zur Kneipe von Tante Emilie.
Die Kneipe
gleicht einer Wohnküche.
Studenten
sitzen rauchend vor überquellenden Aschenbechern, diskutieren.
Am
Nebentisch sagt einer immer wieder das Wort „systemimmanent“.
Es geht
wohl um Politik.
Mikael
flirtet artig mit Tante Emilie. Die lässt sich nicht beirren in ihrer robusten
Freundlichkeit, entschuldigt sich, sie müsse weitermachen und „ihre Buben“
bedienen.
Auf
Mikaels Nachttischchen liegen zwei Bände von Hegel. „Ich verehre Hegel, weißt
Du…
seine
Philosophie vom Staat und so“, sagt Mikael, als ich mir die Bücher ansehe.
„Du wirst
ihn einmal lesen und ihn gut finden. Aber heute lesen wir nicht Hegel.“
Er nimmt
mich in die Arme, küsst mich auf den Mund.
Ich fühle
nichts. Er ist nicht mehr der nubische Prinz, der schwarze Pharao. Er ist ein
junger Mann in Rollkragenpulli und Popelinehosen, der Hegel liest. Verlegen
steht er neben dem zerwühlten Bett.
Mikaels
Verwandlung beschäftigt mich. Ich möchte mich verabschieden.
„Wir
verloben uns heute“, sagt Mikael. Behutsam legt er mich aufs Bett. Sein Blick
ist nun über mir. Dann schiebt sich wie eine Trennscheibe Vaters Gesicht
zwischen unsere Blicke. Vater sieht strafend auf mich herunter.
„Wann darf
ich mit Deinen Eltern reden?“ fragt Mikael, als wir uns anziehen. „Ich sag es
Dir später“, antworte ich ihm und weiß, ich werde ihn nicht wiedersehen.
Mikael
gibt mir eine Visitenkarte mit seiner Adresse. Auch eine Telefon-Nummer steht
dabei. „Da wirst Du mich immer erreichen. Ich warte auf Dich.“
Ich wohne
im „Heim der Freundinnen junger Mädchen“.
„In
München findest du kaum ne Wohnung“, sagt das Mädchen im Stockbett über mir.
„Ich such schon wochenlang. Und lass dich hier nicht beim Rauchen erwischen!“
Sie klettert herunter, in einer Hand die brennende Zigarette, mit der anderen
greift sie unter mein Bett und schiebt den Kleiderhaufen beiseite, um für meine
Koffer Platz zu schaffen.
Ohne
Frühstück gehe ich meinen Weg zum Stachus, vorbei an kleinen Milchgeschäften und
Bäckereien. Es riecht nach Morgen und frischen Semmeln. geben. Auf dem Trottoir
gehen junge Männer mit schulterlangem Haar, einige in Holzsandalen, andere
barfüßig, fast alle mit Einkaufsnetz. Ich bin in Schwabing.
Nach einer
Weile Fußmarsch stehe ich am Stachus, erlebe seinen Mythos. Oft habe ich davon
gehört. Es ist der Mythos von Motorenlärm und wildem Hupen, von Autofahrern, die
sich nicht an Regeln halten, von Verkehrsschutzmännern, die über all das
hinwegsehen.
In diesem
Riesen-Chaos bin ich eine Ameise und zugleich auch eine Münchnerin.
Ich muss
lernen, dass beides zusammengehört.
Nun zeigt
der Verkehrsschutzmann über den Platz und geleitet mich so in die Arco-Straße.
„Meine
Süße“, sagt mein Chef, der Rechtsanwalt, „Sie werden lernen müssen, für die
einzelnen Vorgänge die richtigen Formulare und die dazugehörigen Durchschläge zu
verwenden. Ich mache Ehescheidungen, Verkehrsunfälle, ab sechs Uhr abends ist
Besuchszeit. Um sieben bin ich vom Gericht zurück. Bis dahin müssen Sie die Post
zur Unterschrift fertig haben. Sie sorgen auch dafür, dass immer Kaffee und
Kekse vorrätig sind für die Mandanten. Den Kaffee kochen Sie in der Küche
nebenan.
Vor allem,
meine Süße, hier wird entweder Hochdeutsch oder Bayrisch gesprochen. Sie tragen
bei mir auch bittschön einen Rock und keine Hosen!
Das Büro
schließen Sie morgens um acht Uhr auf. Ich bin jetzt mal drüben beim Gericht.“
Nun nehme
ich schon mal in stiller Trauer Abschied von meinen Hosen. Die trage ich
dreiviertellang in Popeline mit Aufschlag, manchmal dazu einen Nicki mit
Nicki-Tuch.
Das passt
dann wieder nicht zum Rock.
Als ich an
mir heruntersehe, entdecke ich im Schritt der Hose einen großen Blutfleck, der
sich in Schmetterlingsform nach beiden Seiten ausgebreitet hat.
Die
Periode hätte ich noch nicht erwartet.
Dr. Seidl
ist der Partner meines Chefs und arbeitet im Zimmer nebenan. Er kommt erst am
späten Vormittag, setzt sich zuerst in Hut und Mantel neben meinen Schreibtisch.
„Heut geh ich mit Ihnen rüber zum Landgericht. Da hab ich unlängst dringesessen
beim Vera-Brühne-Prozess. Später zeig ich Ihnen die Gerichtsvollzieherei.
Dorthin müssen Sie öfters. Aber Sie sollten unbedingt einen Abendlehrgang machen
für Anwaltsgehilfen. Ich geb Ihnen schon mal das gute Lehrbuch hier.“
In der
Mittagszeit renne ich mit Hilfe des Verkehrsschutzmanns über den Stachus ins
nahe Kaufhaus. Das nennt man „Supermarkt“. Noch nie habe ich ein so riesiges
Geschäft gesehen mit so vielen Stockwerken. Im Erdgeschoss stehe ich vor der
langen Theke, darüber hängt ein Schild: „Selbstbedienungs-Restaurant“. Eine Frau
beobachtet mich freundlich.
„Jetzt
holen`s erst das Tablett, dann die Speis und erst am Schluss bezahlen`s.“
So müssen
die Supermärkte in Amerika aussehen.
Mit der
gekauften Semmel und dem Fleischsalat gehe ich über den Stachus in den Garten
der Kleinen Pinakothek, setze mich dort auf eine Bank und lese, während ich
esse, im „Anwaltsgehilfen“.
Zum
Abendlehrgang kann ich mich nicht anmelden. Den Abend muss ich nützen, um Kunst
zu studieren.
Ich
schweife ab mit meinen Gedanken, mache ein paar Notizen: Die Kurse an der Uni
beginnen um sieben Uhr. Also müsste ich um sechs Uhr Feierabend haben.
Teilzeitarbeit wäre toll. Doch das Geld würde nicht reichen. Nicht mehr als
dreihundert Mark wären es bei meinem Chef, für mein möbliertes Zimmer bezahle
ich hundert Mark.
Den
Notizzettel werfe ich zusammen mit dem Vesperpapier in den Papierkorb neben mir.
Mein Chef
vergibt keine Teilzeitarbeit.
Sonntag.
Auf dem Weg zum Englischen Garten treffe ich Straßenmusikanten. Sie tragen Blue
Jeans, man sagt dazu Schlaghosen. Die weiten sich nach unten und schleifen
beinahe am Boden. In einer Illustrierten habe ich gelesen, in London gebe es
schon den Mini-Rock. Er ist eng und reicht nicht mal bis zum Knie. Als wollten
sie dagegen protestieren, tragen zwei der Straßensängerinnen lange Röcke und
weite, dünne Baumwollblusen ohne BH.
Einer
spielt nun auf der E-Gitarre, singt das Lied von den Beatles: „Let it be…“.
Alle
singen. Junge Straßenpassanten kommen dazu, stehen im Kreis, ich stelle mich zu
ihnen und alle summen mit und wippen mit Hüften und Armen.
Die Heimat
der Beatles seien die Industrieviertel Liverpools, dort herrsche pure Armut,
heißt es im Radio. Und die Beatles seien „in“, die Jugend höre ihre Lieder im
entlegensten Winkel der Erde. Eine neue Musik gehe um die Welt - der Beat.
Nun höre
ich häufig die Beatles und nicht mehr so oft Elvis.
Ein paar
der Herumstehenden tragen schon den Beatles-Pilzkopf: Wuschelhaar, das die Stirn
bedeckt und die Ohren bis zu den Ohrläppchen. Einige der Mädchen tragen das Haar
lang bis über die Schultern. Das Pony reicht bis zu den Augenbrauen.
Nun sagt
der E-Gitarrist einen Protestsong an von Joan Baez. Sie singe auch schottische
Balladen und Folk. Joan Baez singe gegen den Vietnamkrieg an und auch gegen die
Atomrüstung. In den Universitäten der USA gebe es schon viele Sit-ins, auch
gegen die Politik der Rassentrennung in den Südstaaten. Sit-ins, das seien
friedliche Demonstrationen. Und friedlich wollten auch sie demonstrieren mit
ihrer Straßenmusik.
Heute sehe
ich sie in großer Zahl. Im Englischen Garten sitzen oder liegen sie herum in
kleinen Grüppchen, manche mit ihren Hunden. Die Bevölkerung nennt sie „Gammler“
oder „Chaoten“. Sie protestieren mit ungewaschenem Haar, mit zerlumpter Kleidung
und mit ihrer Schlafstatt im Freien. Heute protestieren sie teils nackt. Im
Radio heißt es, ihre Verweigerung richte sich gegen die bürgerliche Ordnung und
gegen das Gehorsamsdiktat des Staates.
Auch James
Dean hat protestiert, mit schnellen Autos, mit Zornesattacken gegen die Eltern
in „Jenseits von Eden“. Seinen Protest konnte er nicht zu Ende denken. Er ist
mit zu hoher Geschwindigkeit gefahren.
Nun trifft
die Polizei ein mit Hunden und Schlagstöcken. Eine Gruppe weigert sich
geschlossen, den Rasen zu verlassen. „Nun rückt mal alles raus, was ihr so habt
an Heroin und Marihuana!“ sagt ein bewaffneter Polizist und grinst auf die
Gruppe hinunter, die zu seinen Füßen teilnahmslos im Gras kauert. Einer von
denen benutzt das Reizwort. „Ihr Bullen habt uns nichts zu befehlen!“ Als hätten
sie nur darauf gewartet, kommen Polizisten aus dem Hinterhalt, prügeln mit ihren
Schlagstöcken auf die „Gammler“ ein. Ein paar von ihnen bluten, auch ein Mädchen
ist unter den Verletzten.
Amar ist
Algerier. Er kommt des Weges im Garten der Kleinen Pinakothek, setzt sich zu mir
auf die Bank. Ich reagiere nicht, lerne im „Anwaltsgehilfen“, esse nebenher
meine Semmel mit Fleischsalat vom Selbstbedienungsrestaurant, denn es ist
Mittag.
Amar nennt
seinen Namen, entschuldigt sich auf Französisch, spricht zwischendurch auch
gebrochenes Deutsch. Er sei eben aus seinem Land geflohen. Jahrelang habe es
Krieg gegen Frankreich gegeben. Nun sei Waffenstillstand und Algerien sei
unabhängig, doch seine Familie werde verfolgt. Sein Vater habe für die
französische Regierung gearbeitet. Er bekomme keine Post von den Eltern.
Vielleicht seien sie im Gefängnis. „Ma famille était très
privilégiée.“
„Ich weiß
nichts über Politik“, sage ich zu Amar. „Isch liebe Deine Augen“, sagt er darauf
nur.
Mittags
lerne ich nun nicht mehr im „Anwaltsgehilfen“.
Mit der
Tram fahre ich täglich nach Bogenhausen. Dort arbeitet Amar in einer Wäscherei.
Eine Stunde später muss ich zurück an meinem Schreibtisch sein.
Während
der Fahrt esse ich ein Vesperbrot. Das heißt im Supermarkt „Sandwich“.
In der
Wäscherei arbeite ich mich durch den Wasserdampf, entdecke schließlich Amar und
ein paar Frauen, die einander durch den Wasserdampf in derbem Bayrisch etwas
zurufen. Sie scheinen über mich und Amar zu lachen.
„Hier kann
ich nicht arbeiten“, sagt er, „ich habe nie gearbeitet, bin nur zur Schule
gegangen, weißt du“, sagt er. Sein Lächeln ist arrogant-nachlässig, hat
Leidenszüge, er schickt es in Richtung der Frauen.
Sonntag in
Amars Zimmer. Die Küche gehört der Vermieterin. Sie ist sehr alt und stellt sich
mir als Fräulein mit ihrem Nachnamen vor. Dann verabschiedet sie sich, sie
besuche eine Freundin. Sie freue sich, dass Amar ein so nettes deutsches Mädchen
kennengelernt habe.
Wir
sollten aber nach dem Kochen die Küche aufräumen.
Als sie
gegangen ist, kochen wir Spiegeleier mit Tomatensoße aus der Dose. Seine
Lieblingsspeise, sagt Amar, anderes Essen könne er nicht kochen.
Nach dem
Essen streiten wir uns lange, weil Amar immer noch Musik vom algerischen Sender
hört.
„Ich habe
Heimweh“, entschuldigt er sich.
„Du musst
mit mir nach Paris kommen. Dort wirst du Zeit haben, Kunst zu studieren. Wir
werden beide nicht mehr so viel arbeiten. „Woher soll das Geld kommen?“ frage
ich. „In Paris wohnt ein guter Freund meiner Familie. Er ist sehr reich und er
wird uns helfen.“
Etwas
verbindet mich mit Amar. Ein Teil von Mikael ist zu mir zurückgekehrt. Ich fühle
es, aber ich kann es nicht benennen.
Wir
diskutieren immer noch über Amars Plan. Währenddessen läuft das Radio mit
algerisch-arabischer Musik. Was mich nervt, ist auch der schlechte Empfang.
Das alte
Fräulein kommt am frühen Abend schon zurück, sieht die Küche in absolut
verdrecktem Zustand. „Sogar auf dem Boden liegen die Eierschalen und Tomaten!“
schimpft sie zur Tür herein. Wir versprechen, sofort sauber zu machen. „Nein!“,
jammert sie, „Ihr kommt mir nimmer in die Küche!“
Meine
Eltern reisen mit dem VW-Käfer an zum Oktoberfest. Auch meine kleinen
Geschwister sind mitgekommen. Das freut mich unsäglich. Ich erzähle von Amar.
Vater wird
zornig: „Die Sorte haben wir im Krieg kennengelernt, ringsum verschlagen. Und
dazu sind die alle Mohammedaner. Der wird dich eines Tages mitnehmen nach
Algerien!“ .
Ich bin
unendlich traurig. Immer schon habe ich mir geglückte Besuche gewünscht.
Besuche,
bei denen die Familie mir gehört, Besuche mit Verwandten, Besuche, bei denen
jeder gehört wird, jeder wichtig ist und sich glücklich fühlen soll.
Im
Elternhaus ist kaum Zeit dafür, denn dort ist immer Besuch, im Geschäft während
der Woche, in der Wohnung an den Abenden und an den Sonntagen - wenn die Kunden
läuten, um Vergessenes zu kaufen – wenn Vater die Vereinskameraden eingeladen
hat und mit ihnen diskutiert, sei es über ein Musikstück oder das geplante
Theater. Immer bin ich Teil dieser Besuche, bin ein Teil, der nicht gehört wird.
Nun stehen
wir mitten im Tingeltangel der „Wies`n“. Mutter weint, meine Schwester weint mit
ihr. Mein kleiner Bruder dreht sich beiseite und trocknet heimlich seine Tränen.
Vaters Blick folgt verzweifelt einem Karussell.
„Ich habe
alles organisiert“, sagt Amar zu mir, während ich am Stachus die Anwaltspost
einwerfe. Wie jeden Abend habe ich bis acht Uhr gearbeitet. „Du solltest gleich
zu deinem Zimmer gehen und packen, der Zug geht morgen früh um fünf Uhr nach
Paris. Unsere Fahrkarten habe ich schon gekauft. Um vier Uhr hole ich dich ab.“
Ich
bekomme Angst. Sie diktiert mir, einverstanden zu sein. Während ich versuche,
Amars Blick standzuhalten, entwickle ich meinen Plan. Irgendwann vor vier Uhr
würde heute Nacht ein Zug fahren, in den ich einsteigen, mit dem ich fliehen
könnte.
Mir bleibt
wenig Zeit zum Kofferpacken. Ich will es schaffen.
Um drei
Uhr nachts stehe ich am Hauptbahnhof, suche den Zug, der sofort fährt.
Hauptsache, in irgendeine Richtung. Ich weiß ja nicht, wohin ich fahren soll.
Um vier
Uhr fährt ein Zug nach Heidelberg. Nun würde Amar schon vor meiner Tür stehen.
Ich bezahle zitternd die Fahrkarte, steige ein. Der Zug fährt an, wird
schneller, nichts kann ihn mehr zurückhalten. Mit seinem ansteigenden Tempo gibt
er mir mein Urgefühl zurück.
Ich fühle
mich befreit, hinweggetragen, ich schwebe.
Auf
Heidelberg strahlt die Morgensonne. So liegt es eingebettet zwischen seinen
grünen Hügeln.
Erst plane
ich, meine Flucht zu feiern, frühstücke gemütlich in einer Weinlaube, genieße
die Sommermorgenluft, den guten Kaffee und die frischen Brötchen. Ein junger
Mann setzt sich zu mir. Er ist blond und sehr groß, sieht nicht aus wie ein
Heidelberger Student, trägt ein weißes Hemd mit Krawatte und einen hellgrauen
Anzug. Er fragt, nachdem er schon sitzt, ob er an meinem Tisch frühstücken
dürfe.
Er arbeite
in Portugal bei einer deutschen Firma, Exportabteilung, spreche fließend
Spanisch und Portugiesisch. „Ich kann Sie überzeugen“, sagt er und redet ein
paar Sätze Spanisch mit mir, vielleicht ist es auch Portugiesisch.
Was ich so
arbeite, fragt er mich. „Ich bin dabei, Arbeit zu suchen“. Von München erzähle
ich ihm kein Wort.
„Sie
könnten in meiner Firma arbeiten und dort auch perfekt Portugiesisch lernen,
natürlich auch Spanisch.“ Für einen Moment sage ich mir, jede Firma müsste ihn
allein wegen seiner Stimme einstellen.
Er gibt
mir die Adresse einer portugiesischen Firma. „Dort bin ich in zwei Wochen wieder
zu erreichen.“
Inzwischen
hat er mir das Du angeboten.
Nun greift
er hektisch in seine Hosen- und Jackentaschen. „Mensch, ich hab total die Zeit
vergessen! Und obendrein noch meinen Geldbeutel! Könntest du mir hundert Mark
leihen? Mein Freund hat heut Geburtstag. Ich muss ihm schnellstens ein Geschenk
kaufen. Wir haben Samstag und bald schließen die Geschäfte. Du glaubst nicht,
wie mir das alles peinlich ist!“ „Ich glaub`s dir schon“, sage ich und gebe ihm
die hundert Mark.
Dann sitze
ich und warte, überlege, wie lange man braucht, um ein Geschenk auszusuchen.
Vielleicht
würde er anschließend ins Hotelzimmer gehen und seinen Geldbeutel holen.
Nach einer
Stunde Warten kommt die Wirtin an meinen Tisch. Ich bestelle ein Getränk.
Dann hole
ich mir eine Zeitung, kann mich nicht konzentrieren, gebe aber vor, zu lesen.
Nach einer
weiteren Stunde bezahle ich zwei Frühstücksgedecke und mein Getränk.
Dann gehe
ich mit meinen Koffern zum Bahnhof, setze mich in den Zug und fahre nach Hause.
Gewandert
über
sieben Berge
geträumt
deinen
Traum
geschluckt
den Apfel
zurückgekehrt
mit dem
Schweigen des Schnees.
Sich
verstecken
hinter dem
Versteck
dass eins
minus eins
null macht
und
man dich
finde
im runden
Schweigen
der Null
Da wird
keiner
dich
suchen
da gehst
du zweibeinig
unter
zweibeinigen Zitaten
du gehst
einkaufen
tust deine
Arbeit
und redest
durch eine
Wand
aus Glas
Eben habe
ich in einen Eimer gepinkelt, in meinen Pinkeleimer eben. Den stelle ich in die
Bühnenkammer unter der Dachschräge zu den Koffern. Abends entschließe ich mich
doch noch zum Haarewaschen und Duschen, nehme in die eine Hand den mit einem
Frotteetuch bedeckten Pinkeleimer, in die andere meinen Schlüsselbund und gehe
zwei Stockwerke tiefer zu Bullingers Wohnung. Dort kann ich auch das Bad
benützen. In meiner Mansarde gibt es nur ein winziges Waschbecken mit
Kaltwasserhahn.
Nach dem
Duschen - mein Haar nässt ungemütlich über beide Schultern auf den Bademantel –
stellt sich mir Bullinger in den Weg. „Hätten Sie Zeit für ein kleines
Schnäpschen?“ Dabei schiebt er mich in sein Wohnzimmer, drückt mich in eine Ecke
der Couchgarnitur, geht zur Musiktruhe und legt eine Freddy-Platte auf: Seemann,
deine Heimat ist das Meer…
Die
Wohnwand hat eigenes Licht. Man sagt dazu „indirekte Beleuchtung“. Bullinger
öffnet die Klapptür eines Getränkefachs und holt eine Flasche mit zwei
Schnapsgläsern herüber auf den Couchtisch.
Eine
Zimmer-Kündigung kann das nicht bedeuten. Seit meiner letzten, wochenlangen
Zimmersuche sitzt mir die Angst im Nacken. Die damalige Vermieterin, sie stammt
aus Siebenbürgen, fragte mich an der Haustür: „Sind`s Ausländerin? Sie sehen
ausländisch aus so mit weißer Teddykappe und schwarzem Haar.“ Und die
italienischen Gastarbeiter würden den Deutschen nix wie nur die Arbeitsplätze
wegnehmen. „Und wir sind Deutsche!“
Nun stimmt
Bullingers Freundlichkeit auch mich freundlicher. „Ich schäme mich, weil ich im
Bademantel und nicht angezogen bin“, sage ich. „Ja meinen Sie, ich weiß nicht,
wie eine Frau im Badmantel und untendrunter aussieht! Lassen Sie mich aber
zuerst sagen: meine Frau ist abgehauen mit samt unserem Kind. Seitdem die
arbeitet, ist ihr bei mir nichts mehr gut genug. Zu meiner Mutter hab ich gleich
gesagt, kümmere du dich nicht ständig um das Kind, dann bleibt sie auch daheim,
nämlich da, wo sie hingehört. Sie können übrigens jetzt, wo meine Frau weg ist,
auch mal meine Küche benützen.“ Ich sage „danke“ und lächle nur schwach. Ich
habe mich dagegen entschieden, gegen alles, was mich hier umgibt.
Bullinger
prostet mir zu, trinkt mit einem Zug das Glas aus. „Trinken Sie doch leer, ich
will nachschenken. Auf einem Bein kann man nicht stehen!“ Ich sage, während ich
meine Mundwinkel zum Lächeln zwinge, „alkoholische Sachen mag ich nicht so.“ Er
bietet mir eine Marlboro an. Ich sage: „Ich rauche nicht.“ Er zieht nervös an
seiner Zigarette. Seine Augen werden angriffslustig. „Übrigens, und das wissen
Sie besser als ich, gegenüber wohnt der Mieter meiner Nachbarin. Sie hat mir
erzählt, Sie beide würden sich öfter von Fenster zu Fenster unterhalten. Was mir
aufgefallen ist, Sie sind mit ihm schon mehrmals an meinem Haus vorbeispaziert.
Nur der Ordnung halber möchte ich nochmal betonen, was auch im Mietvertrag
steht. Also kein Männerbesuch, nicht bei Tag und nicht bei Nacht! Sonst kann man
mich schuldig sprechen wegen Kuppelei. Ich hoffe, Sie kennen den
Kuppeleiparagraphen.“
Weil mir
nichts anderes einfällt, sage ich nur „ja“ und ich sei sehr müde, möchte gehen
und mich auch nochmals bedanken.
Dann nehme
ich hastig zwei Stufen zum dritten Stockwerk. Wieder ist da die Wohnungstür
einen Spalt weit offen. Wieder erschrecke ich für einen Moment, denn dahinter
steht Bullingers Mutter und bügelt. So kann sie nebenbei den Treppenabsatz
überblicken.
Ich nehme
sie nur wahr über die Bügelgeräusche und bin froh, dass ich nicht grüßen muss.
Ein
Stockwerk höher mache ich die Tür hinter mir zu und schließe ab. Ich habe Angst.
Die Röcke
werden kürzer. Ich sehe es auf der Straße und in den Schaufenstern. Also
schneide ich meine Röcke wieder ein Stück weit ab und richte den Saum bis zum
Knie.
Es ist
Sonntag.
Rüdiger
macht Besuch bei seiner ehemaligen Vermieterin. Sie ist um die fünfzig. Rüdiger
mag Frauen, die älter sind als er. „Es ist besser, wenn du nicht mitkommst, die
wird sonst eifersüchtig. Ich hab ihr viel zu verdanken, den Zugang zur
klassischen Musik und den Tipp, das Abi am Abendgymnasium zu machen.“
Ich
verstehe. Rüdiger möchte auch nicht auf das Pfännchen zum Wochenende verzichten,
zwei Schweinekoteletts, in Butter gebraten. Die essen wir fast immer gemeinsam.
Ich habe
Hunger. Draußen stürmt es, also verzichte ich auf die Currywurst vom Kiosk,
benütze schon gar nicht Bullingers Küche. Das habe ich mir versprochen.
In die
größte von Mutters Cromargan-Schüsseln lasse ich kaltes Wasser einlaufen, bringe
es mit dem Tauchsieder zum Kochen. Dann schütte ich Reis in eine Ecke der
Schüssel. Wenn er sich durch das Garen langsam ausbreitet, nehme ich den
Tauchsieder heraus und rubble unterm Kaltwasserhahn die festgeklebten Reiskörner
ab. Sobald das halbfertige Gericht abzukühlen droht, gieße ich Wasser nach und
bringe das Ganze mit dem Tauchsieder wieder zum Kochen. Nach etwa einer Stunde
ist der Reis weichgekocht. Ich esse ihn mit einem Stück Butter und mit Salz und
Curry.
Rüdiger
kommt mit einer Liste voller Buchtitel. „Literatur, die man gelesen haben muss
bis zum Abi. Nimm sie dir mal vor.“ Ich sage, „die hab ich alle gelesen, sieh
bei mir nach, du findest darin meine Notizen.“ Rüdiger wird misstrauisch bei
Kleist, prüft nach und ist schließlich zufrieden.
Einmal im
Monat gehe ich mit Rüdiger zum Konzert in die Liederhalle. Ich weine bei Brahms
Vierter in e-moll. Auf ihr treibe ich verloren wie auf Meereswellen. Ich weine
auch bei Gustav Mahler. Nur Bach, Haydn, Mozart geben mir den Schutz des Raumes
von Himmel und Erde, bringen mathematische Klarheit, Lösung, Trost, Heiterkeit.
Doch nur
Mozart kennt das Wunder. Das Wunder selbst hat ihn auf die Erde entsandt mit
einer Botschaft. Sie ist mehr als die Lösung. Sie ist das warme, goldene Licht.
Es hat keinen Namen. In diesem Licht stehen die Erzengel und ihre Flügel tragen
sie wie Waffen.
„Die Sonne
tönt nach alter Weise…“, so beginnt der Prolog im Himmel zu Goethes „Faust“. Der
Prolog ist eines von Vaters Lieblingsgedichten. Damals, als ein vom Krieg
heimgekehrter Soldat, hatte er noch die Zeit, Mutter und mir vorzulesen. Da
waren wir noch in einem Schutzraum des Aufbruchs, eines Aufbruchs in Muse. Dann
kam der Wiederaufbau.
Rüdiger
drängt mich, auch Mahler und Bruckner zu hören. „Wenn du sie nicht so magst,
dann lernst du sie wenigstens kennen“, sagt er. „Ich mag nicht, wenn die Leute
zum Takt den Kopf wiegen und du es ihnen nachtust“, quengle ich herum.
In der
Pause flüstert mir Rüdiger ins Ohr, da sei zu viel Bildungsbürgertum, er möge
diese Sorte auch nicht. „Mein Vater war Industriearbeiter. Aber gerade deshalb
werd ich`s ihnen noch zeigen.“ „Dann wirst du so werden wie sie und ich werde
dir nicht mehr genügen“, sage ich. „Drum werden wir bald aus dir einen Menschen
machen“, lacht Rüdiger und legt den Arm um mich. Nun fühle ich mich umsorgt als
ein Nichtmensch, als eine Nichtmenschin und Äffin. Und als solche gehöre ich
nicht hierher. Ich renne zum Ausgang, Rüdiger rennt hinter mir her, holt mich
ein: „Maggie, bleib stehen! Geh nicht fort! Dich muss man einfach provozieren.
Warum? Du bist zu wenig ehrgeizig!“ Er nimmt mich unter seine Achselhöhle. Seine
Hände sind ganz nahe an meinem Gesicht. Sie sind mit rotgoldenem Härchenflaum
bedeckt und sie riechen nach nassem Holz. Ich schweige. „Mein Wikinger“, denke
ich. Rüdiger kommt aus dem Norden.
Präsident
John F. Kennedy ist tot. Am Radio höre ich, dass jemand aus einem Fenster auf
ihn geschossen habe, als er im offenen Wagen durch die Menschenmenge fuhr.
Kennedy
sei das Idol und die Hoffnung der Jugend gewesen, auch in Europa, heißt es am
Radio. Unvergessen seien seine Worte „ich bin ein Berliner“. Die habe er damals
bei seinem Besuch in der geteilten Stadt an die ihm zujubelnden Westberliner
gerichtet.
Kennedys
Politik interessiert mich nicht. Ich habe ihn verehrt wegen seiner Lässigkeit.
Die hat meine Erinnerung wachgerufen an die Zeiten der Besatzung: Sie kamen
hochgewachsen, mit federndem Schritt, der aus der Hüfte kam, hingen lässig
herum, stützten sich ab, lehnten sich an, kauten Kaugummi und ließen aus den
fahrenden Jeeps die Beine heraushängen. Sie brachten den Charme einer fremden
Welt.
Ich
besitze den John F. Kennedy als Buchzeichen, ausgeschnitten aus einer
Illustrierten und aufgeklebt auf einen stabilen Karton. Nun stelle ich ihn auf
meinen kleinen Tisch, angelehnt an eine Limonadenflasche.
Rüdiger
ist nicht zu Hause. Über der Stadt hängt der Novembernebel, die Straßenpassanten
gehen schweigend ihres Wegs.
Bei
Woolworth sehe ich einen BH in milchigem Rosa mit weißen Baumwollspitzen. Der
müsste auch Rüdiger gefallen. So kaufe ich das Wunder in Weiß und Rosa und
vergesse dabei das Kennedy-Attentat.
„Auf der
Stelle trägst du den BH zurück zu Woolworth“, sagt Rüdiger, „du kannst den
Nutten-Fummel ja umtauschen. Du kannst ihn auch gleich in die Altstadt zum
`Dreifarbenhaus´ bringen. Deine Kennedy-Ikone kannst du auch in den Papierkorb
werfen“, sagt Rüdiger. Der Kennedy hat anfangs hoch und heilig versprochen, er
werde Kuba nicht angreifen, dann hat er schließlich doch auf die CIA gehört, hat
eine Blockade Kubas errichten lassen mit Kriegsschiffen in der Schweinebucht..
Natürlich war der Chruschtschow ebenso dabei, seine eigenen Raketen in Stellung
zu bringen. Die Welt hat ganz nahe am Abgrund eines Atomkriegs gestanden. Nach
einem fieberhaften Gedankenaustauch zwischen Kennedy und Chruschtschow hat
Chruschtschow schließlich seine Raketen von Kuba abgezogen.“
Ich nehme
mir vor, ab jetzt regelmäßig die Zeitung zu lesen und den rosafarbenen in einen
weißen BH umzutauschen.
Bullinger
hat mir das Zimmer gekündigt. Ich wohne in einem anderen Stadtteil. Küche und
Bad teile ich mit zwei Frauen. Rüdiger übernachtet an den Wochenenden bei mir.
Seit zwei
Monaten ist die Periode ausgeblieben.
Dr. Berg
macht den Froschtext. Der ist positiv. Ich bekomme ein Kind von Rüdiger und bin
im zweiten Monat. Ich kann es nicht fassen. In meinem Bauch wächst ein kleines
Wunder, das Kind von Rüdiger. Am liebsten hätte ich ein Mädchen. Aber wenn es
ein Junge ist, dann soll er Alexander heißen. Und er würde ein kleiner Wikinger
sein mit rostrotem Haar.
„Wir
müssen jetzt klaren Kopf behalten“, sagt Rüdiger. „Ein Kind bedeutet, dass ich
dafür sorgen muss und deswegen nicht studieren kann. Dann kann ich mich ja
gleich aufhängen. Wir haben also zwei Möglichkeiten: Entweder, du lässt es hier
abtreiben, illegal, was anderes ist nicht möglich, oder du fährst nach
Jugoslawien. Dort machen sie es in den Krankenhäusern auch bei Ausländerinnen.“
„Ich fahre
nicht nach Jugoslawien“, sage ich zu Rüdiger, „meine Kollegin war dort in einer
Klinik. Sie haben ihr den Fötus ohne Betäubung aus dem Bauch geholt. Und die
Schmerzen seien unbeschreiblich gewesen.“
Einem
Kollegen erzähle ich nach Geschäftsschluss mein Problem. Der sei medizinisch
sehr informiert, sagt Rebekka, meine Freundin vom Empfang.
„Ich mache
es mit Nadeln, alles kein Problem. Wann soll ich zu dir kommen?“, fragt der
Kollege.
Ich
entschließe mich für Dr. Berg. Der sagt in der Sprechstunde, er könne nur
ausschaben, wenn ich blute. Daraufhin fülle ich zwei Taschen mit Steinen, gehe
mit ihnen vor die Stadt und schleppe sie die Rebenhügel hinauf und hinunter, bis
mein Bauch zu schmerzen beginnt. Auf der Toilette sehe ich dünne Rinnsale von
Blut die Beine entlang laufen.
Dr. Berg
sieht besorgt aus. „Sie haben hohes Fieber. Ich müsste sie in die Klinik
einweisen.
Aber
lassen Sie mich zuerst nachsehen.“ Nach der Untersuchung tröstet er mich: „Ich
kann ausschaben. Sie bekommen gleich eine Narkose.“
Als ich
aufwache, steht Dr. Berg über mich gebeugt, streichelt väterlich meinen Arm.
„Es ist
alles überstanden. Sie gehen jetzt heim und legen sich für eine Woche ins Bett.“
Inzwischen
war Rüdiger in meinem Zimmer. Er hat mich gesucht.
Ein Zettel
liegt auf der Couch. „Du Liebe…“ steht darauf.
Unter dem
Overkill
unter der
Asche
nistet
ein
Samenkorn
nistet
mein Kind
„Zerschlagt
die wertfreie Wissenschaft! – Macht kaputt, was euch kaputt macht! – Amis raus
aus Vietnam! – Make love not war!“
Von den
Wänden der Institute schreien die Parolen, hingepinselt mit roter, in Schlieren
abgeflossener Farbe, als wären sie am Bluten.
Wir
latschen zur Mensa. Meinen Vormittagsjob habe ich hinter mir. Nun trage ich
Sandalen zum Schnüren, mein Hippie-Kleid in Lila aus gebatikter Baumwolle, dazu
bunte Blumen-Ohrclips und Zöpfe.
Abends
gehen wir ins Kino.
Die Oswald
Kolle-Filme laufen in der „Blauen Brücke“, Kung-Fu und Dracula im „Museum“, La
Belle et la Bête im „Hirsch“ und der Western im „Bären“.
Einen
Kolle werde ich mir nicht mehr ansehen und schon gar nicht mit Rüdiger. Zuletzt
belehrte uns Kolle, wie perfekter Sex zwischen Mann und Frau auszusehen habe.
Ich schämte mich den ganzen Film hindurch vor Rüdiger und auf dem Heimweg
marterten mich schwere Gedanken. Darin überreichte mir Kolle mit melancholischer
Grandezza die Note vier bis fünf. Kaum waren wir zu Hause angekommen, brach ich
einen Streit vom Zaum. Mit Kolle hatte dieser Streit nichts zu tun.
Wir
entschließen uns also für den „Bären“. In den „Bären“ zu gehen, ist Kult und es
ist „in“. Während der Film läuft, wird geraucht, getrunken und miteinander
geredet, die Western-Helden werden angefeuert. Dazu rollen uns die leeren
Bierflaschen der hinteren Reihen zwischen die Füße und wir kicken sie unter die
Sitze der Vorderreihen.
Ich
arbeite in der Exportabteilung, habe Briefe zu schreiben an englische und
französische Buchhandlungen und Verlage. Weder kann ich Business-Englisch noch
Business-Französisch. Beworben habe ich mich mit der Zusage, darin sei ich
perfekt. Den smarten Verlagschef mit Volontariat in den USA scheint das nicht zu
interessieren.
Nun warte
ich mit Herzklopfen, bis mein Kollege aus dem Zimmer geht, dann blättere ich
zitternd im Lexikon. Sobald er wieder zurück ist, wickle ich Lexikon, Notizblatt
und Kugelschreiber in mein Handtuch und verziehe mich damit in Richtung
Toilette.
Nachmittags lerne ich zu Hause Business-Englisch und Business-Französisch. Ich
hasse diese Floskeln. Bei nächtlichem Zähneknirschen finde ich schließlich
Trost: Ich verdiene damit mein Brot.
Bald
öffnet sich für mich ein wundersames, winziges Fenster. Dahinter ahne ich die
Welt, die ich erkunden möchte, das Universum der Sprache.
„Wenn du
nur vormittags arbeitest, kannst du nachmittags studieren“, sagt Rüdiger, „du
gehst zur Hochschule für Berufstätige, einmal die Woche hin zum Seminar. Also
Deutsch, Literatur, Englisch, Französisch. Okay? Mit dem Stipendium reicht uns
das Geld.“ Rüdiger schiebt mir das Anmeldeformular hin. „Hier unterschreib. Das
packst du.“
Wir
heiraten standesamtlich. „Sehen Sie zu, dass ich nicht in die Bredouille komme
mit dem Kuppeleiparagraphen“, sagt der Vermieter. Vater organisiert unser
Hochzeitsfest, unsere Familien reisen an. Rüdiger hat vergessen, den Brautstrauß
zu holen. „Die Zeit reicht nicht. Ein Brautstrauß ist ohnehin spießig, so
spießig wie meine Krawatte“, mault Rüdiger und sieht mich streng aus dem Spiegel
an. Ich weine, dann galoppiere ich in Hochzeits-Stöckelschuhen den Berg
hinunter. Der Florist nimmt den nicht mehr frischen Strauß vom Regal. „Ich hab
schon gestern auf Sie gewartet“, sagt er fröhlich, „und viel Glück!“
Wir
diskutieren über Jean-Paul Sartre, Das Sein und das Nichts.
„Eine
Stelle verstehe ich so“, sage ich zu Rüdiger, „das heißt, ich will sie gar nicht
verstehen: Sartre sieht sich in einer Kluft zwischen Gedankenwelten. Die hat
sich für ihn aufgetan, weil diese Gedankenwelten, nimm die philosophischen, die
religiösen, die psychologischen, ja selbst die Kunst, die Literatur, nicht mehr
emportragen und stützen. Lies nach in `Der Ekel´.
Aber was
sonst kann uns emportragen als unsere Gedankenwelten aus der Kluft, aus dem
Nichts, aus der existentiellen Heimatlosigkeit?“
„Nimm das
mal nicht als ein Evangelium. Der Sartre ist dran interessiert, dass uns seine
eigene Philosophie emporträgt, drum muss er erst den Abgrund freischaufeln als
die neue Existenzform des modernen Menschen“, meint Rüdiger.
„Vergiss
nicht den Literaten und mach ihn nicht so runter! Jawohl, der Abgrund leuchtet
mir ein“, sage ich, „der Abgrund ist die Entfremdung. Die moderne Welt der
Maschinen knebelt uns, verwehrt uns die Entfaltung unserer natürlichen Anlagen,
geht nicht ein auf unsere wahren Bedürfnisse.“
„Aber das
ist nun wirklich nichts Neues“, sagt Rüdiger, „mit der Entfremdung sind wir auch
schon bei Karl Marx. Der Mensch als Ware. Und nicht wenig davon hat auch der
Rousseau schon gewusst. Eines hat Sartre bestimmt nicht kapiert: Die Kluft, die
sich ihm auftut, ist in der puren Wirklichkeit nicht die Kluft zwischen
Gedankenwelten, sondern die Kluft zwischen Arm und Reich.“
„Wie will
er dann politisch handeln?“ frage ich.
Ich suche
die Stelle, wo Sartre sagt, er wolle kein Herzblut an Weltbilder verschenken, er
wolle sich nicht zum Wähler degradieren lassen.
„Du hast
Recht“, sagt Rüdiger, „wie will er dann Nägel mit Köpfen machen? Muss er auch
nicht als Philosoph. Und doch fordert er die permanente Revolution. Dann aber
muss er sich für eine Gedankenwelt, ein Weltbild entscheiden. Nur ein solches
zwingt Revolutionäre zum gemeinsamen Handeln. Lassen wir bei Sartre die Kirche
im Dorf. Sein Handeln bleibt stecken im Denken und Schreiben. Und hier steht`s
doch: Er nennt sich einen Parasiten am Saume des Marxismus“.
„Was
denkst du, trägt einen Menschen empor aus dem Abgrund, aus der Kluft zwischen
Arm und Reich? Der Marxismus?“ bohre ich nach.
„Frag mich
was Leichteres“, sagt Rüdiger.
Roja ist
Pfarrerstochter, studiert Romanistik, wohnt im Studentenheim.
Wir sitzen
im Bus, zusammen mit Jens, ihrem Freund. Jens studiert Marxismus bei Ernst
Bloch. “So viele Schüler hat der nicht, mit denen treffen wir uns oft bei Blochs
privat.
Denk bloß
nicht, der Jens sei mein Verlobter“, flüstert mir Roja ins Ohr, „meine beiden
anderen Freunde sind verheiratet, noch im Studium, der eine mit Kind. Ich penne
mit allen. Der Hausmeister winkt uns einfach durch, ist gar nicht so schwierig,
du musst ihn nur anlächeln. Mit Jens gibt es langsam Probleme, der stinkt mir zu
arg. Es ist alles nicht so einfach. Auch im Romanistik-Seminar sitzen Stinker.
Der Bus
hält auf der Anhöhe vor einer Villa.
„Dort
siehst du den Horkheimer-Prof, dann sind auch viele Adorno- und Marcuse-Fans da.
Die meisten labern nur dumm rum“, versucht mich Roja hier einzuführen und legt
den Arm um mich. „Die kommen fast alle von der Frankfurter Schule her, also dem
Kritischen Marxismus.“
„Ich lese
ihn demnächst“, sage ich und im gleichen Atemzug verdamme ich meinen Satz. Er
musste sich anhören wie der ganz und gar untertänige Dank für eine Party, die
ich mir nicht ausgesucht habe.
Und doch
meine ich es ernst. Ich fühle mich so dumm wie schon lang nicht mehr, fühle mich
einem Arsenal von Fachwörtern ausgesetzt, die ich nicht wirklich verstehe.
Wie
einzelne Geschosse fliegen sie aus der Geräuschkulisse von Diskussion, Jimmy
Hendrix, Rolling Stones und Janis Joplin: die Worte von Basis und Überbau, von
antiautoritärer Revolte contra sozialistischen Klassenkampf, von Adornos
Negation der Negation und Marcuses kritischer Theorie.
Einer
trägt ein Stirnband über wallendem Jesushaar, spricht nölend mit langsamer
Gestik: „Ihr seht es zu verbissen. Arbeiterbewegung und realer Sozialismus sind
doch nur Teil des alten Systems, nicht tauglich für ein Bündnis mit der dritten
Kraft, den Studenten, den Ausgestoßenen und der Dritten Welt. Ihre Mittel sind
wiederum die Mittel der Macht. Die Natur des Menschen müssten wir als erstes
ändern, sagt Marcuse. Also alle Brücken abbrechen! Also das Nein der
Arbeiterklasse wiederum negieren. Das wäre die Negation der Negation“.
Mir
schwirrt der Kopf.
„Schau mal
kurz rein bei Lenin, Staat und Revolution.. Mir geht dein bekiffter,
kleinbürgerlicher Stuss auf den Senkel!“, sagt einer aus dem Kreis der
Umstehenden. Er trägt kürzeres Haar und einen Schnauzbart.
Ein
anderer redet von Che Guevara, dann vom Export der Revolution. Roja kontert:
„Bist wohl neuerdings bei den Trotzkisten!“
Die Frauen
zelebrieren die neue Weiblichkeit, jene Mischung aus Intellekt und Sex.. Frau
ist gegen das konventionelle Wunschbild der Frau, ist gleichermaßen
intellektuell wie auch sexy, schüttelt energisch ihre Mähne auf den Rücken und
streicht in regelmäßigen Abständen die Haarsträhnen hinters Ohr. Eine lässt sich
nicht mehr das Wort abschneiden, sagt zum Mann: „Du Chauvi laberst schon eine
gute Weile, kannst nur Thesen verbraten und steckst deine Positionen ab, die mir
am Arsch vorbeigehen.“
In der
Sporthalle sind die Buren zu Gast, eine Volkstanzgruppe, angereist aus
Südafrika.
„Kommst
heut Abend zur Demo?“, ruft mir Roja zu, „da ist was los!“
Rüdiger
verzieht sich in die entfernteste Ecke der Demonstranten und mault: „Glaubst du,
ich renne der Polizei ins Messer, die haben Schlagstöcke und Wasserwerfer dabei.
Schließlich will ich Richter werden!“ Ich stehe mit Roja in vorderster Reihe an
der Absperrung.
Immer mehr
Demonstranten sammeln sich um die Halle. Wir rufen in Sprechchören: „Freiheit
für Südafrika! Freiheit für Nelson Mandela!“ Schwarzafrikaner tragen das Bild
von Martin Luther King mit seiner Botschaft „I have a dream…“
An der
Turnhallenwand kleben die ersten rohen Eier und Tomatensaft, Fensterscheiben
werden eingeworfen, die Buren trauen sich nicht, ins Freie herauszutreten.
Inzwischen ist es dunkel geworden. Die Bewohner der umliegenden Häuser schimpfen
auf uns ein: „Geht halt rüber in die Ostzone, wenn`s euch hier zu wohl ist!“.
Ein
älterer Mann sagt zum Studenten:„Als Allererstes müsst ich dir den Bart und
deinen Pelz "abscheren!“ Daraufhin der Student: „Komm, Opa, geh ins Haus rein!
Drin läuft `s Ohnsorg-Theater.
"
Das Ritual
der Einsamkeit
du und ich
am Tropf
der
Information
Politik
die Kunst
des Machbaren
Lenin auf
die Füße gestellt
der DIAMAT
das
Scheitern am Irrationalen
Leibnitz
und das Gegensätzliche in Harmonie
Ist nicht
schon alles
gesagt
erlebt
Bennos Tod
sein Grab
aus roten Nelken
Attentat
auf Rudi
der heiße
Sommer achtundsechzig
die roten
Fahnen auf der Sorbonne
die Feten
am Tisch
unter Pflaumenbäumen
Deutschland im Herbst
und die
bleierne Zeit
Holger
der Kampf
geht weiter
Rituale
der Einsamkeit
du und ich
am Tropf
der Information
ist nicht
schon alles
gesagt
erlebt
die nach
uns kamen
sind früh
gealtert mit
der
sterbenden Erde
am
sterbenden Himmel
suchen wir
den Kometen
fürchten
uns
vor der
Allmacht des Plutoniums
unter den
Trümmern
der
Utopien
der
Beziehungen
liegt
verborgen
die Droge
Hoffnung
Und wenn
du zurückkämst
aus dem
Himmel der heimatlosen Linken
nur eine
Demo lang
Zu eurer
Zeit
war der
Osten noch rot
wir
latschten zu Tausenden
um die
Utopie
und riefen
in Sprechchören
weg mit
den Berufsverboten
und sangen
und weil
der Mensch ein Mensch ist
Unsere
Treffen
waren
Feten
gewiss
auch mit entfernten
Verwandten
wir saßen
am Feuer
bei
Borschtsch
und Paella
nach den
Rezepten der Euros
Und weißt
du noch
das Wort
`verbissen´
in deinem
Schweigen
in deiner
Selbstkritik
Oh we can be heroes just for one day
Ho, Ho, Ho
Chi Minh
Blue jeans
und unser wehendes Haar
All you need is love
Und dann
an einem
Sommertag
auf deinem
Sarg die
roten
Nelken
Mahlers
Fünfte
einer im
roten Hemd
so hat es
dir gefallen
mit dir
ging eine Epoche
Und wenn
du zurückkämst
aus dem
Himmel
der
heimatlosen Linken
nur eine
Demo lang
zu eurer
Zeit
war der
Osten noch rot
doch
heimatlos sind wir geblieben
„Jetzt
muss ein Fernseher her! Hab schon einen rausgesucht“, sagt Rüdiger.
„Damit du
zusätzlich Fußball guckst im Fernsehen! Mir reicht der Sportreport im Radio!“
rufe ich aus der Kochnische. „Das alles in einer Einzimmerwohnung!“
Ich
erzähle von Roja. Sie habe von einer freien Zweizimmerwohnung erfahren, also bei
ihr im Studentenwohnheim, und eine größere Wohnung sei eh längst fällig bei uns.
„Denk doch
mal an die Mondlandung! So könnten wir die ganze Nacht von der Bettcouch aus
gucken, total lässig! Die Zweizimmerwohnung lohnt sich nicht mehr. In einem Jahr
ziehen wir eh von hier weg. Dann wird Geld gescheffelt! Auf meine Scheinchen
büffle ich, wenn du im Job bist.“
Rüdiger
umarmt mich, strahlt mich an. Sein Strahlen wirkt programmiert. Er erprobt
juristische Verhandlungstaktik.
„Und wann
und wo büffle ich für meine eigene Prüfung?“ wehre ich ab, winde mich aus seiner
Umarmung und weiß gleichzeitig, dass Rüdigers Kalkül aufgegangen ist.
Es ist
eine Juli-Sommernacht.
Wir sitzen
zusammen im Bett und erleben die Mondlandung.
„Odyssee
2001“ ist Wirklichkeit geworden, ist nicht mehr nur Kultfilm. Wir sind „live“
dabei. Neil Armstrong betritt im weißen Astronautenanzug als erster den
Mondboden, schwerfällig wie ein Teddybär, halb schwebend, halb stapfend, als
liefe er über ein Trampolin.
Im Dunkel
liegt das Jahrhundert, liegt unser Jahrhundert, liegen die Weltkriege, der
Vietnamkrieg und die Notstandsgesetze.
Das neue
Jahrtausend hat schon begonnen.
Wir machen
uns auf zu fernen Planeten.
Am
nächsten Tag schlage ich bei Goethes „Faust“ die Stelle nach über Homunkulus:
`Das ist
die Eigenschaft der Dinge: Natürlichem genügt das Weltall kaum, was künstlich
ist, verlangt geschloss`nen Raum´.
„Versteh
ich nicht“, sage ich zu Rüdiger. Um Lichtjahre weit in den Weltraum zu reisen,
brauchst du irgendwann auch den künstlichen Menschen, eben den Homunkulus, im
Faust hat ihn Wagner erschaffen, aber mit Mephistos Hilfe.“
„Klar,
alles im Weltall ist Physik, ist pure Natürlichkeit. Das genügt dem Menschen
eben nicht. Er muss sich künstlich einen Gott und Götter erschaffen und andere
Pseudowissenschaften haben“, sagt Rüdiger.
„Also bist
du auch gegen den Homunkulus, den künstlichen Menschen? Vielleicht ist mit dem
geschlossenen Raum gemeint, dass man künstlich Erschaffenes am besten unter
Verschluss hält. Es könnte uns zum Feind werden, was meinst du?“, frage ich
Rüdiger mit einem Seitenblick auf seinen Bücherstapel. Da liegt schon längere
Zeit das Buch über Menschenzüchtung. Es liegt herum wie ein in seiner Starre
lauerndes, bösartiges Krokodil.
„Warum
liest du so was?“
„Ich
brauch es fürs Jurastudium Und was hat das alles mit der Mondlandung zu tun?“
„Jawohl,
mit dem Homunkulus!“, schreie ich ihn an. Nun ist es wieder so weit. Wie eine
Mauer stellt sich zwischen uns die alte Streitfrage: Wollen wir ein Kind haben
oder nicht? Rüdiger will es nicht, begründet es mit der Krankheit des Vaters.
Die könnte sich auf das Kind übertragen.
Wir
streiten, ich weine. Den Gedanken, kein Kind haben zu dürfen, ertrage ich nicht
länger. Ich gehe in die Apotheke, hole Schlaftabletten, nehme davon vier Stück,
lege mich auf die Couch und schlafe ein.
Als ich
aufwache, liest Rüdiger die Zeitung und sagt in aufgeräumter Stimmung: „Siehst
du, es geht doch auch so. Warum musst du so hysterisch reagieren!“
Von weitem
höre ich Gesprächsfetzen, sie zischen heran, schmettern an mein Ohr, entfernen
und verlieren sich wieder im fernen Gemurmel. Einmal wird laut gelacht. Dann
höre ich, wer nun dran sei mit dem Würfeln.
Meinen
Körper fühle ich nicht. Langsam schaffe ich es, die Augen einen Spalt weit zu
öffnen. Der Raum scheint grell erleuchtet, fensterlos. Die Wände sind weiß
gekachelt.
An der
gegenüberliegenden Wand sitzen drei Gestalten um ein kleines Tischchen, zwei
junge Frauen und ein junger Mann, alle in Weiß.
Dann
schlafe ich ein.
Als ich
aufwache, schmerzt die Kanüle am Handgelenk. Ich hänge an der Infusionsflasche.
In stoischem Gleichmut gibt sie Tropfen um Tropfen an den Plastikschlauch
weiter. Wie eine geduldige Mutter. Ich lebe.
Als ich
wieder aufwache, ist ein Gesicht über mir. Es ist Roja.
Sie stellt
einen Strauß Palmkätzchen auf den Nachttisch, setzt sich neben mich, hält meine
Hand und schweigt. Als sie geht, bleibt sie an der Tür stehen. Sie lächelt und
winkt mir zu.
Ich sage
„danke“.
Durchs
offene Fenster flutet die Vorfrühlingssonne direkt auf mein Bett. Draußen
zwitschern die Vögel. Es sind die vom Süden zurückgekehrten. Ich erkenne sie an
ihrer Stimme seit meinen Kindertagen.
Vom Gang
her duftet der Kaffee. Die Schwester kommt mit dem Frühstückstablett.
„Und jetzt
denken wir nicht mehr und lassen`s uns schmecken!“ sagt sie und strahlt mich an.
So trinke
ich den Kaffee und wieder trinke ich ihn wie ein göttliches Geschenk.
Schluck
für Schluck trinke ich das pure Leben.
Es riecht
nach Neubeginn.
Nach und
nach erinnere ich mich.
Ein
offenes Kuvert lag herum, ich las den Brief, geschrieben an Rüdiger von einer
ehemaligen Freundin. Sie hatten sich also getroffen.
Meine Welt
war die Welt mit Rüdiger. Nun war sie für mich nicht mehr bewohnbar. Ich hatte
darin keine Bleibe mehr.
Rüdiger
war inzwischen ausgezogen.
Eine
Zeitlang irrte ich in der Stadt herum. Es regnete. Dann kaufte ich in zwei
Apotheken jeweils eine Schachtel Schlaftabletten. Auf dem Weg zur Wohnung
begegnete mir Kuno, Mathematikstudent und wie immer im langen, grauen
Soldatenmantel. Kuno lernte ich in der „Tangente“ kennen.
„Du kannst
dein ganzes Leben mathematisch vorausberechnen“, sagte er. Er hatte nie
Interesse am Tanzen, kam nur in die „Tangente“ zum Diskutieren.
„Siehst
heut aber komisch aus, Dir geht`s nicht gut, komm doch mit in mein Zimmer!“,
rief mir Kuno nach, als ich schon an ihm vorbeigegangen war.
Später war
ich mit meiner Puppe im Arm schon eingeschlafen, als Iris klingelte.
„Ich hab
einfach diese Ahnungen, weißt du. Das ist so, seitdem ich meditiere und seitdem
ich den Maharischi Mahesch Yogi gesehen habe, weißt du doch, damals an der Uni“,
sagte Iris bei ihrem Besuch im Krankenhaus. Sie brauche weder Gras noch LSD noch
Heroin und schon gar nicht den Trip nach Katmandu.
Ich wusste
es: Iris hat das Studium abgebrochen, sitzt auf ihrem harten, weißen Küchenstuhl
mitten im unmöblierten, gardinenlosen Wohnzimmer und meditiert.
„Wir haben
dich gleich ins Krankenhaus gebracht. Ich schlage vor, du lässt dich in die
Meditation einweisen. Es kostet zweihundert Mark. Bring ein sauberes Taschentuch
und ein paar frische Blumen mit in die Wohnung . Die werd ich dir genau
beschreiben. Dort bekommst du dein Mantra.“
Ich muss
überleben – ohne Rüdiger.
Ich
brauche eine Krücke, einen Strohhalm.
Düstere
Symbolik. Mein Gang ist beschwingt und leicht. Es ist der Gang der Mutter.
Sie ist in
meinen Bewegungen, in meiner Gestik.
Mein
Körper ist unversehrt. Ich bedanke mich bei ihm und beschließe, mich um ihn zu
kümmern.
Von der
Wand reiße ich meinen „Strohhalm“, werfe ihn in den Papierkorb. Es ist die aus
Thomas Mann, Der Erwählte, abgeschriebene Textstelle. Darin ist der spätere
Gregorius „nicht viel größer als ein Igel“, ist in Jahren der Einsiedelei
zusammengeschrumpft auf ein moosähnliches Etwas, das sich tagaus, tagein zur
Wasserquelle schleppt, um zu überleben.
Ich
brauche keine Krücke, keinen Strohhalm, ich brauche Flügel.
Vielleicht
doch das Mantra?
Wenngleich
ich Iris für bescheuert halte, gehe ich nun doch mit meinen zweihundert Mark,
meinem Taschentuch und ein paar Blumen zu jenem Biologiestudenten, der bei einem
indischen Guru gelernt haben soll.
Der lässt
mich erst mal warten. Die Haustür hat sich nach dem Klingeln geöffnet, ich gehe
die Treppe hoch, die Wohnungstür steht offen, ich betrete zögernd den Gang,
bleibe stehen und warte mit meinem Blumensträußchen und meinen zweihundert Mark
in der Hand.
Dann
öffnet sich eine andere Tür, der Biologiestudent windet sich gekünstelt
umständlich hindurch, kommt mir mit betonter Schlaksigkeit entgegen und nimmt
mir Geld und Blumen ab. Dann lächelt er mit in die Ferne gerichtetem Blick und
führt mich in ein kleines Zimmer. Es riecht nach fremden Kräutern. In der Ecke
ist ein Altar aufgebaut. Dort thront His Divinity zwischen bunt- und
goldglitzerndem Flitterzeug. „Das ist der Lehrer von Maharischi Mahesch Yogi,
der große Meister, leider verstorben“, sagt der Biologiestudent und legt meine
Blumen zu seinen Füßen nieder.
Er führt
mich zu meinem Sitzplatz, einem weichen Hocker aus rotem Samt. Dann zündet er
Räucherstäbchen an.
Eine
duftende Wolke lullt mich ein, meine Gedanken werden träge, lösen sich
schließlich auf. In einer Art Wachkoma höre ich ein Gebet in fremder Sprache. Er
betet zu His Divinity, verbeugt sich in Richtung Altar. „Du bist nur noch im
reinen Sein. So nimm von mir das Mantra. Gib es niemals an andere weiter. Das
ist dir verboten“, höre ich im Halbschlaf. „Sprich mir das Mantra nach.“
„Der hat
dich glatt verarscht“, sagt Roja. Er braucht die Kohle für sein Studium in
Amerika. Ich hab mal einen beknackten Vortrag von ihm gehört. Wie lang warst du
bekifft?“
Sogleich
verrate ich Roja mein Mantra, denn es soll keine Macht über mich bekommen.
Stattdessen erfinde ich meine eigene Meditation.
Ich setze
mich auf die Liegecouch, lege bequem die Beine hoch, lehne meinen Rücken
aufrecht gegen die harte Wand und vertraue ihrem ganz und gar spartanischen
Schutz. Der gewährt mir das freie, ungezügelte Nachdenken. So wird die Wand
täglich meine Zuflucht.
Meine
Gedanken sortieren sich. Ich muss etwas tun und sei es auch das Falsche.
Abends
gehe ich in die Tangente, das erste Mal allein. An der Theke sitzt einer ohne
Bart mit Messerhaarschnitt und Jackett, hebt sich ab von all den Langhaarigen,
den Kraushaarigen im Afro- oder Rasta-Look, von den Karl-Marx-, Ho-Chi-Minh- und
Jesus-Bärten.
Ich gehe
zur Tanzfläche.
Die Band
spielt und singt Bob Marley, „Get up, stand up for your right…”,
dann folgt Scott McKenzie, “If you go to San Francisco, be
sure to wear some flowers in your hair…” Alle wiegen sich, einige in der
Erinnerung an Woodstock.
„Ich heiße
Jörg und arbeite als Pilot am Flughafen von Fiumicino, Bodenpersonal.“
„Und ich
dachte, Du arbeitest als Dressman“, sage ich zu ihm und nehme einen Schluck
Cola.
Jörg
bestellt Sekt für uns .“Du solltest mich bald in Rom besuchen“, prostet er mir
zu.
Die Villa
ist ein altes, baufälliges Haus im Stil der Renaissance. Das einst lebensfrohe
Ocker ist verwittert. Über die sonnenwarme Terrasse wuchern Rosen, Oleander und
Yasmin.
In diesem
Augenblick entsteht schon Erinnerung.
Es ist der
Frühling in Rom und es ist diese Stadt, die dabei ist, sich an mich zu
verschwenden.
Jörg ist
früh aufgestanden und zum Flughafen gefahren. „Noch nie hab ich eine Frau so
geliebt wie dich“, sagt Jörg an der Haustür, „du bist so wunderschön!“
Ich
lächle. Vielleicht ist es ein starres Puppenlächeln.
Seitdem
ich hier bin, fühle ich mich eher hässlich. In jeder Sekunde mit Jörg bin ich
gehemmt und nicht locker. Der Grund sind meine Pickel. Diese wiederum sind das
böse Werk der Pille. Ich nehme sie seit meiner Abreise. Zwei Tage danach waren
es erst zwei, jetzt sind es schon fünf Pickel. Ich nehme mir vor: sobald ich zu
Hause bin, werfe ich die Pille in den Mülleimer.
Langsam
habe ich Lust auf einen Frühstücks-Espresso.
Jörgs
Kühlschrank ist gähnend leer, als wäre er eben gekauft worden. Einen Topf kann
ich auch nicht finden. Mir kommt der Gedanke, dass Jörgs Interesse an mir nicht
so weit reichen dürfte, dass er sich für meine Pickel interessiert.
Ich gehe
nun Einkaufen, mache mir dann den Espresso und nehme mir vor, höchstens zwei
Tage noch zu bleiben und meine Rolle mit Charme zu Ende zu bringen, sie einfach
abzuarbeiten.
Dann
schlüpfe ich in mein hellgrünes Minikleid, stecke Blumenclips ans Ohr und den
Stadtplan in den Rucksack, setze die Sonnenbrille auf und nehme den Bus zur
Innenstadt.
Entlang
der Spanischen Treppe sitzen die Hippies, einige tragen Stirnbänder.
Hippies
sitzen am Fontana di Trevi, sie singen zur Gitarre, wechseln zwischen Folk, Soul
und Blues.
Steppenwolf. Born to be wild.
Ich drehe
mich mit dem Rücken zum Brunnen, werfe eine Münze über die Schulter. Das heißt:
ich komme wieder.
Die Stadt
mache ich zu Fuß, streune übers Forum Romanum, durch die Sixtinische Kapelle,
über den Hof von Sankt Peter. Am Hauptportal betrachtet ein Padre amüsiert mein
Minikleid. Ich lächle bittend und mache einen kleinen Knicks. Er lächelt zurück,
reißt meine Eintrittskarte an und lässt mich ein.
Nach drei
Tagen fahre ich zurück. Am Bahnhof fragt mich Jörg, ob ich ihm nicht hundert
Mark leihen könne. Er sei knapp bei Kasse. „Deinen Kühlschrank hab ich gefüllt.
Hast du das gesehen?“, frage ich ihn und gebe ihm das Geld. „Dafür bekommst du
von mir auch was“, sagt er und gibt mir ein Parfum. „Ciao Bella! Ich komm dich
bald besuchen!“
Als der
Zug über den Großglockner fährt, ist es inzwischen Winter geworden. Es schneit.
Und als
ich zu Hause ankomme, schneit es ebenso.
Es ist
April.
Jörg
meldet sich nie wieder.
Im April
lag überall noch Schnee.
Nun
schmilzt er unter der warmen Maisonne.
Über den
Wiesen wogt im lauen Wind die Kirsch- und Obstbaumblüte.
Die
Weinberge liegen im zarten Grün und auf dem Neckar fahren wieder Stocherkähne.
Der
Frühling gebärdet sich im Überschwang, scheint sich zu verschwenden an die
Jugend dieser Stadt. Immer wieder ist es ihre Jugend, zurückgekehrt mit lautem
Zwitschern wie die Vögel aus dem Süden.
Ich
streune durch die engen, sonnenwarmen Gassen, komme schließlich in einen Winkel
an altem, von Weinlaub umranktem Gemäuer. Da ist die Kneipe von Marco. Oft habe
ich hier mit Roja gesessen. Sie studiert nun in Paris. Neulich hat sie mir
geschrieben, sie habe dort einen Franzosen kennengelernt und sei momentan total
auf den abgefahren.
Einer vom
Tischchen neben mir geht zur Musicbox und wählt Jannis Joplin.
Nun kommt
Marco. Ich bestelle einen Chianti und während ich trinke, wechselt der
Plattenspieler zu „Black magic woman“ von Carlos Santana.
Immer
tiefer sinke ich in meine Schwermut, so tief und weich wie in einen Berg von
grauem Flaum.
Ja, das
ist meine Schicksalsstadt.
Sie hat
mich an sich genommen, sie hat mich von sich gestoßen.
Nun sollte
ich gehen.
Und alle,
die ihr um mich sitzt an euren Tischchen und euch so angenommen fühlt, wird
diese Stadt wieder von sich stoßen.
Auf meinem
Heimweg gehe ich durch den Botanischen Garten. Hier hat mein Onkel als
Gärtnerlehrling gearbeitet, bevor er als junger Soldat bei Stalingrad den Tod
gefunden hat.
Was er
mitgebracht hat aus meiner Schicksalsstadt, das war kein Hochschulexamen. Es war
die Bindung zu den Pflanzen und eine Mappe voller schöner, selbst gemalter
Bilder. Sie sind nicht mehr vorhanden. Aber ich habe sie nicht vergessen.
Ich bin Du
hast
Topfpflanze Erde
meine
Wurzeln so hast du
hungern
doch auch
auf dem
Grund stets
des Topfes
deinen Grund
ich bin
transportierbar
ich bin
pflegeleicht
funktional
bis in die
Blüte
Man trägt
jetzt Maxi. Der Mini sei allmählich out, lese ich beim Zahnarzt in der „Petra“.
Ich kaufe
mir einen langen, schwarzen, weich fließenden Rock. Ab den Waden ist er
zunehmend ausgestellt. Dazu trage ich schwarze Großmutter-Schnürstiefelchen mit
Haken und einen eng anliegenden, grünen Rollkragenpulli mit Rippenstrickmuster.
So gehe
ich zum Scheidungstermin. Rüdiger soll mich so hübsch finden, dass er bereut.
Die Reue
soll ihn unendlich quälen, umso mehr, als es jetzt für ihn kein Zurück mehr
gibt. Rüdiger verteidigt sich selbst als angehender Jurist. Ich habe das
Formular, das er mir vorgelegt hat, unterschrieben, habe mich einverstanden
erklärt mit Konventionalscheidung und Unterhaltsverzichtserklärung.
Vor der
Verkündigung des Urteils fordert uns der Richter auf, uns vom Platz zu erheben.
Mir kommt
plötzlich der Fritz Teufel in den Sinn. Vor noch nicht langer Zeit saßen die
Kommunarden auf der Anklagebank. Die Gründe kannte ich vom Hörensagen. Eines
Tages hatte einer von ihnen auf den Richtertisch geschissen, die Groupies hatten
geschlossen bei einer richterlichen Vernehmung ihre Brüste entblößt. Bei den
Demos trugen ihre Anhänger das Transparent: „Unter den Talaren der Muff von
tausend Jahren“.
Nicht,
dass ich mir jemals gewünscht hätte, eine Groupie zu sein. Aber in diesem
Augenblick erinnere ich mich daran, dass Fritz Teufel, als er aufgefordert
wurde, aufzustehen, zum Richter sagte: „Wenn`s der Wahrheitsfindung dient“. Also
bleibe ich stur sitzen, während Rüdiger schon aufgestanden ist. Ich schaue
zwanghaft auf seinen Nacken, der sich zu versteifen beginnt wie in früheren
Zeiten, wenn Rüdiger mir gegenüber Recht behalten wollte. Ab heute werde ich mir
nie wieder diesen Nacken antun müssen.
„Bitte,
stehen Sie doch auf!“, sagt mir mein Anwalt leise ins Ohr. Also erhebe ich mich,
stelle mich neben mich als ein neues, ganz reales und völlig abgespaltenes
Wesen, bereit zum Abflug.
So höre
ich das Scheidungsurteil nicht als Urteil, sondern als frohe Botschaft.
Dann laufe
ich aus dem Gerichtsgebäude. Unten, am Fuß des Hügels, erwartet mich Horst mit
seinem rostigen, lindgrünen VW.
Horst
wartet jeden Tag auf mich. So war es für mich auch nicht mehr möglich, Herbert
zu treffen, Herbert, den Physiker aus Bayern, groß, gutaussehend. Herbert ist
der Typ „normannischer Kleiderschrank“, Horst der „Südfranzose“.
„Ich komme
aus dem Kleinbürgertum, damit du das auch gleich weißt“, sagte Herbert,
„außerdem habe ich massive sexuelle Störungen im Umgang mit Frauen. Meine
Freundin studiert in Paris, zu weit weg für mich.“
Zum
letzten, mit Herbert vereinbarten Rendezvous bin ich also nicht mehr gegangen.
Horst stand schon vor dem Haus mit seinem lindgrünen, rostigen VW.
Wir gehen
zusammen ins „Zum-Zum“. Langsam gibt es überall diese Art von
Schnellgaststätten. Man sitzt an der Wand entlang auf einer Holzbank und an
einem Holztischchen. Wir essen eine Currywurst mit Pommes frites und Ketchup.
Horst raucht seine „Gauloise“, ich rauche meine „Kim“. Sie ist schlanker und
länger als die anderen Marken und hat ein Bändchen in Hellblau und Orange am
unteren Ende des Filters.
Bei Horst
fühle ich mich geborgen. Wir teilen die seltsam ambivalente, süddeutsche
Identität: die Lust am Reisen, die Bodenständigkeit und die Liebe zum Dialekt
ebenso wie die Liebe zur Hochsprache. Wir diskutieren politisch, ohne uns zu
streiten. Der Faschismus ist unser zentrales Thema, der Rassismus im Besonderen
und seine Vorgeschichte.
Beide sind
wir geborgen im Arm unserer politischen Mutter,
geborgen
im Zeitgeist von Achtundsechzig.
Neues
bricht ein
Altes
bricht zusammen
Ich breche
mit...
Ich breche
ab
Ich breche
aus
Ich breche
auf
Sieh doch
die Mauer
graues
Wesen
alt wie
die Welt
aus einem
Spalt
wächst
grüner
Efeu
die Mauer
hat
geboren
ging lange
schwanger
mit dem
Geheimnis
ganz
schweigender Stein
sehnt sich
nach dem
Augenblick
als der
Wind sie küsste
zurück
blieb
ein
Samenkorn
das wuchs
In einem
Buch lese ich:
Die
gebündelte matriarchale Wandlungsenergie offenbart sich im Mysterium des Blutes.
Ich neige
nicht zur Verinnerlichung von Matriarchatstheorien.
Noch nie
habe ich Gelesenes total verinnerlicht.
Mysterien
machen mich lediglich neugierig.
Hier geht
es um ein Stück meiner eigenen Geschichte, um ein Stück Lebensplanung, um
Arztpraxen, um die schwäbische Kehrwoche und auch um die Launenhaftigkeit des
Blutes, die meine Tage gelingen ließ oder sie verdunkelte in Zeiten der Angst
und des bangen Wartens.
Das Blut
zeigt sich auf einem Stück Zeitungspapier. Mit Herzklopfen lasse ich es ins
Plumpsclo hinunterflattern. Ich bin nun vierzehn und endlich eine richtige Frau.
Morgen
werde ich es meinen Freundinnen ins Ohr sagen, die „es“ schon haben. Nur – sie
werden es weitersagen und die Buben werden hinter mir her tuscheln und Witze
machen.
Aus
Mutters Nachtkästchen hole ich heimlich eine Stoffbinde. Weil ich den
dazugehörigen rosa Gummigürtel nicht finden kann, lege ich die Binde lose in
meine Unterhose. Abends schubse ich das verblutete Ding unter meinen
Kleiderschrank. Nach ungefähr einer Woche packt mich der Ordnungssinn. Ich hole
einen Besenstiel und schlage mit ihm unter dem Schrank nach den halb steif
gewordenen Binden. Das muss sehr schnell geschehen wie bei der Mäusejagd. Ich
habe Glück. Niemand sieht es, wie ich auf meinem Entsorgungsgang zum Plumpsclo
schleiche.
Einmal
sitzt die Großmutter in der Küche. Ich hüpfe ihr übermütig entgegen. Die Binde
rutscht aus meiner Unterhose und liegt auf dem Küchenboden. Nie wieder in meinem
Leben werde ich mich so sehr schämen wie in diesem Augenblick und nie wieder
werde ich der Großmutter in die Augen sehen können.
Doch
Großmutter sagt wie beiläufig, da sei was runtergefallen. Blitzschnell schnappe
ich nach dem Schandfleck und stecke ihn in meine Schürzentasche .Großmutter
dreht unbekümmert den Kopf zum Fenster und plant - nachdenklich mit sich selbst
redend – den weiteren Ablauf ihres Tages.
Ich bin
Anfang zwanzig. Meine Periode lässt wieder auf sich warten. Nur diesmal fühle
ich mich nicht unwohl, dick und aufgebläht. Und ich habe keinen einzigen Pickel.
Der Arzt überreicht mir den Froschtest mit dem Vermerk „positiv“.
Das Kind
darf ich nicht behalten. Es geht ab mit viel Blut und ist nur zwei Monate alt
geworden.
Mit H.
warte ich auf unser erstes Kind. Der Mädchenname fliegt mir zu auf dem
Montmartre,
aus der
Tiefe eines Hinterhofes. „Nadja!“ ruft eine Frau ihr kleines Mädchen. Nachts
kriechen Wanzen aus dem dunkelroten Plüsch des Bettes und beißen uns blutende
Pusteln unter die Arme.
Der
Froschtest meldet „positiv“.
Im zweiten
Monat beginnt die Schmierblutung. So heißt das Schreckgespenst, das als
braunrote Schmiere den Abort ankündigt. Ist es nicht zu sehen, dann sitzt es in
Lauerstellung im Dunkel des Bauches.
Nach
dreiwöchigem Krankenhausaufenthalt mit Bettruhe und Valium sagt der Arzt zu mir:
„Alles
normal!“
Dann
wieder Schmierblutung und Arztbesuch.
„Ich habe
Sie zur Ausschabung angemeldet. Gehen Sie gleich rüber in die Klinik!“
„Nein, ich
gehe nicht! Allerhöchstens gehe ich nach Hause!“ sagt mein Zweikörper und er
bleibt entschlossen auf dem Stuhl sitzen. Der Arzt schweigt, lächelt sorglos,
macht eine Drehung hin zu den Karteikarten. „Moment mal, es gibt noch eine Frau
mit Ihrem Namen. Ich habe Sie verwechselt und leider in der Klinik mit Ihrem
Namen angemeldet.“
Über mir
ist der blaue Himmel.
Ich setze
an zum Flug.
Ich fliege
nach Hause.
Im
September kommt Nadja zur Welt.
Nach zwei
Jahren bin ich wieder schwanger. H. und ich wünschen uns ein zweites Kind.
Aus einem
dicken Namensbuch wähle ich den Namen Melanie aus, sollte es ein Mädchen werden.
Wir leben
zu dritt in einer Mietwohnung und vernachlässigen die Kehrwoche. Das bedeutet:
im Winter haben wir auch keine Lust, Schnee zu schippen. Nur so schwingen wir im
Einklang mit dem Zeitgeist. Seit Achtundsechzig hat man/frau Sinnvolleres zu
denken als an die schwäbische Kehrwoche und ans Schneeschippen. Wir wir planen
die eigene Familie, wir verändern die Gesellschaft, wir verändern Basis und
Überbau.
Und die
Kehrwoche ist ein widerwärtiger Bestandteil der repressiven Strategien des
Überbaus. Derlei nutzlose Tätigkeiten sollen das Volk davon abhalten, sich
politisch zu engagieren.
Der
Hausmeister klingelt an der Wohnungstür. H. sagt, er habe die Kehrwoche sehr
wohl gemacht. „Nein, Sie haben die Schippe einmal vor sich hergeschoben. So ist
der freie Weg nur 40 cm breit. Vorgeschrieben sind 70 cm!“, sagt der
Hausmeister.
„Mit Ihnen
diskutiere ich nicht! Schon gar nicht über Ihre mickrige Kehrwoche!“ schreit H.
Drei
Wochen lang habe ich im Krankenhaus gelegen wegen Abortgefahr. Nun fühle ich
mich erholt und putzmunter. So stelle ich mich solidarisch neben H. und leiste
mir meine heftige Aufregung.
Dann spüre
ich in meinem Bauch das altbekannte Rührgefühl. Das Gespenst ist dabei, seine
Lauerstellung zu verlassen. Es kriecht in dünnen, roten Fäden meine Schenkel
entlang.
Ich liege
wieder im Krankenbett. Unter meinem Po breitet sich langsam ein großer, nasser
Fleck aus. Die Schwestern schnuppern daran. Todsicher sei es das Fruchtwasser.
„Tja, wir
müssen ausschaben“, sagt der Professor, „bitte, kommen Sie gleich morgen früh,
zehn Uhr.“ In dieser Nacht liege ich wach und reglos auf dem Rücken. Die
Schwester kommt zweimal mit der Bettschüssel. „Morgen haben Sie`s hinter sich.“
Mich ärgert die nicht fundierte Mitleidsbekundung. Mich ärgert auch die Form der
Stereotype.
Dann liege
ich wieder reglos, atme ruhig, bleibe stumm und bin ganz Zweikörper.
Der
Zweikörper übernimmt das Kommando.
Morgens
kommt die Schwester und führt mich zur Ausschabung.
„Ein
Wunder ist geschehen!“ schmunzelt der Professor, „Sie können nach Hause gehen.“
Im August
kommt Melanie zur Welt.
Wir sind
umgezogen. Nadja ist sechs Wochen alt.
In der
neuen Wohnung gibt es Platz für eine Waschmaschine. Bisher habe ich in der
Kochnische gewaschen. Die Stoffwindeln haben auf dem Herd im alten Topf vor sich
hingeköchelt bis sie sauber waren. Dann habe ich sie in der Duschwanne
durchgespült und anschließend im Gemeinschaftstrockenraum aufgehängt.
Zum Glück
gibt es seit kurzem als Einlage fürs Grobe die schmale Wegwerfwindel. Sie ist
aus Zellstoff und ähnelt der Damenbinde Camelia, die nicht mehr aus waschbarem,
weißem Strick ist. Die modernste Ausführung hat einen Klebestreifen, der auf dem
Slip haftet. Meine zum Teil ausgeleierten Bindengürtel habe ich endlich in den
Mülleimer geworfen.
Nadjas
Gummihöschen, die über der Stoffwindel schließen sollen, muss ich von Hand
auswaschen, denn die Waschmaschine entlässt sie brettsteif.
Der
Tennisverein hat uns eingeladen.
„Bei denen
geht`s doch bloß um eines: Wer gewinnt, wer hat verloren? Und dann der Starkult!
Wir kennen die doch gar nicht. Da musst du mitreden können. Das Ganze eine
einzige Vereinshuberei!“, sagt Horst.
Wir
entschließen uns für den Tischtennisverein.
Hier ist
uns das Gemeinschaftsduschen zu repressiv. Während wir den Ball hin und
herschlagen, einigen wir uns darauf, dass diese verordnete Duscherei nicht als
Duscherei an sich repressiv sei, sondern eben weil man sie blind befolgen soll.
„Die Gaskammern lassen grüßen“, sagt Horst.
„Zumindest
stempelt uns das Ritual zu Außenseitern, wenn wir nicht mitduschen“, sage ich ,
während ich den Ball vom Boden hole.
Mit dem
Vorwand, mein Haar wäre beim Duschen zu arg verdampft worden, setze ich mich zu
den nackten Frauen, gespielt schuldbewusst. Ich fühle mich in meinen Kleidern
wie ein lebender Schandfleck.
Was ist
der Sinn dieser Nacktheit um mich herum? Vielleicht liegt er allein im
Zelebrieren der Nacktheit als einem Gemeinschaftsritual. Ist die Banalität des
Gesprächstoffes deshalb zwangsläufig? Achtundsechzig hat uns gelehrt, es sei in
hohem Maße unpolitisch, elitär über andere zu denken. Man berücksichtige zuerst
die Verhältnisse, die Situationen.
Bei Karl
Marx steht: Das Sein prägt das Bewusstsein.
Laut genug
klingt uns in den Ohren nach: „Ihr elitäres Pack!“ Das haben uns die am
Straßenrand stehenden Bürger hinterhergeschrien, als wir gegen Notstandsgesetze
und Vietnamkrieg demonstrierten.
Die Frau
des Vorsitzenden gibt als Obernackte die Themen vor. Sie ist die Gewichtigste
von allen, sitzt füllig auf der Bank wie eine archaische Stammesmutter.
Gespräche
und Nacktheit scheinen allmählich ineinander überzugehen und bedrohlich
anzuwachsen zu einem Riesenklumpen Mief, der auf mich zurückt und mich zu
ersticken droht.
Später
sitzen wir in der Pizzeria.
An unserem
Tisch ist Politik angesagt. Der Vorsitzende ruft vom Nebentisch zu uns herüber:
„In unserem Verein wird nicht politisch diskutiert! Also haltet euch dran!“
„Das wär´s
dann gewesen“, sagt Horst entmutigt auf dem Heimweg.
„Hab schon
wieder eine Gruppe für uns“, sage ich noch im Nachdenken. Dann singe ich es mehr
als ich es sage: „Ich gehe zu den Jusos!“
„Habt Ihr
die papers dabei über die Stamokaptheorie?“ Niemand hat sie dabei.
„Wir
wollten doch drüber diskutieren“, sagt Thomas.
„Was der
Johano Strasser da verbraten hat, kannst du bei Lenin nachlesen.“ Manne sagt es
grinsend und mehr in sich hinein. Er zieht ein Buch aus seiner Plastiktüte.
„Hier! Band zwei, Kapitel sieben. Der Imperialismus als besonderes Stadium des
Kapitalismus. Marx konnte - wer bezweifelt das! - die heutige Entwicklung nicht
absehen.
Also hört
einfach zu!
Lenin
nennt das Monopol den direkten Gegensatz zur freien Konkurrenz. Und wörtlich
sagt er hier: Die freie Konkurrenz hat das Monopol erschaffen, indem sie die
Großproduktion schuf, den Kleinbetrieb verdrängte, die großen Betriebe durch
noch größere ersetzte, die Konzentration der Produktion und des Kapitals so weit
trieb, dass daraus das Monopol entstand, nämlich Kartelle, Syndikate, Trusts und
das mit ihnen verschmelzende Kapital eines Dutzends von Banken, die mit
Milliarden schalten und walten.“
„Also sind
wir jetzt ein Debattierclub? Dann gehen wir gleich zur DKP!“, mault Thomas.
„Da bin
ich grad dabei“, lacht Manne. Ihr Godesbergler hinkt doch allem hinterher.“
Manne
kommt vom Evangelischen Stift, hat sein Theologiestudium abgebrochen.
„Viele
sind bei uns abgehauen. Inzwischen ist das Stift die Kaderschmiede der DKP“,
sagt Manne zu mir hin. „Was machst du jetzt?“ frage ich. „Politologie oder
Soziologie, Heidelberg, Berlin oder so.“
„Wenn wir
beim Thema Debattierclub sind“, sage ich in die Runde, „dann geht doch mal
öfters rein in die Mutterpartei. Nichts als Satzungsdiskussionen und
Kommunalpolitik!
Und wer
von euch findet es korrekt, dass sich der Genosse vom Gemeinderat mit Doktor
Brendel anreden lässt?“ Das sei abartig, höre ich heraus aus dem allgemeinen
Grummeln.
Da müsse
man sich von der Juso-Seite aus beschweren. Ob das nicht ich machen könne.
„TOP 2“,
sagt Bernd. „Wer macht den Juso-Pressesprecher?“ Und zu mir hin: „Du hast Zeit,
du bist Hausfrau!“. „Deine sexistische Begründung baut ungeheuer auf! Stell dir
vor, ich hab ein zweijähriges Mädchen zu Hause. Der Tag gehört ihm und nicht der
Partei. Dann – solltet ihr das noch nicht gemerkt haben – ich bin im achten
Monat schwanger.
„Den
Artikel kannst du vielleicht abends schreiben“, meint Bernd. Also nehme ich an.
Klaus
fragt, wer zur Berufsverbotsdemo gehe. „Der Willy Brandt war doch selbst mal ein
Radikaler. Warum um Himmels willen steht er dann hinter dem Radikalenerlass? Die
DKP einerseits zulassen und andererseits Berufsverbote aussprechen an Leute im
öffentlichen Dienst, was soll der Scheiß! Ich kenne viele Jusos, die deswegen
aus der Partei austreten.
Also die
gibt es auch noch und nicht nur Feiglinge und Karrieristen, die den Marsch durch
die Institutionen planen.“
„Noch mehr
Austritte gibt`s durch den Vietnamkrieg. Demos gibt es weltweit. Und der Willy
kriegt dazu das Maul nicht auf. Wir von der Basis müssen handeln“, seufzt Manne.
„Dann
willst du dich mit der RAF zusammentun oder mit den autonomen Schlägertrupps,
die bewusst unsere Demos versauen?“ fragt ihn Thomas. „Das ist doch nicht dein
Ernst, du Arsch!“ brüllt Manne. „Wir müssen Bündnisse suchen, Frieden schaffen
ohne Waffen, kapiert?“ „Yes, make love not war! Die DKP ist unter die Hippies
gegangen“, murmelt Thomas gequält vor sich hin.
Beim
Hinausgehen aus dem Versammlungsraum fragt mich Manne, ob ich zum DKP-Seminar
mitkommen möchte. „Da ist die Mehrwerttheorie dran. Aber bald gibt`s auch das
Pressefest mit Hannes Wader, Degenhardt, Süverkrüpp und klasse Rockbands.
Manne
drückt mir zwei zusammengerollte Poster in die Hand. „Schenk ich dir.“
Das eine
ist ein Che Guevara-Poster, auf dem anderen sind drei Köpfe hintereinander im
Profil abgebildet: Engels, Marx, Lenin. Darunter steht geschrieben: „Alle reden
vom Wetter.
Wir
nicht.“
Ich habe
noch nicht nachgedacht über das Wunder. Ich habe es nur gefühlt.
Es hat
mich sprachlos gemacht. Meine Antwort darauf ist das Staunen.
Ich habe
zwei Töchter zur Welt gebracht, Nadja im September, Melanie im August.
Nie ist
mir Natur so nah gewesen, so mütterlich, so schwesterlich, mit warmer
Sommerluft, mit dem Duft der Obstgärten und der Kornfelder.
So
schwinge ich in absolutem Einklang in der Freude mit Horst, mit Eltern,
Schwester, Bruder. Sie sind Glieder in der Kette hin zu meinen Wundern.
Ich sitze
im Krankenhaus beim Frühstückskaffee, Sonnenstrahlen hüpfen ausgelassen über
meine Bettdecke. Zu meinem Bruder sage ich am Telefon: „Ich bin Kleopatra nach
dem Bade“.
Dann mache
ich mir philosophische Gedanken.
Was
geschehen ist vor der Geburt der Mädchen, ist aufgehoben, hat seinen Platz in
der Kette der Kausalität, der Millionen von Ereignissen, der guten und der
schlechten.
Hätte
Rüdiger mich nicht verlassen oder wäre er zurückgekommen, so hätte ich jetzt
nicht meine Kinder.
Ich denke
nach über das Scheitern. Immer gibt es doch Rätsel auf. Die griechische Tragödie
kündet davon und auch das Alte und das Neue Testament.
Die
Philosophen suchen ihre eigenen Erklärungen. Das Scheitern sei der Widerspruch
an sich, das Gegenläufige zur These. Der Widerspruch als die Antithese. Und er
hat viele Gesichter, ist nicht immer das Schlechte, das Böse an sich, ist die
Entwicklungsstufe hin zur Synthese.
Bei Marx
lese ich, auch die Gesellschaft entwickle sich in Widersprüchen. Aus dem Chaos,
aus den Kriegen und Kämpfen entwickle sich die Antwort hin zum Guten, zur
Synthese. Sie entwickle sich nur durch das Handeln. Der Mensch sei von Natur aus
gut, sagt Marx im Sinne von Rousseau, nur die Verhältnisse machten ihn schlecht.
Also seien sie zu ändern.
Marx hat
nachgelesen bei Rousseau und bei Hegel. Sie alle haben nachgelesen bei Kant und
bei Leibniz bis hin zu Sokrates.
Sokrates
hat nichts aufgeschrieben. Er pflegte nur den mündlichen Dialog, die Rede und
die Gegenrede auf dem Weg der Wahrheitssuche. Sein Schüler Platon hat es
aufgeschrieben.
Ich frage
mich: Gibt es den Dialog im Mikrokosmos?
Die
Elementarteilchen, ja selbst Materie und Antimaterie, sie kommunizieren,
tauschen ihre Botschaft aus, reagieren gegeneinander, miteinander.
Im „Faust“
lässt Goethe den Mephisto sagen: Ich bin der Geist, der stets verneint…“
Gott ist
der Weltgeist, so auch bei Leibniz und bei Kant. Aristoteles nennt ihn den
Logos. Aber warum lässt Gott das Leid zu?
Und
Leibniz fügte noch hinzu: …in dieser besten aller Welten?
Ähnlich
fragten schon die Epikuräer. Nur wollten sie beweisen im Zuge ihrer Gleichung,
dass Gott nicht existiert. Dagegen meinten Leibniz und auch Kant, das Leid sei
der Preis der gottgewollten, absoluten Freiheit. In diese Freiheit habe uns der
Weltgeist entlassen mit seinem göttlichen Impuls. Das sei der Impuls zu
verantwortlichem Handeln.
Spätere
Philosophen nennen andere Impulse, darunter die Ästhetik. Sie ist nicht gut,
nicht böse. Sie befasst sich mit dem Schönen und auch mit dem Hässlichen. So
handelt sie mitunter gegen die Verantwortung, denn sie schreit nach absoluter
Freiheit, schreit nach Freiheit in der Literatur, in der Kunst der Renaissance,
des Expressionismus. Und wird niemals müde von diesem Schrei.
Braucht
die Ästhetik die Verantwortung?
Ich stelle
mich meinen Wundern.
Sie
greifen sich Raum in meinem Alltag, in meinem Leben, in meiner Beziehung.
Ich stelle
mich der Verantwortung.
Und ich
kaufe Spielzeug aus Holz, auch Lego-Steine. Ich schneide Puppenhausteile zurecht
aus Pappe. Die Außenwände beklebe ich mit DC-fix. Ich bastle einen
Weihnachtskalender aus Jute und Filz, nähe Puppen aus weichem Stoff und sticke
dunkle, staunende Knopfaugen in die knäuelrunden Köpfe. Darüber knüpfe ich
Haarmähnen aus dunkelbrauner und rostroter Wolle zum Zöpfeflechten.
So sitzen
sie und staunen und warten auf das Knuddeln und Betatschen.
Die
Barbie-Puppe kommt uns nicht ins Haus! Nicht diese Plastik-Gliederstecken, nicht
dieses Serienprodukt, nicht dieses falsche Frauenidol! Nicht diese Barbie mit
der Botschaft: Werdet so wie ich, so spindeldürr, so löwenmähnig, so modisch und
so up to date! Kauft meine Kleider, meine Perücken, meine Kosmetiksachen, kauft
meinen Hausstand im Stil der Eigenheime, seriell gefertigt und mit Rasen, Pool
und Hollywoodschaukel, mit Wohnwand und Gummibaum! Eltern, kauft den
zeitunglesenden Can dazu, denn Barbie braucht auch einen Ehemann! Barbie liest
keine Zeitung. Barbie als Serienzeichen. Damit ist man bei den anderen. Damit
ist das Kind nicht mehr allein. Die Industrie hat die Angst vor dem Alleinsein
entdeckt. Man kauft sich Heimat in der Masse mit der Marlboro, man kauft sich
Heimat bei den Individualisten mit der Roth-Händle. Manchmal ist es auch die
Gauloise. „Die Gauloise hast du geraucht“, sage ich zu Horst, „aber nur bis zur
Geburt der Kinder.“
Wir mögen
keine Comics. Wir mögen keinen Donald Duck.
Die
Tiergesichter sind verzerrt, sind Schablonen bis hinein ins Obszöne. Dazu kommt
die krächzende Geräuschkulisse.
Wir sehen
Sesamstraße. Bert und Earnie machen Experimente. Es herrscht geheimnisvolle
Stille. Sie gießen Wasser von einem knallbunten Becher in den anderen und es
fließt und gluckst und plätschert. „Wasser“ sagt Bert fachkundig zu Earnie. Und
Earnie staunt. Und wie Earnie staunt, so staunt auch Melanie. Nadja ist drei
Jahre älter. Deshalb ist sie Bert und weiß auch längst: es ist Wasser.
Wir sehen
die Sendung mit der Maus, die Augsburger Puppenkiste und die Mumins, lesen und
hören Geschichten und Märchen aus aller Welt, blättern in Kunstmappen.
Wir gehen
in den Supermarkt. Wenn wir wieder zu Hause sind, veranstalten wir das
„Einkaufsessen“. Ich rufe es durchs Haus wie der Muezzin sein Gebet.
Wir geben
den Wegen Namen. Im Wald steigen wir bergauf über Baumwurzeln. Das sind die
Treppen der Zwerge.
Ich hole
Nachbarskinder ins Haus. Mit ihnen feiern wir Kinderfeste.
Der
Fernseher hat drei Programme. Vordrucke kommen mit der Post. Auf ihnen könnten
wir zusätzlich Kanäle beantragen. Ich werfe das Zeug in den Papierkorb. Auch
Horst soll nichts davon erfahren.
Die
Medienkrake ist im Begriff, sich nach den Kindern auszustrecken.
Kann dies
alles der Erziehungshimmel sein? Kann der Erziehungshimmel alles sein?
„Wir
brauchen Freunde“, sage ich zu Horst, „unsere Freizeit reduziert sich nur noch
auf Familie. Familienbesuche an den Sonntagen, die ewiggleiche
Themenschallplatte zu Kaffee und Kuchen, eure früheren Lehrerinnen und Lehrer?
Eure Hausmusik? In meiner Familie gab es keine Hausmusik. Was soll die Frage, ob
nicht auch Achtundsechzig Dreck am Stecken habe? Geschenkt! Ich weiß, du
schlägst dich mutig. Nur du! Indessen geht Frau an die Arbeit, wir spülen das
Kaffeegeschirr und die Kinder rennen uns zwischen die Füße. Ich steh im Regen.
„Ich weiß
wohl“, sagt Horst.
Kleine
Fäuste
wie
Knospen
weich und
weiß
und rot
fallen
vom grünen
Uterus
Im Geäst
meiner
Hände
öffnen sie
sich
zum
Fliegen
Ich suche
angestrengt nach einer Heimat in der Gruppe. Ich suche sie auch für Horst.
Das Wort
„strukturieren“ ist in Mode. Ich strukturiere meinen Tag. Er gehört der Familie,
gehört den Kindern. Wenn ich für sie die Gutenacht-Geschichten gelesen oder die
selbst gedichteten erzählt habe, mache ich mich an meine Bücher, Zeitungen und
Periodica, darunter die Marxistischen Blätter, die Roten Blätter, die Blätter
für deutsche und internationale Politik, die Deutsche Volkszeitung, die
Frankfurter Rundschau und die regionale Zeitung.
„Wenn du
ein gutes Einschlafmittel brauchst, dann lies einfach die Parteizeitung“, sagt
Rolf vom DKP-Vorstand der Ortsgruppe. „Weiter empfehle ich die Stalin-Biographie
– alle paar Sätze liest du ‚frenetischer Beifall’ – selbst als Gehirnwäsche
nicht intelligent genug.“
Es stimmt,
wir vom Vorstand langweilen uns zu Tode mit der Parteizeitung. „Die schreiben
alles ab vom Neuen Deutschland“, sagt Max.
Das
abendliche Pensum schaffe ich nur mit einer Schachtel Zigaretten. Ich lese quer
im Wettlauf mit der Zeit, mache mir Notizen auf Karteikarten, bereite mich auf
das Referat vor: die Geschichte der italienischen KP.
Bin nun
Mitglied der DKP und zuständig für die Bildung, wie es heißt, gehe regelmäßig
zur Schulung nach Stuttgart-Sillenbuch ins Waldheim. Es ist ein traditionelles
Haus der linken Stuttgarter Arbeiterbewegung. Andere nennen es das
Clara-Zetkin-Haus.
Ich habe
das starke Gefühl, dazuzugehören, nicht mehr am Rand zu stehen, am Zaun der
Gesellschaft als irgendwie Außenseiterin, als eine, die nicht wirklich
dazugehört, sich nicht einbringen kann, als eine Zwar-Aber im Bereich zwischen
den gesellschaftlichen Schichten.
Mein
Eintritt begann mit einem Seminar über die Mehrwerttheorie von Karl Marx, mit
Geburtstagsfeiern der Genossen und Genossinnen, mit Feten, Rock-Bands und den
Liedermachern Franz Josef Degenhardt, Hannes Wader und Konstantin Wecker, mit
den Kabarettisten Dieter Süverkrüpp, Dietrich Kittner und Hans-Werner Hüsch, mit
dem Heine-Rezitator Lutz Görner, mit den Schriftstellern Bernt Engelmann und
Günter Wallraff, „Ihr da oben – wir da unten“, und vielen anderen, die es ebenso
Wert wären, genannt zu werden. Sie alle schienen aufzutauchen aus einem
utopischen Himmel, sie schenkten uns die Vision einer besseren, gerechteren
Gesellschaft und das Gefühl von Zusammengehörigkeit.
Das Wort
„Szene“ war geboren.
Wir haben
Freunde, die ins Haus kommen, die klassenlose Gesellschaft auch als informelle
Gruppe, Akademiker, blitzgescheite Arbeiter und Arbeiterinnen, Angestellte.
Ein
Schimpfwort kursiert in der DKP: das „Lumpenproletariat“. Diese Leute, teils
parteilos, sitzen im Naturfreunde-Haus mit am Tisch und machen schlüpfrige
Witze. „Sprachlichen Sexismus“ nennen es die autonomen Frauengruppen.
Die
Stimmen werden laut, überschreiten die Grenze des guten Stils, die Peinlichkeit
wird unerträglich. Horst flüstere ich zu, „den Sexismus müssen wir uns nicht
gefallen lassen“. Ich bin schon am Aufstehen. Er gibt mir einen Puff in die
Seite. Wie Horst es betrachtet, weiß ich. Ein Lehrerkollege schimpft es
„Proletkult“. Ich bleibe sitzen. Wir wollen die Tischgenossen nicht verletzen,
nicht durch soziale Arroganz, indem wir den Tisch vorzeitig verlassen.
Vor allen
Dingen bin ich eingetreten, um eine Gruppenfamilie zu haben, und auch wegen der
vielen Feten. Was mir gefällt: Man favorisiert die Bündnispolitik mit den
fortschrittlichen Gruppen der Gesellschaft, wie es heißt bei Robert Steigerwald,
dem bundesrepublikanischen Theoretiker der DKP. Man habe als Partei die
antimonopolistische Demokratie anzustreben und nicht die Revolution, diese sei
das völlig falsche Konzept der Trotzkisten und der übrigen K-Gruppen, also seien
sie unsere politischen Gegner. Dem Radikalen-Erlass, an dem der Willy Brandt
mitgewirkt habe, müsse die DKP den demokratischen Widerstand bieten. Das
Establishment wolle Angst schüren in der Bevölkerung, die psychologische
Kriegführung einleiten, wie Franz- Joseph Strauß es bezeichne.
Wenn
Robert seine Veranstaltungen macht, sitzen die Maoisten-Leninisten in den
vorderen Reihen und stören die Diskussion mit Lenin-Zitaten oder Sprüchen aus
der roten Mao-Bibel. “Warum seid ihr nicht im Stande, dies mal im historischen
Zusammenhang zu sehen, ihr eifrigen Bibelforscher?!“, frotzelt Robert vom
Rednerpult herunter. Die Ironie scheint beabsichtigt, sie polarisiert das
Publikum. Dann ruft es aus dem Saal: „Habt ihr schon eine Fabrik von innen
gesehen, ihr naiven Spontis? Die Revolution macht man nicht auf dem Reißbrett
und schon gar nicht nach einem Achtstundentag. Da genießen wir mit Recht unseren
Teil am Wohlstandskuchen!“ Die gegnerischen Parteisoldaten der
Maoisten-Leninisten und des Kommunistischen Arbeiterbundes brechen in
strategisches Gelächter aus: „Dann lasst euch getrost abspeisen mit diesem
Almosen! Euch ist doch nicht zu helfen, ihr Revisionisten!“
Wir
treffen uns im Club Manufaktur.
Armin,
Mitglied der Jungdemokraten, sammelt Unterschriften. Armin ist Fabrikantensohn,
hat jedoch der Firma seines Vaters den Rücken gekehrt und betreibt ein kleines
Tee- und Gewürzlädchen. Heute geht es Armin darum, zwei Studenten vor dem Urteil
der Vorstrafe zu retten. Sie sollen laut Anklage mitverantwortlich sein für die
Formulierung „klammheimliche Freude“, so zu lesen in einer Ausgabe der Druckerei
Fantasia. Dabei geht es um die Ermordung des Generalbundesanwalts Buback durch
die RAF.
„Dass du
mir bloß nicht unterschreibst“, sagt Rolf mir über die Schulter. Die sind im
Grund nur geil drauf, uns unter einer Decke mit der RAF zu sehen.“
Tom,
Sportlehrer mit Politologiestudium und Trotzkist, steht betont lässig am Tresen,
in seiner Hand eine Bierflasche. „Du bist ein absolut feiges Stück“, sagt er
aufgebracht, als ich die Unterschrift verweigere, „jetzt habt ihr die Maske
fallen lassen. Ist es das, was ihr unter Solidarität versteht? Wisst Ihr, was es
heißt, wenn zwei nicht weiterstudieren können?“ Stefan schlägt zurück mit
eigenen Waffen, seinen kleinen, blitzenden Augen, listig und gefährlich bis zur
Verschlagenheit, die Augen eines russischen Bauern aus dem Gefolge Lenin’scher
Bolschewiki. Geschmeidig seine Bierflasche schwenkend, geht er an uns vorbei,
dreht sich kurz hin zu Tom und sagt lächelnd: „Parteidisziplin“.
Wir sitzen
am Lagerfeuer, unsere Kinder tollen mit den Kindern der anderen über die Wiese,
klettern auf Zäunen herum, spielen Verstecken in der Scheune. Sie wissen nicht,
dass ihre Eltern unterschiedlichen K-Gruppen angehören. Franz rührt in seinem
großen Gulaschkessel, pfeffert nach im Übermaß, und Mario von den Euros taucht
seine Holunderblüten ungewaschen in die Teigschüssel, dann in einen Topf mit
siedendheißem Fett.
Barde
Franz Josef Degenhardt singt vom Band in die laue Nacht hinein: „Kommt an den
Tisch unter Pflaumenbäumen, der Hammel ist gar überm Lauch…“ und die Ballade vom
Bauernführer Jos Fritz mit dem Refrain: „…lasst nicht die roten Hähne flattern,
ehe der Habicht schreit, vor der Zeit, vor der Zeit“. Und unheildrohende
Habichtschreie begleiten seinen Gesang.
Einer
stimmt zu fortgeschrittener, wein- und bierseliger Stunde das Lied an: „Auf auf
zum Kampf, zum Kampf sind wir geboren…“ Nur ein paar kennen den Text auswendig,
die anderen johlen mit.
Maoisten
aus den Nachbarorten kommen mit Frauen und Kleinkindern an Franzens
Gulaschkessel. „Was sagt denn euer Großer Vorsitzender dazu, wenn ihr zu uns zum
Essen kommt?“, fragt Franz, „der wird sagen, wann macht ihr eigentlich eure
Revolution? Doch nicht beim vielen Gulaschfressen!“
„Das kann
nicht wahr sein!“ Horst kramt in seiner über die Maßen vollen Männer-Handtasche
und leert das Handschuhfach. „Ich hab die Autopapiere vergessen, so kommen wir
nicht rüber!“ Wir stehen am Grenzübergang nach Ostberlin. Ein Polizist kommt ans
heruntergekurbelte Fenster. „Nanu! Auf Ihrem Rücksitz liegt der ‚Spiegel’, den
dürfen Sie gleich hier abgeben. „Wir haben ein ganz anderes Problem“, sage ich
gespielt solidarisch. „Mein Mann hat die Auto-Papiere vergessen.“ Der Polizist
verärgert: „Immerhin haben Sie Ihre beiden Kinder nicht vergessen! Ich muss Sie
zurückschicken.“ Horst reagiert verärgert: „Jetzt rufen wir den Paul vom Bezirk
an.“ Paul ist der Leiter des Bezirks Dresden. Ich bin als Kader eingeladen samt
Ehemann und Kindern zu einem dreiwöchigen Urlaub auf einem ehemaligen Schloss.
Ich habe angenommen, obwohl ich nicht weiß, womit ich diesen kostenlosen Urlaub
verdient haben sollte. „Mit Gehirnwäsche können sie uns nicht kommen“, sagte
Horst damals, „wir sollten es aber riskieren. So billig kommen wir nirgendwo
hin.“
Ich hole
mit zittrigen Fingern mein Parteibuch aus der Tasche. Nadja und Melanie streiten
sich aus Langeweile auf den Rücksitzen. Ich steige aus und gehe zum Checkpoint.
„Hier
bitte, ich bin Kader aus der BRD. Hier ist die Adresse unseres Gastgebers, oder
kann ich dort wohl selbst anrufen?“, frage ich in höflichem Befehlston. „Das
machen wir schon“, sagt der Grenzbeamte und betätigt die Wählscheibe. Die
Kollegen lächeln misstrauisch. Einer isst genüsslich sein Vesperbrot.
Paul ist
am Telefon.
„Geht
alles in Ordnung, Ihr könnt rüber“, sagt der Grenzbeamte mit sächsischem Akzent.
Er geht
mit mir zum Auto und sagt zu den Kindern hin, „na, ihr zwee Kessen!“
„Ich
brauch unbedingt ein Einlegevisum, Sie wissen, wie’s bei uns zugeht mit dem
Radikalenerlass.“ „Was issn das?“, fragt der Grenzbeamte. „Ja, eben die
Berufsverbote“, sagt Horst, „zwar bin ich parteiloser Lehrer, aber ein
DDR-Urlaub ist für mich trotzdem nicht drin, wie Sie wissen.“ Der Beamte nickt
kameradschaftlich. „Das regeln wir gleich.“
Hinter uns
warten die Grenzübergänger. Die Autoschlange wird immer länger.
Der Beamte
beugt sich durchs Autofenster, gibt Horst den Pass samt Einlegevisum, übersieht
den ‚Spiegel’ auf dem Rücksitz. „Alles ‚roger’? fragt er, „wie ist denn das
Wetter bei Euch im Süden?“
Horst
erkundigt sich, wie er am besten nach Weimar weiterfahre. „Wir wollen auch zum
KZ Buchenwald.“ Der Beamte geht zum Checkpoint, kommt gemächlich zurück und
entfaltet eine Landkarte.
„Dann gute
Fahrt und macht’s gut!“ sagt er durchs Autofenster und tippt an seine Mütze.
Wir sind
auf dem Ettersberg und fahren über den fast leeren, großen Parkplatz. Die
ehemals weißen Markierungen der Boxen sind verblasst bis zur Unkenntlichkeit.
Horst bringt das Auto irgendwo zum Halten. Ein Volkspolizist rennt herbei. „Sie
fahrn bitte sofort aus der Box wieder raus und schdelln sich oorndlisch wieder
rein!“
„Vielleicht
zeigen Sie mir mal, wo hier eine Box ist, Sie mickriger Typ!“, mault Horst
zurück. Der Vopo: „Wenn Sie misch mickrisch nennen, dann geem Se mir sofort Ihrn
Führerschein und gomm gleisch mit zu meim Chef!“ Er spielt mit der linken Hand
an seiner Waffe, streckt die rechte nach dem Führerschein aus und schnippt mit
den Fingern.
„Erstens
sehe ich hier auf dem Platz nur drei Autos. Zweitens bringen Sie mich auf der
Stelle zu Ihrem Chef!“, sage ich in dem am Grenzübergang erprobten Tonfall.
„Hier ist mein Parteibuch samt Adresse unserer Gastgeber. Wir sind eingeladen
von Ihrem Dresdner Regierungsbezirk.“
„Nu, dann
Entschuldigung, war ja nischt bös gemeint“. Mit schuldbewusst hängendem Kopf
latscht er über den Platz.
„Nu dann
entschuldige ich misch, war ja nischt bös gemeint.“ Er zog seinen Kopf
schuldbewusst zwischen die Schultern und latschte ängstlich zwischen die
Schultern und latschte
Wir fahren
durch Obstbaumalleen auf kurvigen, holprigen Straßen hin zum Schloss. Es
versteckt sich zwischen hohen Bäumen. Beim Näherkommen gibt es die Schamröte
seiner Mauern frei.
Auf der
weiträumigen Terrasse – sie grenzt an die Wiesen der Nachbar-LPG – sitzen die
schon angereisten Genossen in kleinen Gruppen beisammen, lesen, diskutieren oder
halten das Gesicht in die Nachmittagssonne. Zwischen den Stühlen spielen ihre
Kinder Fange und Verstecken.
Paul
beginnt mit der Begrüßung.
„Ihr seid
eingeladen, hier euren Urlaub zu machen. Früher war das Schloss im Besitz der
Baronin, heute gehört es der Partei. Macht also euren Urlaub hier, esst und
trinkt und lasst`s euch schmecken, aber macht mir nicht Urlaub vom Klassenkampf!
Es gibt im Haus die Bibliothek, Vorträge und Gelegenheit zur Diskussion. Private
Ausflüge haltet in Grenzen! Frühstück gibt`s um neun. Erscheint bitte pünktlich.
Einer, der zu spät zum Frühstück kommt, kommt auch zu spät zur Revolution.“
Die
meisten lachen artig.
„Ich steh
auf, wenn`s mir passt“, mault mir Horst ins Ohr.
Anja kommt
vom Einkaufen. „Im Dorf gibt`s keinen Saft, nur Sirup. Den nehmen sie zum
Verdünnen mit Wasser. Die Buben haben aber Durst! Was sollen sie jetzt trinken?
Was machen die bloß mit den vielen Kirschen?!“ „Du siehst doch, die stehen bei
uns auf dem Tisch. Jeden Tag Kirschsaft pur und abends Wein, was willst du
mehr!“, frotzelt Horst.
Ein Kader
der Bezirksleitung referiert über das Thema „die Agrarwirtschaft in der
Deutschen Demokratischen Republik“ und rühmt die Größe der Rüben. Ich melde
mich:
„Könnte
diese Größe nicht von der Überdüngung herrühren, da ihr mit dem Flugzeug düngt?
Und ein Zuviel an Chemie schadet, wie ich meine, der Qualität.“ „Qualität und
Ertrag, Genossin, sind außerordentlich und darauf kommt es doch an“, sagt der
Referent. Er lächelt höflich. Es folgen langweilige Passagen über Plan-Soll und
Planerfüllung.
Nächstes
Thema mit neuem Referenten anderentags: „Das Wesen des Trotzkismus in unserer
Zeit“.
Trotzki
habe nicht im Entferntesten daran geglaubt, dass ein einzelnes Land im Stande
sein könne, seine eigene, seiner wirtschaftlichen und politischen Situation
angemessene Revolution zu machen. Bei den nationalen Befreiungsbewegungen komme
es den Trotzkisten einzig und allein auf den bewaffneten Kampf, Aufstände und
Bürgerkriege an. Somit verhinderten sie einen Zusammenschluss im Kampf gegen
Imperialismus und Feudalismus. Auch in der BRD gehe es um das demokratische
Bündnis gegen den Klassenfeind, hier im Besonderen gegen die Monopole, eben um
das breite antimonopolistische Bündnis. Die 1968er-Revolten seien als
antirevolutionäre und kleinbürgerliche Umtriebe anzusehen und nicht als
Aktionen, die ernsthaft das Bündnis mit der Arbeiterklasse gesucht hätten. Ein
Ableger davon sei die RAF gewesen, verstrickt in kleinbürgerlichen Nihilismus
und anarchistische Disziplinlosigkeit.
Ich frage,
wie die DDR zu dem Gerücht stehe, sie gewähre Personen aus der RAF Asyl im Fall
eines Fluchtversuches. „Die Frage beantwortet sich von selbst. Du kennst unsere
Haltung gegenüber kleinbürgerlichen Revoluzzern und Pseudokommunisten“.
So bleibt
meine Frage unbeantwortet.
Im
Nachbarort läuft ein Spielfilm über das Potsdamer Abkommen, wo Stalin von Truman
erfährt, Amerika sei im Besitz der Atombombe. Der Film laufe erst abends, sagt
uns der Filmvorführer. Abends hätten wir keine Zeit, wir seien als Delegierte
aus der BRD zu einer Veranstaltung eingeladen, sage ich ihm und zeige ihm mein
Parteibuch. Respektvoll geleitet er uns in den leeren Kinosaal und lässt den
Film für uns laufen.
Auf der
Rückfahrt nahe der Grenze Hof bleibt das Auto stehen. Wir schieben es von der
Fahrbahn auf den Standstreifen. Horst macht sich zu Fuß in den nächsten Ort zur
Autowerkstatt. Ich bleibe bei den Kindern. Ein Vopo-Auto kommt angefahren, die
Streife der Volkspolizei. „Hier gönn Se uff gar keen Fall schtehnbleim!“ „Was
sollen wir sonst machen, wenn der Motor kaputtgegangen ist? Mein Mann holt eben
Hilfe“, maule ich gleichfalls unfreundlich zurück, „bisher sind wir jedenfalls
nur über Schlaglöcher gefahren!“ „Das interessiert uns im Moment überhaupt
nicht, Sie machen sich strafbar, denn Sie dürfen hier nicht halten!“, sagt ein
anderer. „Toll, wenn man sich als Gast der Partei auch noch strafbar macht!“,
meckere ich und halte ihnen mein Parteibuch unter die Nase. In dieser Sekunde
werden aus Polizeirobotern kontaktfreudige Kumpel. Oder ist diese
Kontaktfreudigkeit nur gespielt? Versteckt sich dahinter nicht die Angst, ich
könnte mich über sie bei der Parteileitung beschweren? Zwei lehnen sich lässig
gegen die Autotür, zünden sich eine Zigarette an, die anderen stützen sich
rückwärts gegen die Motorhaube, die Füße weit von sich gespreizt. „Stimmt das
eischentlisch bei euch mit den Berufsverboten?“ Ich habe Angst, mich aufs
Glatteis zu begeben. Meinen Gedankenfluss blockiert ein Schlagbaum. Der besteht
aus den fünf Buchstaben: STASI. „Warum fragt ihr mich? Glaubt ihr euren Medien
nicht?“, frage ich zurück. „Woher gönn denn wir immer wissen, was stimmt und was
nischt?!“ Die Vopos schauen wie pubertierende Jungen, verlegen, hilflos,
zutraulich und zugleich misstrauisch. Ich versuche zu erklären, ärgere mich aber
darüber, dass ich abrutsche ins Dozieren.
„Offiziell
ist es der Radikalenerlass, sprich Radikale im Öffentlichen Dienst, zum Beispiel
Lehrer mit DKP-Mitgliedschaft. Ein paar von denen hat der Staat die
Berufserlaubnis verweigert oder entzogen. Die DKP hat sich aber zum Grundgesetz
bekannt. Deswegen ist sie auch zugelassen und vom Verfassungsgericht nicht für
verfassungsfeindlich erklärt worden.“ Meine Erklärung scheint nicht anzukommen.
Die Vopos verändern gelangweilt ihre Stellung, signalisieren Desinteresse und
Ungeduld, wittern womöglich ideologische Belehrung. Die wollte ich ihnen nicht
antun. Wir stehen einander gegenüber wie Aliens von fernen Planeten.
Einer sagt
schließlich nach einer Pause des Schweigens: „Also da mach dir mal keine
weiteren Gedanken wegen der falschen Spur. Wir müssen weiter. Dann gute Fahrt
euch und alles Gute in der BRD!“
Horst
kommt von der Werkstatt zurück Ein Autofahrer aus dem Westen schleppt uns ab in
Richtung Grenze.
„Bitte
rrrechts rrranfahrn!“ Der bayrische Grenzpolizist steckt seinen Kopf durchs
Autofenster. „Wo kommts ihr denn her? Habts Truppenbewegungen beobachtet
unterwegs?“ Zu den Kindern auf dem Rücksitz: „Gebt´s zu! Ihr wart im Lager!“
Nadja und Melanie sagen kein Wort. Horst zeigt dem Beamten sein Einlegevisum.
Wir seien auf der Heimfahrt von Berlin über die DDR. Er wird in die Stube der
Grenzpolizisten beordert. Ich bleibe mit den Kindern zurück im Auto. „Wenn der
versucht, euch auszufragen, dann sagt ihr kein Wort, kein einziges Wort! Kann
ich mich auf euch verlassen?“, flehe ich sie an. Der Polizist kommt zurück ohne
Horst. „Wo warts ihr also im Lager?“ Stille. „Gut erzogen seids auch noch!“
„Jetzt glauben sie uns bitte! Wir sind auf der Durchreise von Berlin in die
Heimat!“, sage ich und schaue ihm gespielt treuherzig in die Augen. Die
antworten lauernd und belustigt misstrauisch und mir wird plötzlich bewusst: Ich
trage Afro-Look, die in Mode gekommene Angela Davis-Frisur, einen Wuschelpelz
aus pechschwarzen Kräusellocken. In den USA wird Angela Davis,
Vietnamkriegs-Gegnerin und seit Martin Luther King Gallionsfigur der Black
Power-Bewegung, gefangen gehalten. Die Medien berichten über ein mögliches
Todesurteil.
Nach einer
Weile kommt Horst zurück. Wir können weiterfahren. Das Einlege-Visum hat uns
gerettet.
Morgens
träumte
ich
das Haus
im grünen
Meer
mit einem
Strauch von weißen Rosen
das Blau
vom Rittersporn
zum Rot
der Beeren
Mittags
träumte
ich
die Sonne
in den Zweigen
Rosenrot
saß am
Klavier
und im
Gras
Schneeweißchen
Abends
fühlte ich
die
Schatten wuchsen länger
mit den
Bäumen
und deine
Hätschelblume
Schlinggewächs
kroch über
Rittersporn und Rosen
„Hey, was
machst du hier?“ Mechthild humpelt mir auf dem langen Krankenhausgang entgegen.
„Ich hab
den Blinddarm rausbekommen und die Gebärmutter“, sage ich. „Alles gutartig.“
„Bei mir
Fehlgeburt.“ Immer noch trägt sie ihre Gudrun-Ensslin-Mähne, langes Blondhaar,
Fransen bis zu den Augenbrauen.
„Wo
steckst du zur Zeit, hast du noch Berufsverbot?“
„Ja schon,
ich bin beim Bundesvorstand. Bei uns brodelt`s, du glaubst es nicht.“
„Musst mir
nichts erzählen, wenn du Schmerzen hast“, sage ich.
Mechthild
bekommt rosa Flecken aufs blasse Gesicht.“Und was machst du?“
„Bin
ausgetreten seit der Ausbürgerung von Wolf Biermann und jetzt in der
Friedensbewegung. Dort triffst du auch wieder die Unsrigen. Die Inge und der
Peter sind jetzt bei „Ohne Rüstung leben“, gewaltfreier Widerstand und so. Die
machen Seminare über den Dienst nach Vorschrift, falls die NATO hier das
militärische Kommando übernimmt. Du arbeitest quasi absolut lahmarschig, nur
noch das Nötigste, zum Beispiel beim Versand, bei der Post und der ganzen
Nachrichtenübermittlung.“
„Ist doch
okay, wenn alle zusammenhalten. Die ewige Selbstbeweihräucherung der K- und
sonstigen Gruppen geht mir inzwischen auf den Geist“, sagt Mechthild. Was denkt
sich bloß der Helmut Schmidt mit seinem Doppelbeschluss? Wenn die Pershings und
Cruise Missiles stationiert sind, dann greift keine Doppelstrategie mehr. Die
Russen löschen hier die Raketen aus per Erstschlag. Dann kannst du auch die
Nato-Erstschlagstheorie vergessen. In den USA verkaufen sie jetzt irre Spiele.
Da geht`s ums „nukleare Theater Europa.“
Wir gehen
diskutierend den Gang entlang, leicht nach vorne gebeugt, die Hand am frisch
operierten Bauch.
„Meine
Beziehung ist total am Arsch“, sagt mir Gabriele am Telefon. Sie heule seit
gestern, im Moment heule sie wegen der Stationierung. „Der Marcel hat mich
angerufen. Er verkriecht sich im Bett und liest nur noch Science fiction.“
„Wir
können uns das nicht leisten“, sage ich, „der Marcel schon, mit seinen paar
mickrigen Sportstunden, eventuell noch Politologie und keine Spur von Haushalt..
Ist der eigentlich noch Trotzkist oder was? Möglich wäre KBW oder KPDML. Bei
denen lag mal die Mao-Bibel auf dem Küchenbüfett. Neuerdings versucht er,
Karriere in der Graswurzelbewegung zu machen. Dort kursiert der Name DIE GRÜNEN.
Super, wenn die mitmachen gegen den Nachrüstungsbeschluss. Nur tun die jetzt so,
als hätten sie die Anti-Atomkraft-Bewegung erfunden.
Weißt du
noch – Wyhl, mit dem Balthasar Ehret? Denk auch an Wackersdorf,
Wiederaufbereitungsanlage. Ohne den Widerstand der Bevölkerung hätten wir den
Baustopp nicht hinbekommen. Bei der Blockade waren die Christen vom
„gewaltfreien Widerstand“ mitten im CS-Gas. Die Ines hat eine Augenverletzung
abbekommen. Wie kannst du damit Unterricht machen!
Dorothee
Sölle hat es damals auf den Punkt gebracht. Es war am Tag, als der christliche
Widerstand die Holzkreuze den Hang hinaufgetragen hatte bis vor den Zaun. Sie
hat danach mit Pfarrer Albertz auf dem Podium gestanden und in die Menge
gerufen: `Was ist heute Kirche, liebe Freundinnen und Freunde?! Kirche ist das
Kruzifix am Bauzaun von Wackersdorf!´
Was
Mutlangen angeht: Ich blockiere. Sollen die Promis nur mitmachen..Die ganze
intellektuelle Linke hat sich angekündigt.“
Edo hat
mir einen Übernachtungsplatz freigehalten im Zelt der ehemaligen KZ-Häftlinge.
Wir liegen
Schlafsack an Schlafsack auf dem plattgetretenen Wiesenboden.
Das Surren
eines Rasierapparates kommt dicht an mein Ohr, reißt mich aus dem
Blockade-Halbschlaf. „Gut rasiert ist halb blockiert!“, sagt einer. Alle lachen,
während sie gemächlich in ihre Sträflingsanzüge schlüpfen.
Es ist
vier Uhr morgens. Mit brennenden Fackeln gehen wir über das Friedenscamp in
Richtung Raketenzaun. Ich stolpere über die Heringe eines Einmannzeltes.
„Mensch, pass doch auf!“, schreit es heraus. Eine Waschschüssel kippt um, kaltes
Wasser läuft mir über die Füße. Der Friedensfreund liegt – verheddert in seine
Zeltplane – auf dem Boden. „Sorry, tut mir so leid!“, rufe ich auf das Bündel
hinunter und renne schnell davon. Ich darf den Anschluss an die Gruppe nicht
verlieren.
Wir sitzen
eng aneinandergedrängt auf dem Boden vor dem Haupttor des Raketendepots.
Ich mit
ungewaschenem und unausgeschlafenem Gesicht, weil im nächstliegenden
Toilettenwagen der Wasserhahn nicht funktioniert hat. Über uns kreisen die
Hubschrauber der NATO. Keiner weiß, was es bedeutet. Um uns tummeln sich die
Reporter der internationalen Presse. Durch das Blitzlichtgewitter sehe ich die
berittenen Polizisten. Wir tragen alle das hellblaue Dreieck-Halstuch mit der
Aufschrift „Das weiche Wasser bricht den Stein“.
Die
Patengruppe rahmt uns solidarisch ein. Zwei spielen die Gitarre und alle singen:
„We shall
overcome…”
Tags zuvor
ging es immer noch um die Konsensfindung. Man kauerte in unzähligen Grüppchen im
sonnenwarmen Gras, die Prominenten jeweils in der Mitte, Erhard Eppler an sein
aufgestelltes Fahrrad gelehnt, auf dem Kopf ein Taschentuch mit geknoteten
Zipfeln. Petra Kelly ging Hand in Hand mit General Bastian. Günter Grass
diskutierte mit Blockierern von der Basis.
Ein paar
Autonome gestikulierten mit Rolf Hochhuth. Sie hätten beschlossen, die
Zufahrtsstraße bis zum Haupttor aufzureißen. Rolf Hochhuth, im Gras sitzend, tat
das Seinige, war ganz Dompteur, nur mit dem Oberkörper agierend, während ihm der
Schweiß von der Stirn rann. Die Friedensbewegung habe etwas mit Pazifismus zu
tun. Im Weggehen riefen ihm die Autonomen zu, er solle seine Sonntagspredigt für
sich behalten. Von einer Nachbargruppe rief es herüber, man könne auf der
Zufahrtsstraße doch Blumen pflanzen. Die seien samt der Erde schnell
herbeigeschafft.
Gegen
Nachmittag kommt Horst mit den Kindern. Ein berittener Polizist hält sein Pferd
im Zaum, damit Nadja und Melanie es streicheln können. Dann gehen sie mit mir
zum Haupttor und malen mit bunter Kreide Blumen auf die Zufahrtsstraße.
Horst
macht Fotos fürs Familienalbum.
„Ich lass
mich scheiden“, sagt Gabriele.
„Das krieg
ich nicht fertig. Scheidung ist schlimmer noch als Sterben“, schluchze ich ins
Telefon. „Mein Leben – das sind die Kinder, vergiss die ganze Scheißpolitik!“
„Ich gehe
jetzt in die Selbsterfahrungsgruppe, also Feminismus, Selbstverwirklichung und
so“, sagt Gabriele.
„Kannst ja
hingehen. Die Alternativen schießen bloß so aus dem Boden mit
Kräusellocken-Mähnen und lila Halstüchern, silberfädendurchwirkt, Zipfel vorne
auf dem Schlabber-T-Shirt überm Schlabberbusen, langer Rock gebatikt und
Birkenstocksandalen. Lass dich mal dort sehen ohne Uniform! Dann gehörst du
nicht dazu.“
„Unsere
Uniform waren die Blue Jeans, stonewashed! Schon vergessen?“ sagt Gabriele.
„Okay,
aber haben die Birkenstock-Sandalen eine blasse Ahnung von der Frauenbewegung
früherer Zeiten oder von der Arbeiterbewegung? Okay, sie mögen sich ja sonst
auskennen, beispielsweise auch in Müslisorten.“
„Stimmt!“,
sagt Gabriele. „Stur ökomäßig verhalten die sich im Verkehr! In Kolonnen von
Hausgeburts- und Stillgruppen tappen sie mit ihren Kindern auf die Straße.
Hockst du selbst im Auto, dann kannst du gerade noch die Notbremse ziehen“,
lacht Gabriele, “und was die Alice Schwarzer angeht: Ich meine nicht, man sollte
die Frauen ans Gewehr lassen. Wäre das feministische Politik? Und wer wird die
Schwarzer loben? Doch nur die Rüstungskonzerne!“
„Nun noch
mal zu den Selbsterfahrungs-Logen“, sage ich, „die dort kultivierte
Unzufriedenheit trägst du hinein in die Beziehung. Daheim wird dann die Kiste
kaputtdiskutiert. Natürlich ohne Konsensfindung.“
„Der
meinige war kein einziges Mal bereit, zu diskutieren. Ein langer Weg liegt vor
uns.
Auch
politisch. Die Geschichte unserer Unterdrückung ist jahrtausendealt.“
„Dabei
hast du als Lehrerin viel weniger zu klagen“, sage ich. „Zehn Jahre warst du zu
Hause wegen der Kindererziehung. Nun wirst du wieder in den Staatsdienst
übernommen, bist also nach wie vor pensionsberechtigt. Bist beruflich
emanzipiert.
Es ist das
alte Lied – die Arbeiter haben es uns vor den Fabriktoren an den Kopf geworfen:
"Auch bei euch Linken gibt es das Unten und das Oben. Im Kopf habt ihr den Karl
Marx.
Kaum seid
ihr aber oben angekommen, dann interessieren wir euch einen Scheißdreck!“
Wenn ich
ganz neu anfange, dann nicht jetzt.
Dann, wenn
die Kinder das Haus verlassen.
Wenn ich
ganz neu anfange, dann ohne Geld, aber wieder mit einer Illusion.
Durchs
offene Fenster kommen laue Lüfte, kommt die Wärme der Aprilsonne.
Ich plane
ein Picknick mit den Kindern, belege in der Küche ein paar Brote und würze den
Kartoffelsalat nach.
Das Radio
meldet einen nie gehörten Namen: Tschernobyl. Dort gebe es einen Super-Gau.
Aus dem
Atommeiler entweiche Radioaktivität. Sie drohe, das Umland zu verseuchen und
könne in den nächsten Tagen mit den Regenwolken um die Erde ziehen.
Ich kneife
mich in den Hals, möchte spüren, ob ich träume oder lebe.
Ich lebe
und es ist kein böser Traum. Es ist die böse Wirklichkeit.
Es ist der
Tag X.
Danach
wird nichts mehr verlässlich sein und uns Geborgenheit und Hoffnung geben, kein
Himmelsblau, nicht die weißen Wolken, nicht die Natur in ihrer frühlingshaften
Unschuld.
Die
AKW-Bewegung hat versucht, uns aufzurütteln.
Damals war
es noch graue Theorie: der als schlimmster Unfall anzunehmende Super-Gau.
Mediziner der Bewegung „Ärzte gegen den Atomtod“ informierten mit Vorträgen und
Diskussionen über die Notmaßnahmen der Regierung. Es seien Unmengen von
Jodtabletten gebunkert. Erste Hilfe sei nur jenen Opfern zu gewähren, die
überlebensfähig und daher in der Lage wären, anderen Opfern zu helfen.
Es kommen
erste Regenwolken. Sie kontaminieren die Knospen und Feldfrüchte und schwemmen
das Cäsium in die Erde.
Der
Landwirtschaftsminister lässt den Salat unterpflügen, als könnte er damit die
Strahlung hinwegzaubern.
Experten
messen landauf, landab mit dem Geigerzähler.
Was man
erntet, was man kauft, prüft man nach Bequerel und die Zeitungen liefern dazu
ihre Tabellen.
Täglich
verfolgen wir am Fernsehen, wie Mitarbeiter des Atommeilers sich bemühen, das
Höllenfeuer einzusperren. Die russische Regierung sendet Experten nach
Tschernobyl. Schließlich kommt die Meldung, sie hätten das Wunder vollbracht,
den Reaktor einzusargen, zumindest einmal auf Jahre hinaus. Sei der Schutzmantel
verschlissen, dann müsse ein neuer geschaffen werden.
Diese
Männer werden dem Tod geweiht sein. Ich nenne sie Märtyrer und schäme mich für
meine egomanischen Aktionen.
Denn das
ist alles, was ich tun kann: Ich kaufe eine zweite Tiefkühltruhe, fahre zum
Supermarkt und hole Tiefkühlgemüse, Tiefkühlobst, auch Gläser- und Dosenware. An
der Kasse entsteht eine endlose Schlange, die Leute murren und schimpfen, reden
gehässig vom Weltuntergang, denn ich bin immer noch dabei, das Förderband zu
beladen. Beim Metzger kaufe ich Fleisch, aufgeteilt in Familien-Portionen.
So bunkere
ich Nahrung aus der Zeit vor Tschernobyl. Wir werden ein Jahr lang damit
auskommen. Dann sehen wir weiter.
Die Katze
ist lange gelaufen, auf dem Feldweg entlang der Autostraße. Manchmal setzt sie
sich unter einen Baum und leckt ihre Wunden. Sie fühlt Geborgenheit, ihre Augen
werden schmal, sind plötzlich wieder grüne Blitze im schwarzglänzenden Fell,
folgen hin und her dem Tagwerk einer Ameisenkolonne.
Die Katze
ist hungrig. Das Mäusefangen macht ihr kein Vergnügen. Doch damit verdient sie
ihr Schälchen Milch. Sie bekam es immer, wenn sie die tote Maus dem Herrn zu
Füßen legte.
Die Katze
wurde satt, nur – es blieb der Hunger danach, dass die Hand des Herrn sie
streicheln möge. Der Herr indessen beachtete sie nicht.
Übers Jahr
hatte sie zwei Kätzchen geboren. Die liebte sie über alles und leckte sie
liebkosend. Bald fingen auch die Kinder Mäuse und legten sie dem Herrn zu Füßen.
Dafür bekamen sie das Schälchen Milch.
Die Zeit
verging. Nach und nach entfernten sich die Katzenkinder aus der Obhut der Katze.
Da war sie
einsam. Sie legte sich zu Füßen ihres Herrn und wollte gestreichelt werden.
Doch je
länger sie miaute, desto wütender wurde der Herr, bis er sie schließlich – gegen
ihren leichten Widerstand – zur Tür hinausbeförderte.
Da
beschloss die Katze eines Tages, ihren Kindern Lebewohl zu sagen und sich auf
den Weg zu machen. Wenn sie hungerte und in der morgendlichen Kälte stumm
wartend vor den Türen
saß, gab
man ihr hier und da das Schälchen Milch. Die Tür aber schloss sich wieder, denn
man hielt sie für eine Wildkatze.
Einmal
lockte sie ein Mann ins Haus.
Er
streichelte sie sanft, während er an seinem Whisky schlürfte. Die Katze hatte
nun ein neues Heim, fing wieder Mäuse und legte sie dem Herrn zu Füßen. Doch
mehr und mehr fühlte sie, dass der Herr im Grunde ohne Katze leben wollte,
allein mit seinem Whisky.
Nachdem
der Herr nun abermals betrunken war und sie zur Tür hinausgeworfen hatte, machte
sich die Katze leise auf den Weg.
Nun läuft
sie entlang der Autostraße. Im strömenden Regen findet sie ein Mann. Er nimmt
sie auf den Arm und nennt sie zärtlich seine Wildkatze. Er streichelt ihr
schwarzes, regennasses Fell. Nachts schläft sie an seinem warmen Körper, tags
läuft sie über weiche Teppiche und sitzt auf seinem Stuhl. Allmählich beginnen
ihre Wunden zu heilen.
Eines
Abends – die Katze ist über Felder gestreunt, hat unter Bäumen gesessen und den
Ameisen zugesehen – verliert sie auf dem Teppich ein Büschelchen Heu. Das macht
den Herrn wütend, er redet nun von Katzenhaar auf Teppichen und Stühlen.
Die Katze
versteht nicht, denn sie liebt das Heu über die Maßen, und sie liebt auch ihr
Fell. Der Herr bleibt unnachgiebig.
So läuft
die Katze nun tagtäglich hin und her und sammelt Katzenhaar von Teppichen und
Stühlen. Immer öfter aber kriecht sie scheu in ihr Versteck .Dann wieder fängt
sie Mäuse und legt sie ihrem Herrn zu Füßen. Der nimmt sie zärtlich auf dem Arm.
Er gibt ihr liebevoll das Schälchen Milch und nennt sie seine schwarze
Wildkatze.
Ich habe
beschlossen, mich von Horst zu trennen. Es bedeutet für mich, das gemeinsame
Haus zu verlassen.
Nadja und
Melanie sagen Ja dazu. Was verbirgt sich hinter dem mutigen Ja meiner Kinder?
Ein blutendes Herz. Ihre stumme Weisheit. Das Wissen um die endgültige räumliche
Trennung. Der Trost, wir würden ohnehin bald nicht mehr zusammenwohnen, denn
auch sie würden an einem entfernten Ort leben, um dort das Studium zu beginnen.
Ich gehe
ohne Geld, nur mit ein paar Möbeln und Geschirr für die Wohnung bei Viktor.
Er
erwartet meine Mithilfe im Lokal. Daneben werde ich eine bezahlte Ausbildung in
der Altenpflege beginnen. Das einjährige Praktikum habe ich hier am Ort gemacht.
Vor diesem Praktikum habe ich versucht, im Schülernachhilfe-Institut einen Job
zu bekommen. Doch davon hätte ich meinen Lebensunterhalt nicht bestreiten
können. Schließlich habe ich kein Staatsexamen. Über zwanzig Jahre lang war ich
Hausfrau.
Cousine
Ingrid schenkt mir spontan 500 D-Mark.
Heiliger
Abend. Die Heimbewohner sitzen an weißgedeckten Tischen, einige zusammengekauert
in ihren Rollstühlen, ihr Blick geht durch den Tischschmuck ins Leere.
Durch die
Gänge und Räume klingt es „Jingle bell, jingle bell durch den grünen Wald…“.
Frau
Kusterer nestelt an ihrem weißen Latz, faltet ihn hastig zusammen, auseinander,
zusammen. Ich denke an meine Reitze-Großmutter, wie sie war in den letzten
Jahren vor ihrem Tod. Im Vorbeigehen möchte ich Frau K. in den Arm nehmen,
bemerke aber rechtzeitig die nach Zuwendung hungernden Blicke der anderen
Heimbewohner. Am Fenster hinter den Tischen hat eine Kollegin ihren
Beobachtungsposten eingenommen. Sie verfolgt mein Tun mit Habichtsaugen. Mit
sadistischer Hingabe macht sie seit Wochen Jagd auf die Fehler, die ich gemacht
habe oder machen könnte und dann auch mache, denn mir fehlt die Freiheit zum
Atmen. Unbeteiligt reagierte sie, als ich ihr das Ergebnis meiner ersten
Praxisprüfung gezeigt hatte. Note 1,6. An einer ständig bettlägerigen
Schwerstkranken musste ich mein Schulwissen demonstrieren. Dabei waren fünfzig
Pflegeschritte zu beachten. Zuvor hatte ich starkes Nasebluten.
Nun beten
sie das Vaterunser. Die sadistische Schwester betet laut und inbrünstig, dann
singt sie mit krächzender Stimme „O du fröhliche…“.
Aus dem
Halbdunkel des Ganges kommen Betten mit Schwerkranken angefahren.
Frau
Hiller ist nicht dabei. Sie ist eine von den Stummen. Ich bahne mir meinen Weg
durch das geschwätzig-wichtigtuerische Gewühle der Spitze der Heimhierarchie
samt Pfarrer.
Frau
Hiller sitzt allein in ihrem Zimmer und starrt fest entschlossen die Wand an.
Wegen eines sogenannten Kunstfehlers lag sie ein halbes Jahr im Koma. Seitdem
ist sie stumm und halbseitig gelähmt. Ihre Gehirnfunktion ist normal. Als
Schülerin muss ich die Dokumentation der Stationsinsaßen kennen. Ich lege meinen
Arm um Frau H. und frage, ob sie nicht zur Weihnachtsfeier kommen möchte. Sie
schüttelt heftig den Kopf, ihr Blick ist voller Panik. Ich gehe in die Hocke.
Das Gesicht von Frau H. ist mit dem meinigen auf gleicher Höhe und ich sage:
„Ich bin auch allein. Früher habe ich mit meiner Familie Weihnachten gefeiert.
Ich habe zwei Mädchen, zwanzig und siebzehn Jahre alt.“
Sie nickt
ernst und eifrig mit dem Kopf, als hätte sie mit mir zusammen eine Aufgabe
gelöst. Dann schaut sie mir eine Weile fest in die Augen. Mütter. Noch ein
Händedruck, dann husche ich schnell aus dem Zimmer.
Draußen
warten sie auf meinen Einsatz. Ich habe keines meiner eigenen Gedichte gewählt,
sondern „Knecht Ruprecht: Von drauß´ vom Walde komm ich her…“.
Nun
verstummen auch Frau Heizmann und Frau Lörcher, die ansonsten ständig
miteinander diskutieren und dabei aneinander vorbeireden. Frau Rothfuß spricht
mit: „…Alt und Junge sollen nun von der Last des Lebens einmal ruhn…“
Während
ich spreche, überwältigen mich Bilder aus der Erinnerung. Ich sehe mich inmitten
meiner Familie. Es riecht nach Tannenbaum, nach Kerzenwachs, Bratäpfeln und
Rehbraten. An der Wand hängt unser Weihnachtskalender, von mir gebastelt aus
Jutestoff und Filz in Grün- und Rosatönen und einem Glitzerband. Die beiden
letzten Päckchen hängen noch an einem Ring. Es sind die für den Heiligen Abend
bestimmten. Die Kinder werden sie nach dem Essen öffnen. Nadja hat für mich eine
Kunstkerze aus bunten Kerzenresten geschmolzen. Ihren Arbeitsraum, die Küche,
hatte sie ganz mit Zeitungspapier ausgelegt. Sauberes Arbeiten sollte ein Teil
ihres Geschenkes sein. Doch das warme Wachs drang auf den Fußboden an vielen
Stellen, wo die Kanten des Papiers nicht eng aneinander lagen. Melanie hatte
sich am Vormittag in ihrem Zimmer verbarrikadiert, auf dem Fußboden sitzend, mit
dem Rücken gegen die Tür. So verzierte sie mit eigenen graphischen Kunstwerken
die Geschenke.
Stunden
verbringen sie damit, individuell zu schenken, setzen sich ans Klavier und
produzieren Kassetten mit selbstkomponierten Liedchen und Nonsenstexten.
„Mama!
Jetzt kommt dein Lieblingslied!“ Es ist das Wiegenlied der Maria aus dem
Weihnachtsoratorium von Bach: „Bereite dich, Zion…“.
Ich lege
„Aber Haitschi-bumbaitschi, schlaf lange…“ auf. Meine Mutter hat es mir
gesungen, als am Heiligen Abend die Bomben fielen und Vater im Krieg war.
Nun
entdecke ich Herrn Hohl. Erreicht ihn meine Stimme? Sie haben ihn doch noch
herbeigekarrt, einen der ganz langsam und geduldig Sterbenden. Ich denke an
meinen Reitze-Großvater. Sie haben Herrn H. in einen dunklen, steifen Anzug
gezwängt. Seine Augen sind wie immer geschlossen, der Kopf fällt schwer und ganz
allmählich gegen das unberührte Tortenstück. Am Morgen noch habe ich Herrn H. in
seinem Bett mit einer total verkoteten Schlafanzughose angetroffen. Er lag
gekrümmt wie ein Fötus. Die Nachtschwester hatte bei ihm abgeführt. Ich suchte
im Vorratsschrank hastig nach einer sauberen Hose, denn Herr H. besitzt kaum
eigene Wäsche. Aber ich fand nichts, auch nicht auf der anderen Etage.
Wieder
zurück im Zimmer von Herrn H., stellte sich mir das eine der beiden
Schwestern-Monster in den Weg: „Ist das jetzt das Wichtigste, für Herrn H. eine
Hose zu suchen? Er bleibt doch heute sowieso im Bett, da tut`s auch eine Windel.
Außerdem hattest du bei Frau B. anzufangen!“ Von dieser Reihenfolge hatte man
mir nichts gesagt. Ich hüte mich vor Rechtfertigungen. Sie werden den
Schülerinnen in der Weise attestiert, sie könnten nicht mit Kritik umgehen.
Ich weinte
in einer dunklen Ecke des Putzraumes. Die Küchenfrau entdeckte mich: „Genau so
habe ich viele Wochen geweint, als ich hier angefangen habe. Ich hatte immer
Magenkrämpfe. Und jetzt sagen wir auch Du zueinander.“ Ein Weihnachtsgeschenk
für mich am frühen Morgen des Heiligen Abend.
Ich ging
zu Frau Kek ins nächste Zimmer, nicht ahnend, dass ich hier mein zweites
Weihnachtspräsentchen bekommen sollte. „Haben Sie gut geschlafen, Frau Kek?“
„Noi! Gar
net!“ „Ja, warum denn net?“ „I han zweimol heit Nacht nach Dir g`rufa.“
„Ja wisset
Sie denn net, wie i heiß?“, fragte ich sie. „Ja! - Mama!“ Ich legte meinen Kopf
an den ihrigen .“I heiß net Frau Kek, i heiß Berta!“
Dann kam
das Monster ins Zimmer und kontrollierte meine Arbeit.
Nach der
Weihnachtsfeier bringe ich ein Getränk zu Herrn Illeson. Er sitzt in seinem
Rollstuhl und liest in einem Sachbuch. Ich beuge mich zu ihm hinunter und frage,
was er lese. „Raus, raus!“ tobt er und schlägt nach mir. Ich gehe schnell aus
dem Zimmer. Danach lässt sich Herr I. aus dem Rollstuhl fallen und sagt den
herbeieilenden Kolleginnen, ich hätte ihn nicht vom Boden aufheben wollen. Eine
Schwester meldet diese Information eines Schizophrenen der Stationsleiterin.
Diese wiederum wundert sich nicht über Illesons Taktik, sondern wundert sich
kopfschüttelnd über meine Reaktion, nicht bestürzt zu sein darüber, dass Herr I.
aus dem Rollstuhl gefallen war. Wäre ich selbst zu meinen Gunsten vorgegangen,
dann hätte ich nicht richtigstellen dürfen, dass Illeson noch im Rollstuhl
gesessen hatte, als ich aus dem Zimmer ging. Meine Reaktionsweise müsse sie dem
Pflegedienst- und Schulleiter melden, sagt die Stationsleiterin.
Nocheinmal
heißt man mich ein Getränk in Illesons Zimmer zu bringen. Wo ist er? Gleich
links neben mir nach der Nasszellentür hängt er angeschnallt wie der gekreuzigte
Christus an seinem senkrecht aufgestellten Spezialbett – eine
Behandlungsmaßnahme. In diesem Zustand leistet er sich keinerlei Aggressivität,
schaut gleichgültig an mir vorbei wie ein Gorilla an den gaffenden Zoobesuchern.
Ich schäme mich sehr für diesen Vergleich, stelle das Glas korrekt und ohne
Worte auf den Nachttisch und gehe schnell aus dem Zimmer.
In der
Klasse sind etwa zwanzig Schüler aus der ehemaligen DDR, darunter ein Lehrer,
ein Offizier der Nationalen Volksarmee, eine Studentin der Tiermedizin. Sechs
„Ossis“ haben sie schon ausgesiebt, weil sie mal eine Nacht in einer Disco
verbracht haben und am nächsten Morgen nicht zum Unterricht gekommen sind.
Einmal sagte die leitende Lehrerin bei einer Ansprache zu ihnen: „Von euch
können wir einfach nicht alles erwarten. Ihr seid in einem völlig anderen System
aufgewachsen. Aber wartet, in drei Jahren werden wir aus euch etwas gemacht
haben!“ Das führte in der Pause zu aufgeregten Diskussionen. Einige zogen heftig
an ihren Zigaretten. Diese sich ansonsten unpolitisch verhaltenden Mitschüler
bemühten sich, ihren ehemaligen Staat zu verteidigen: „Bei uns is nischt allet
schlecht jewesen, kuckt doch ma euern Schrottstaat an! Und wat soll denn dieser
Scheiß-Reljonsunterricht, total vafälschte Jeschichte! Bei uns wurde
Wissenschaft jelehrt - trotz Marxismus-Leninismus - wat uns natürlich auch
jeschtunken hat!“
In Deutsch
nimmt man mit uns einige Literaturgattungen durch. Für mich die Wiederholung der
Wiederholung. Die Soziologie-Lehrerin lobt mich für mein Referat nach
Stichworten: Die Sprache der Regenbogenpresse an Hand der Zeitung „Heim und
Welt“.
Wir fragen
uns in den Pausengesprächen, was wir wohl in der Praxis anwenden könnten von den
noch zu bewältigenden Fächern wie Anatomie, Krankheitslehre, Altenpsychiatrie,
Rechtslehre, Ernährungslehre, Arzneimittellehre, Beschäftigungstherapie,
Krankengymnastik.
Im
Praxisblock sind wir fast ausschließlich beschäftigt mit Waschen, Trockenlegen,
„Füttern“ (wie es hier heißt), An- und Auskleiden der Heiminsaßen, mit deren
Begleitung zur Toilette oder mit der Verabreichung der Medikamente. Darunter
sind jene, die der Ruhigstellung dienen und manche der Heimbewohner von ihren
Fluchtversuchen abhalten, bis sie nach ein paar Wochen apathisch, kraftlos und
bleich auf der Bettkante sitzend einem viel zu frühen Tod entgegendämmern.
Am zweiten
Weihnachtsfeiertag stirbt Frau Lethe. Sie stirbt beim morgendlichen Waschen
leise und friedlich. Ihre Finger umklammern mein Handgelenk wie Vogelkrallen.
Der Blick bleibt stehen, das Gesicht wird gelb und die Züge spannen sich.
Nun muss
sie „gerichtet“ werden, das bedeutet: das Kinn hochbinden, bevor die
Leichenstarre eintritt, die Augen mit nassen Tupfern schließen. Die beiden
Prothesen zwänge ich – es geht nicht ohne Gewaltanwendung – zwischen Ober- und
Unterkiefer. Zwei Kolleginnen schleppen mit rasender Geschwindigkeit die
Zinkwanne an. Wir wechseln zu zweit schnell die Windel. Der Pflegedienstleiter
erklärt mir kurz die Symptome der Verstorbenen. „Jetzt ab in den Kühlraum!“,
sagt er, „ein Arzt kommt heute nicht mehr.“
„Hab ich
gestern Abend nicht noch mit dir gewettet, dass sie über kurz oder lang sterben
wird? Aber mir habt ihr nicht geglaubt!“, sagt eine ältere Schwester zur
Kollegin.
Ich gehe
in den Toilettenvorraum, um mich auszuweinen. Frau L. war eine Obdachlose. Nie
hatte sie Besuch. Beim Sterben war ich mit ihr allein und ich hielt sie fest in
meinem Arm.
Die
Stationsleiterin stürmt in den Vorraum, entdeckt mich beim Weinen und sagt
feixend: „Mit Ihrer Übersensibilität suchen Sie sich am besten einen anderen
Beruf. Ich muss diesen Vorfall leider der Pflegedienstleitung melden.“
Bevor ich
mich nach dem Weihnachtsdienst auf den Rückweg mache, gehe ich zum Spind und
ziehe mich um. Vom Nachbarspind her kommt das Monster auf mich zu: „Ich muss dir
noch schnell was sagen. Eigentlich wollte ich es schon früher tun. Ich bin
psychisch krank, muss täglich starke Psychopharmaka und Antidepressiva
einnehmen. Ich bin manisch-depressiv. Darum muss ich mich immer so aggressiv
abreagieren.“ Das Monster ist stellvertretende Stationsleiterin. Nun kann ich
sie besser einschätzen. Ich werde sie nicht mehr in Gedanken „das Monster“
nennen.
Schon beim
Aufwachen spüre ich die pochende Schläfe, Schwäche und Zittern in den Beinen,
Übelkeit.
In meinem
Kopf ist schemenhaft der Tagesplan.
Zuerst der
Kampf gegen das Ungeheuer. Es schleicht sich über Nacht in meinen Körper, nistet
sich dort ein für drei Tage, wenn ich es zulasse. Deshalb flüchte ich aus dem
Bett, nehme ein Schmerzmittel, koche Pfefferminztee, trinke ihn schluckweise,
beschwöre die Heilkraft der Natur, während ich im Zimmer auf und ab gehe.
Ich fühle
keine Heimat in meinem Körper, nicht im Liegen, nicht im Stehen. Im Ruhezustand
baumle ich zwischen Nichtleben- und Nichtsterbenkönnen. So muss die Hölle sein.
Immerhin
habe ich noch meinen Kopf, meinen alten Kampfgefährten.
Die
Medizin beginnt zu wirken. „Die Erde hat mich wieder…“!
Der Tee
erzeugt Wärme.
Ich schaue
durchs Fenster auf die Straße hinunter. Kenan fegt vor seinem Lokal den Gehweg.
Ins Fenster hat er einen Adventsstern gestellt .Er flackert Tag und Nacht in
leuchtenden Farben.
Kenans
Schwester Sevin putzt die Fenster. „Hallo Christel!“
Ich gehe
über die Straße.
„Hallo
Sevin, du bist schon am Putzen und heute Nacht hast du noch bedient“, begrüße
ich sie. „Ja“, sagt sie, „aber heute habe ich bisschen Kopfweh.“
Wir
einigen uns darauf, dass wir eigentlich die „Mädchen für alles“ sind. „Was wir
können machen?“, sagt sie.
Bruder
Kenan steht beim türkischen Nachbarn, gestikuliert elegant und weit ausladend,
trägt ein blütenweißes Hemd und eine schwarze, modisch weit geschnittene
Bundfaltenhose.
„Tschau
Sevin, tschau Kenan!“, rufe ich und gehe über die Straße zurück in Viktors
Lokal.
Ich mache
den Einkaufszettel.
Der
Bierfahrer, diesmal der ehrliche, kommt durch die Hintertür. Er ist beleidigt,
weil ich das Leergut kontrolliere. „Bei mir musst du nicht nachchecken!“
„Okay!“,
sage ich, „aber wo sind die alkoholfreien Sachen?“. Sie sind nicht dabei.
Ich
telefoniere mit der Brauerei, bis morgen müsse die Nachlieferung her, komme was
da wolle, falsch gelieferte Fässer müssten außerdem sofort zurückgenommen und
gutgeschrieben werden, morgen Abend sei „Happy hour“ und da sei im Lokal die
Hölle los.
Ich solle
morgen früh um sieben bei der Fahrer-Einteilung anrufen.
Ich weiß –
ich werde es schaffen. Nur, wenn ich den Wecker auf sieben stelle, dann werde
ich vier Stunden geschlafen haben. Mein Lokaldienst an der Theke wird erst gegen
zwei Uhr beendet sein. Danach muss ich das eingenommene Geld zählen und die
Abrechnung machen.
Ich gehe
die knarrende Treppe hoch in die Wohnung, rühre einen großen Batzen Gips an,
schmiere ihn in die Löcher der Wände und nagle darüber engmaschigen Draht.
Als die
Mäuse begannen, gemütlich zwischen Küche und Toilette hin und her zu watscheln,
als bezahlten sie Untermiete, habe ich zuerst die Toilette renoviert. Dunkelrosa
Teppichboden, Spitzenvorhängchen am Fensterloch der Tür, Cezanne, Picasso und
Matisse an den Wänden, dazwischen Viktors Bilder am alten Platz: ein Mann, der
die Keule schwingt gegen den Mann mit Sense, ein anderes Bild mit jenem Baum,
dessen Stamm eine zart hingemalte Aura umgibt.
In Viktors
Zimmer hängt die Landkarte der Karibikinsel Dominica, drumherum sind mit
Stecknadeln Fotos aufgespießt: Viktor braungebrannt mit langen Hippielocken und
Bart, Viktor vor der grünen Hütte mit zottelhaarigen Rastas.
An der
gegenüberliegenden Wand ein Bild von einem Künstlerfreund aus der Münchner Zeit:
Schäbige, baufällige Hauswand in Grau und Braun, im Mittelpunkt groß die alte
Tür. Im dunklen Türspalt erscheint schemenhaft ein leicht gebücktes,
menschliches Etwas, will offenbar heraustreten, scheint aber zu verharren und
dann schamhaft zu zerfließen mit Tür und Wand. Ich habe dem Bild einen dunklen,
wurmstichigen Holzrahmen gegeben, den ich in einer Rumpelkammer des Hinterhofes
gefunden habe.
Abends
Dienst im Lokal. Es nimmt mich auf wie ein warmer Bauch. Dunkle Holztäfelung,
dunkle, antiquarische Gläserschränke, lange Theke im rechten Winkel mit vielen
Barhockern, runde Stehtischchen, die rechteckigen, alten Holztische für die
Skat- und Schachspieler mit eingeritzten, kaum noch lesbaren Namen. Ich richte
die Kaffeemaschine, spüle herumstehende Gläser, lege CDs und Kassetten bereit,
verstecke Techno-CDs. Denn öfters kommen – wenngleich verboten - die Schüler
hinter die Theke und jammern: „Nicht schon wieder Santana und die Stones! Das
ist doch alles mega-out!!“
Dann
wieder verlangen sie den Elvis.
Ich wische
über Tische und Theke und stelle die Aschenbecher auf.
An der
Wand hängt das große James Dean-Poster: Boulevard of broken dreams.
James Dean
geht allein im schwarzen Ledermantel mit hochgestelltem Kragen, Zigarette im
Mundwinkel, Hände in den Taschen, den nächtlichen, regennassen Boulevard
entlang.
Manchmal
stehen die jungen Gäste - Viktor nennt sie seine Kids oder seinen Kindergarten –
vor dem Idol meiner eigenen Teenagerjahre wie vor einer Ikone.
„Hey
Christa! Wo kann man das Teil kaufen?“
Generation
der Neunzigerjahre, der Computer- und Handy-Gesellschaft - mit Millionen von
Arbeitslosen. Am Horizont der Jahrtausendwende zieht die digitale Scheinwelt
herauf.
Wir hatten
den Kometen von Achtundsechzig, den Kometen der Illusion und der Hoffnung.
Mir läuft
die Zeit davon. Ich setze mich geschwind aufs Gästeclo, ärgere mich darüber, wie
nachlässig Ulf wieder geputzt hat. An der Clotür lese ich Hermann-Hesse-Sprüche,
darunter den Satz in anderer Schrift: „Hey Kleine, wie wär`s, wenn du mal
versuchst, selbst was auf die Reihe zu kriegen, anstatt diese obersaudämlichen
Binsenweisheiten aus Müsli-Tantes Nähkästchen auszukotzen?!“
Viktors
Meinung über Ulf: „Du kannst von einem Schwulen nicht verlangen, dass er das
Frauenclo gründlich putzt.“ Also werde ich es morgen selbst putzen.
Erika ist
am Telefon. Sie wohnt hier in Calw.
Erika
jammert über die viele Arbeit mit der Kelly-Nachlassverwaltung und der
Kelly-Kinder-Krebshilfe. Das sei sie ihrer besten Freundin Petra schuldig.
Bärbel Boley vom Bündnis Neunzig habe gestern angerufen und auch gejammert, aber
die Grünen seien ja schon immer irgendwie kritisch gewesen mit der Petra. Dann
erzählt Erika weiter von ihrer neuen Konfrontation mit der Alice Schwarzer. Es
gehe dabei um das Buch der Schwarzer über die Beziehung Kelly-Bastian aus der
Sicht der Feministin. Dann kommt Erika ins Schwärmen über ihre Begegnung mit dem
Dalai Lama, den sie einmal mit Petra zusammen besucht hat.
Ich schaue
auf die Uhr. In fünf Minuten muss ich das Lokal öffnen.
Mein
Siebenuhr-Gast setzt sich zu mir an die Theke. Älteres Semester, ehemaliger
SPD-Genosse und Rechtsanwalt. Er erzählt von seinen Begegnungen mit Lattmann,
Schmude und Walter Scheel während dessen Zeit als Bundespräsident. In Lattmanns
Buch „Die lieblose Republik“ fühle er sich nicht ganz so gut behandelt.
Arne,
Medizinstudent im dritten Semester, kommt an die Theke mit Freundin, diese
völlig ungeschminkt, mit Zopf und mit „Das-ist-nicht-meine-Welt-Blick“.
Arne
referiert nach links und rechts über das Thema Wasserverlust und wieviel ein
Mensch ertragen kann.
Er
verlangt Carlos Santana. Dafür kann ich ihn gut leiden.
Nun kommen
die Bibliothekarinnen, lustig zwitschernd.
Micha,
frisch gebackener Straßenbaumeister, betritt das Lokal mit „Hossa!“, läuft an
den Mädchen vorbei, bolzgerade und hocherhobenen, kahlgeschorenen Hauptes und
mit Extasy-gesteuertem Schritt.
Für
Joachim, früher Polizist, heute in der Ausbildung als Sozialtherapeut, muss ich
wieder Pfefferminztee kochen. Das bedeutet: ein paarmal in die Küche rennen und
nachsehen, ob das Wasser kocht. Aus dem Lokal ruft es unflätig: „Chrrrrista!“
Tschelko, der hier wegen des Krieges in Bosnien untergetaucht ist, will einen
Vodka haben. Tschelko macht mir einen Heiratsantrag, während ich ihm einschenke.
Eine
französische Austausch-Schülerin schmust dezent mit ihrem senegalesischen
Freund. Der bestellt leise auf Englisch.
Ulf sitzt
an seinem Thekenstammplatz, dreht sich langsam zum Lokal hin, sieht träge, aber
mit Kennerblick in die Runde der Gäste. Ulf sucht einen Mann mit Ausstrahlung.
Langes Haar langweile ihn tierisch, sagt er mir. Die Socken seien ihm wichtig.
Einmal, an
einem schwül-heißen Sommertag, war ich fast ohnmächtig. Ulf hat mich auf die
hölzerne Wandbank gelegt, sich dann zu mir gesetzt, mich im Arm gehalten und
mich getröstet, wie eine Mutter ihr Kind tröstet.
Ein Mann
mit Rucksack, wie ihn Obdachlose tragen, kommt herein. Viktor duldet keine
Obdachlosen im Lokal. „Kommt einer herein, dann hast du sie alle da!“
Der Mann
sucht das Trockene. Ich streife ihn mit dem distanzierten „Hallo!“, das fremde
Gäste bekommen. Die Stammgäste erwarten das Küsschen auf beide Wangen.
Der
Obdachlose kommt schüchtern auf mich zu, hält Abstand zur Theke, bestellt ein
kleines Bier. Niemand registriert ihn. Es ist hier nicht üblich, hinter Leuten
herzustarren.
Olaf,
Journalist und Moderator beim Fernsehen, küsst und drückt mich und hält mich
zehn Zentimeter in die Höhe. Dann erst stellt er sich an die Theke und beginnt
seine Monologe nach allen Seiten hin.
Der
Obdachlose bezahlt. Ich schäme mich, ihm das Bier zu schenken. Er scheint meine
Gedanken zu erraten. Um den Mann bildet sich eine publikumsfreie Zone. Ich nutze
diese Lücke, um ein Tablett voll leerer Gläser zu holen. Jemand rempelt mich an,
wirft mich gegen den Obdachlosen. Ich spüre keinen Widerstand, scheine durch ihn
hindurchzufallen. Plötzlich ist er verschwunden. An die Stelle, wo er gestanden
hat, sind andere nachgerückt.
Ich renne
auf die Straße. Es regnet, nur ein paar Autos fahren durch die Pfützen.
Fette,
graue Mäuse watscheln wiederum gemächlich durch den Spalt der Clotür, nehmen
frech und selbstbewusst einen Bogen zur Küche und verschwinden dort durch
irgendwelche Löcher in die Wände.
Morgens
finde ich zwei Mäuse im Spülbecken. Eigentlich habe ich eine Mäusephobie. Ich
nehme eine große, leere Kaffeedose vom Regal, stülpe sie auf die schockstarren
grauen Pelzknäuel und schiebe den Plastikdeckel der Kaffeedose zwischen
Spülbeckenboden und umgestülpte Dose. Dann gehe ich mit dem verschlossenen Gefäß
zum alten Bahnhof.
Wenn ich
den Deckel öffne, kriechen die Mäuse sehr langsam und betäubt aus der Dose
heraus. Nun sind sie in der Freiheit.
Viktor
wollte alkoholfrei machen. Das bedeutet, er trinkt nur Wein und keinen Schnaps
oder Whisky.
Tina kommt
ins Lokal im Dreißigerjahre-Outfit mit knallroten Lippen,
Marlene-Dietrich-Augenbrauen und Bubikopf. Vom Seitenscheitel aus läuft eine
weißblonde, breite Haarwelle über die Stirn und eng anliegend zum Nacken hin.
Ich hasse Tina, weil sie das personifizierte Aus ist für Viktors Vorsätze. Beide
würfeln sie nun um Tequilas, die ich einschenken muss, weil ich Theken-Dienst
habe. „Du wirst nie und nimmer eine Spielerin“, sagte Viktor einmal zu mir mit
kapitulierender Handbewegung. Es stimmt. In meinem Gehirn ist kein Bereich
vorgesehen für das Kapieren von Spielregeln.
Gegen zwei
Uhr morgens schließe ich nocheinmal laut hörbar die Lokaltür auf. Meine
Aufforderung an die letzten Gäste, zu gehen. Es sind zwei Schachspieler. Sie
trinken vorzugsweise Schorle und Mineralwasser. Viktor verachtet sie deswegen.
So pflichtet er mir bei und versucht, sie mit unsanftem Karibik-Englisch in
Richtung Ausgang zu schieben. Als die Tür abgeschlossen ist, gerate ich mit ihm
in Streit, weil ich ihm vorwerfe, seinen Vorsatz gebrochen zu haben, beim Wein
zu bleiben.
Als wir
zusammen die schmale, steile Treppe hochsteigen, muss ich ihn abwechslungsweise
schieben und abstützen, damit er nicht rückwärts hinunterfällt. In seinem Zimmer
lässt er sich aufs Bett plumpsen. Ich ziehe ihm Schuhe, Socken und die Hose aus
und merke, dass die Unterwäsche durchnässt und verkotet ist. Während ich die
Wäsche in Seifenwasser einweiche, ist Viktor unter seiner Bettdecke schon am
Schnarchen.
Ich gehe
in mein Zimmer, versuche zu schlafen, denn um sechs Uhr spätestens muss ich
aufstehen. Ich habe Dienst auf der Station.
Dann höre
ich Geräusche. Ich sehe nach. Viktor steht aufrecht und mit kampfeslustigem
Blick in der Küche. Ich fasse ihn am Arm, will ihn wieder ins Bett befördern.
Dann reißt er mit dem anderen Arm das drei Meter lange Regal samt Dübeln von der
Wand. Es fällt mit dem ganzen Inhalt zu Boden.
Am
nächsten Morgen habe ich keine begehbare Küche.
Ich bin
pünktlich auf der Station.
Nach dem
Dienst habe ich immer noch keine begehbare Küche. Ich schlage neue, starke Nägel
in die Wand, hieve das Regal hoch und befestige es provisorisch an den Nägeln
mit Schnüren. Dann lese ich vom Fußboden die Scherben aus der Schmiere von
Marmelade, Mehl, Honig und Reiskörnern, am Schluss das noch Brauchbare samt der
Pfannen und Töpfe. Viktor kommt verkatert aus der Dusche, entschuldigt sich und
wirft die paar letzten Glasscherben in den Mülleimer.
Ich
beschließe, zu kündigen und mir eine Wohnung zu suchen. Mein Geld wird dafür
nicht ausreichen. Morgen werde ich darüber nachdenken. Morgen und die weiteren
Tage.
Die
Stationsleiterin fordert mich auf, mit ihr zum Heimleiter zu gehen, der außerdem
auch der Leiter der Altenpflegeschule ist. Es gebe etwas zu besprechen.
Ich fühle
mich auf der Anklagebank. Offensichtlich sei ich nicht allzu gut geeignet für
den Beruf der Altenpflegerin.
Folgende
Punkte werden mir zur Last gelegt:
Ich sei
weinend in den Toilettenvorraum verschwunden, als eine von mir betreute
Heimbewohnerin verstorben gewesen sei.
Ich sei
auch beobachtet worden beim Weihnachtsplätzchenbacken mit den Heimbewohnerinnen.
Und zwar sei ich nicht im Stande gewesen, eine Frau davon abzuhalten,
Schokoladenglasur auf den blanken Teig zu schmieren. Diese gehöre – was ich
offenbar nicht wisse – auf die fertig gebackenen Plätzchen.
Dann hätte
ich einmal nach Dienstschluss Angst gehabt, durch die doppelte Haupteingangstür
hinaus zu gehen und hätte deswegen gewartet, bis die Stationsleiterin
Dienstschluss gehabt habe, um mit ihr zusammen die Tür passieren zu können.
Ich sei
einmal den Anweisungen einer examinierten, älteren Pflegerin nicht gefolgt und
habe die Reihenfolge der Pflegeschritte nicht eingehalten, indem ich der
Heimbewohnerin das Kleid schon vor dem Kämmen angezogen hätte.
Das ist
mein Sündenregister.
Ich frage,
ob es in der Schule etwas zu beanstanden gebe. Meine letzte Note für die
Praxisprüfung war die beste der Klasse mit Einskommavier.
Mit
Schulnoten allein bewältige man nicht das tägliche Pensum. Zwar sei ich immer
flink, aber zu sensibel.
Ich wurde
gefragt, wie ich mich gegen diese Beanstandungspunkte rechtfertigen möchte.
Nun weine
ich und weiß: Damit habe ich schon verloren.
Die
verstorbene Heimbewohnerin sei eine Obdachlose gewesen und sie habe mir
besonders leid getan.
Dass man
Schokoladenglasur nicht auf den Teig streichen könne, das wisse ich, weil ich
mit meinen beiden Töchtern jedes Jahr in der Adventszeit Plätzchen gebacken
hätte. Nur sei in dem Moment, als mein Versehen passiert sei, ein Fotograf im
Raum gewesen und habe Bilder für die Zeitung gemacht. Das habe mich für einen
Moment abgelenkt und schon sei es passiert gewesen.
Durch
diese doppelte Glastür sei ich nur in meiner Anfangszeit nicht gern gegangen.
Ich hätte eine Art Platzangst gehabt, weil man beim Durchgehen einen Moment
zwischen den beiden Glastüren eingeschlossen sei, bevor die äußere Tür aufmache.
Bei der
morgendlichen Toilette der Heimbewohnerin sei ich der Meinung gewesen, es wäre
besser, zuerst das Kleid überzuziehen, damit die fertige Frisur nicht wieder
zerstört würde.
Ich weine.
Zwei Kolleginnen werden herbeigerufen als angebliche Zeuginnen für meine
Verfehlungen. Der Heimleiter empfiehlt mir, eine Pause zu machen. „Ich werde Sie
morgen zu unserem Arzt ins Gebäude nebenan schicken. Er ist auch ein
hervorragender Psychiater.“
Ich weiß –
nicht wenigen Heimbewohnern werden allein aus Gründen der Ruhigstellung
Psychopharmaka und Neuroleptika verabreicht, bis sie dann bewegungslos, in sich
zusammengesackt und mit erstorbenem Blick auf der Bettkante verharren und nicht
mehr weglaufen mögen.
Ich gehe
zum Spind, stopfe blitzschnell meine weiße Berufskleidung in die Tasche, schaue
um mich, ob mich jemand beobachtet. Dann fahre ich mit dem Auto direkt in die
Praxis meines Hausarztes und erzähle ihm, was vorgefallen ist. „Die Station ist
mir bekannt“, sagt er mit besorgter Miene. „Sie beenden am besten sofort das
Dienstverhältnis. Ich schreibe sie krank und sie gehen heim, ruhen sich aus und
sorgen für Abstand. Das Übrige regeln Sie schriftlich.“
Ich bin
umgezogen und stehe in einem der langen, öden Gänge des Sozialamtes. Es riecht
nach Akten und Bohnerwachs und es gibt nur zwei Stühle. Die sind schon besetzt.
Etwa eine Stunde warte ich stehend, es kommen neue Wartende hinzu. Meine
Bandscheiben fangen an zu brennen, ein Relikt aus der Altenpflege, weil es dort
heldenhaft war, die Schwerkranken ohne Lifter aus dem Bett zu hieven. Ich gehe
den Gang auf und ab mit ständigem Blick auf die Tür, die sich nicht öffnen will,
damit ich hören könnte: „Der Nächste bitte!“
„Ich
möchte nur Wohngeld beantragen“, sage ich.
Marions
Rat habe ich nicht befolgt.
Marion ist
vierzig, hatte früher ein Lokal auf Ibiza und trägt immer noch
Brigit-Bardot-Mähne in strohigem Blond. „Du gibst das Haus nicht an! Ich kenne
alle Tricks“, hat sie mir geraten.
Ich habe
zeitweise in Marions Trödelladen gearbeitet, habe an einigen Samstagen in der
Kälte und bei Regen hinter dem Marktstand auf Kunden gewartet, während sie sich
in einiger Entfernung mit Leuten unterhielt. In der Mittagszeit schickte sie
mich immer weg, um für uns Crêpes zu holen. Nach Marktschluss stellte sie dann
fest: „Ich fass es nicht, wieder fehlt ein Ring, einer von den wertvollen!“ Ich
suchte daraufhin alle Schmuckkissen ab. Dann fand ich inmitten der Ringe die
leere Stelle. Sie könne mich nicht bezahlen, sagte sie, es sei denn mit diesem
kleinen Regal und den zwei Spitzenvorhängen, unbezahlbar und heute nirgends mehr
zu kriegen. Immerhin sei sie während meiner Arbeitszeit bestohlen worden.
Natürlich verdächtige sie mich nicht. Was bringe ihr das auch ein.
Die
Angestellte hilft mir beim Ausfüllen der Fragebogen.
„Was ist
mit dem gemeinsamen Haus?“, fragt sie. „Das möchte ich meinem Mann überlassen.
Er hat noch eine Menge abzubezahlen und meine Töchter sind am Anfang des
Studiums.“ „Das interessiert nicht“, sagt die Angestellte, „Sie bekommen
Wohngeld monatlich als Darlehen.“
Der
Vermieter ist freundlich und sagt mit hoher Stimme: „Sie können hier wohnen,
obwohl Sie Wohngeld bekommen. Sie machen ja so weit einen guten Eindruck. Ich
habe mich beim Amt informiert. Bin selbst in diesem Bereich tätig.“
Ich
glaube, er ist ein lieber Mensch.
Morgen
werde ich mir Arbeit suchen.
Das
Schülernachhilfe-Institut vom Nachbarort sucht Lehrkräfte.
Dr. Rieger
betrachtet gönnerhaft meine Bewerbungsunterlagen, darunter Zeugnisse aus
sechs
Semestern Fachhochschule für Berufstätige. Weil Schluss war mit Rüdiger, habe
ich damals abgebrochen. Ich stand kurz vor der Endprüfung, als ich während einer
Klausur den Zusammenbruch hatte.
„Tut mir
leid“, sagt Dr. Rieger, „ich stelle nur Lehrkräfte ein mit Staatsexamen.“
Er windet
sich lässig aus seinem Schreibtischsessel und öffnet mir die Tür.
Am selben
Tag noch gehe ich in meiner Stadt unangemeldet zum Institut des gleichen Namens.
Am
Schreibtisch sitzt Susanne, die junge Leiterin. Sie blättert flüchtig in meinen
Unterlagen. Dann kommt sie mir fröhlich entgegen.
„Du hast
drei Monate Probezeit, unterrichtest hier Deutsch und Englisch. Es wird klappen!
Wir Frauen müssen zusammenhalten“, sagt sie. Sie komme von der Schwäbischen Alb
aus einem kinderreichen Haus, habe während des Studiums immer arbeiten müssen.
Die
Unterrichtsräume sind hell gestrichen. An den Wänden hängen Zeichnungen von
Schülern, Bilder und Landkarten. Durch einige Fenster sieht man den historischen
Marktplatz. Es gibt gutes Übungsmaterial.
Schon in
der ersten Woche unterrichte ich Grammatik, Aufsatz, Inhaltsangabe, Erörterung
und Textarbeit. Für Englisch bin ich bis Klasse zehn eingetragen. Wenn ich mich
zu Hause täglich auf den Stoff vorbereite, könnte ich es schaffen. Das Problem
ist: Ich habe mich stets neu auf den Schulstoff einzustellen. Das ist manchmal
erst im Unterricht möglich. .
„Du hast
auch immer mal den Kindergarten“, sagt Susanne, „das sind die Schüler bis Klasse
vier der
Grundschule. Manche Eltern sind - weil stinkereich – unsere Multiplikatoren und
Werbeträger. Ansonsten sollten wir, wenn`s nach denen ginge, die Kids von der
Grundschule auf die Realschule oder gar aufs Gymmi rüberzaubern. Die Panik der
Eltern, überfüllte Klassen, gestresste Lehrer und Schüler – und wir sollen`s
richten. Du bist hier die Lehrkraft zum Anfassen, ich meine die Fachkraft, die
Psychotherapeutin und die Mutti in einem“.
Eine
ältere Lehrerin ruft im Vorbeigehen: „Und nicht zu vergessen die Clofrau! Man
fragt sich manchmal, ob die daheim noch einen Donnerbalken haben.“
Ich
bekomme Schüler-Beurteilungsbogen, die ich jeweils selbst ausfüllen muss.
Susanne verwendet sie für die Elterngespräche, bei denen Eltern auch die
Lehrkräfte beurteilen sollen.
Ein
Schüler kündigt mir seine Klassenarbeit an, die Gartenszene zwischen Elisabeth I
und Maria Stuart. „Das sagst du mir reichlich spät“, sage ich. „Was weißt du
über die Geschichte Englands, die Intrigen am englischen und schottischen Hof
und den Aufbau des Dramas?
Was weißt
du über den Autor?“ Der Schüler zuckt die Achseln. Uns bleibt ein einziger Block
von zwei Unterrichtsstunden und mir bleibt ein Wochenende für die Vorbereitung.
Danach ist Klassenarbeit..
Mit
Herzklopfen renne ich in die Stadtbibliothek, hole mir Sekundärliteratur und
stelle zu Hause mein Unterrichtsmaterial zusammen. Die Vorbereitung wird nicht
bezahlt.
Darüber
entscheidet nicht Susanne, sondern das Management.
Das
Management kontrolliert nicht. Es schenkt Vertrauen und die Freiheit der
Unterrichtsgestaltung. Darauf antworten die Lehrkräfte mit Fleiß, Teamgeist und
Flexibilität. Bei Vertrauensmissbrauch wird gekündigt.
Ich bin so
glücklich, denn ich erlebe Vertrauen. Erst langsam kann ich es wahrhaben:
Ich erlebe
Vertrauen als Vorleistung.
Allmählich
kann wieder der Glaube an mich selbst wachsen.
Und ich
sehe wachen Auges zurück auf meine Zeit im Altenheim, auf diese Hölle der
Intrigen und der Bespitzelung, der Knebelung jeglicher Eigeninitiative.
Susanne
hat mir die Tür zum Paradies geöffnet.
Susanne,
ich werde dich nicht enttäuschen.
Sebastian,
ein Grundschüler, hat alle Zeichnungen und Poster von den Wänden gerissen, sie
minutiös zerfetzt und die Schnipsel auf dem Boden verstreut.. „Würdest du den
Sebastian übernehmen? Ich pack`s nicht mehr!“, fragt mich Anna, „du musst ihm
nur vor jedem Unterricht sein Messer abnehmen.“ Anna ist Sozialpädagogin. Der
Sebastian hätte ihr gerade noch gefehlt, sagt sie. An ihr hänge alles, ihr Mann
sei gestresst und streitsüchtig, seitdem er nun auch noch die Therapie für Paare
angefangen habe. Den Umzug in die gemeinsame Wohnung habe sie komplett allein
gemacht.
Ich
akzeptiere. Meine Bedingung ist jedoch Einzelunterricht.
Sebastian
kommt zur Tür herein, grüßt nicht und wirft die Schultasche in hohem Bogen von
sich. Dann setzt er sich müde neben mich auf den Stuhl und drückt sein Gesicht
auf die Tischplatte. Er bleibt stumm. Ich frage nicht nach seinem Messer,
sondern frage, was passiert sei. Er antwortet nicht.
„Ich
schlage vor, wir tun heute gar nichts. Wir reden nur miteinander über das, was
dich so traurig macht. Bist du einverstanden?“ Sebastian bleibt stumm.
Nach einer
Weile höre ich ein leises Zischen. Das möchte verborgen bleiben zwischen Gesicht
und Tischplatte.
„Wenn du
den Kopf etwas höher hältst, kann ich dich besser verstehen“, sage ich.
Sebastian
richtet sich langsam auf, dreht dann mit schwerem Schritt eine Runde um den
Tisch. Dann bleibt er stehen und schaut zum Fenster hinaus.
Wieder
Stille.
Leise sagt
er: „Jetzt kann ich kein Schach mehr spielen mit dem Opa.“
Ich ahne
das Allerschlimmste. „Wo ist dein Opa jetzt?“, frage ich.
„Auf dem
Friedhof.“
Wir
schweigen zusammen. Mir kommt nur diese banale Frage in den Sinn: „Wann ist die
Beerdigung?“ „Morgen“, sagt Sebastian.
„Kannst du
nicht mit deinem Vater oder deiner Mutter Schach spielen?“
„Die
spielen garnix mit mir“, sagt er.
Wir
schweigen zusammen. Ich bin ratlos.
Erinnerungsbilder drängen sich in mein Bewusstsein, machen mich plötzlich zum
Kind.
Ich sitze
auf den Knien meines Großvaters. Er spielt mit mir das Hoppe-Reiter-Spiel,
spielt Backe-Backe-Kuchen, er geht mit mir in den Garten zum Eiersuchen, wenn
die Großmutter feierlich verkündet, sie habe gerade den Osterhasen gesehen.
Großvater lehrt mich das Fahrradfahren. Großvater übt mit mir auf der Wiese den
Kopfstand. Er fängt mich auf, wenn ich vom Baum herunterklettere.
„Mein
Großvater ist schon viele Jahre auf dem Friedhof. Er hat immer mit mir gespielt,
als ich ein Kind war. Ich war so traurig, als ich plötzlich keinen Opa mehr
hatte.
Schau her,
Sebastian, weißt du, was ich dann gemacht habe? Damit er in mir ein Plätzchen
kriegen sollte, hab ich ihn einfach vom Friedhof weggeholt.“
„Wie soll
das gehen?“, knurrt Sebastian und blickt dabei durchs Fenster.
“Es ist
ganz einfach“, sage ich vom Tisch aus auf seinen Rücken zu, „du holst den Opa
mit deinen Gedanken zu dir und baust ihm ein kleines Gedankenhäuschen tief in
deinem Herzen. Er wird da wohnen und bei dir bleiben, wenn du ihn nicht
vergisst. Klar, du wirst mit ihm nicht mehr Schach spielen können, aber er hat
es dir beigebracht, damit du später mit deinen eigenen Kindern Schach spielen
kannst und sogar auch noch mit deinen Enkelkindern, wenn du selber mal ein Opa
bist.“
Sebastian
dreht sich zu mir hin: „Du hast gesagt, dass ich heut nix tun muss.“
Den Regeln
des Instituts entsprechend reden Schüler ihre Lehrkräfte mit „Sie“ an.
Sebastian
hat das „Du“ gewählt. Ich will es ihm nicht wieder nehmen.
„Danke,
dass du mir deinen Kummer erzählt hast“, sage ich und öffne ihm die Tür. Dann
sehe ich durchs Fenster. Sebastian steht klein und verloren auf der Straße
inmitten der hektisch umhereilenden Erwachsenen. Er scheint unschlüssig, in
welche Richtung er gehen soll, schwenkt seine Schultasche ein paar Mal im Kreis.
Dann geht er mit mutigen Schritten über den Platz.
Winter
hinter
Tüllgardinen
Fenstersprossen Gartenzaun
weiter
draußen ist Krieg
aber in
der alten Stube
lässt der
warme Kachelofen
gütig die
Kartoffeln bähen
aber in
der alten Stube
hat
Großvaters Schreibtisch Türmchen
und das
Wachstuch Tintenkleckse
Frühling
hinterm
alten Haus
Hühnergackern Katzenschnurren
weiter
draußen ist Krieg
aber
hinterm alten Haus
musiziert
es vom Holunder
musiziert
es von der Schupf
die Stare
sind da
Sommer
an der
alten Mühle
Bach
durchwaten
Enten
schnattern
weiter
draußen ist Krieg
aber
zwischen Sommerwolken
glitzern
silberhelle Flieger
Sommervögel ohne Lied
Herbstwind
über
Schlehenhecken
Hirtenfeuern Rübenäckern
weiter
draußen ist Krieg
aber
hintendrauß im Garten
räumt
Großvater die Bäume
und das
Obst in Weidenkörbe
weiter
draußen ist Krieg
Hinter
weißen Schatten
träumt das
Beerengärtchen
träumt der
Apfelbaum
das Kind
es friert
die Beeren
sind
aus Glas
Zeit weht
in weißen
Schatten
übers
fremde
Dorf
Wenn die
Kirchenglocken läuten
gehe ich
durchs Haus
nehme
Großmutters Bild von der Wand und
gebe ihm
einen Rahmen
aus
dunklem Holz
Großmutter
sitzt an der
Nähmaschine
ihre Hände
gichtknotig
ruhen auf
dem Stoff
Großmutter
gepresst
unter Glas
lächelt
scheu
mir ins
Herz – Weißt du noch
Mir reicht
das Geld nicht. Beim Lidl am alten Bahnhof sehe ich nach
Lebensmittel-Sonderangeboten. Ich erfinde ein Rezept und nenne es „mein
ehrliches Brot“.
Mit
Haferflocken aus der Sparpackung, Salz und Wasser koche ich einen dicken Brei.
Wenn er erkaltet ist, lässt er sich mit der Schaufel leicht als dicker Fladen
vom Topfboden lösen. Darauf streiche ich mein Mus aus selbst gesammelten
Zwetschgen. Sie bieten sich dar im Überfluss als blaue Teppiche unter wild
gewachsenen Bäumen. So esse ich eine ganze Woche mein „ehrliches Brot“ mit
Zwetschgenmus und freue mich diebisch über die Mahlzeit, die mich nur den
Sparpreis von zwei Paketen Haferflocken gekostet hat.
Ich
studiere die Zeitungsanzeigen. Eine Putzstelle könnte ich gut einbauen in meinen
Unterrichtsjob. Als Putzfrau würde ich meine Gedanken baumeln lassen. Und Putzen
kann ich.
Die Frau,
bei der ich mich vorstelle, fragt nach meiner sonstigen Tätigkeit.
„Sind Sie,
wenn Sie unterrichten, auch vertraut mit der Organisation eines Haushalts, mit
Aufräumen und so?“
Wöchentlich müssten die Bücher abgestaubt, die Armaturen im Bad trocken poliert
und der Parkettboden mit Spezialwachs gepflegt werden. Ich müsste natürlich mit
Hausschuhen arbeiten. Sie zeigt mir stolz die Besenkammer, führt mich ganz nahe
heran an die Regale. Die Reinigungs- und Pflegemittel sind geordnet aufgereiht
nach ihrer jeweiligen Anwendungsmöglichkeit.
„In den
nächsten Tagen rufe ich Sie an, wenn ich mich entschieden habe.“
Ich
bekomme eine Absage.
Als
Nächstes bewerbe ich mich in einer Villa. Ich drücke auf die Messingklingel am
Eingangsteil der Mauer.
Es sieht
nach Alarmanlage aus. Die „Gnädige“ kommt im samtenen Hausanzug, führt mich in
eine mit dicken Teppichen ausgelegte Vorhalle. In deren Nischen stehen
Sesselchen, Tischchen und Sofas im Stil des Rokoko, offenbar nicht nachgemacht.
Wir sitzen
einander gegenüber in einer mit kuscheligem Plüsch ausgestalteten Vertiefung.
Ich bemühe
mich, nicht nach der breiten Treppe hinzusehen, die nach oben zu einer
rundumlaufenden, offenen Etage führt. Schließlich möchte ich keinen
ehrfürchtigen Eindruck hinterlassen.
„Mein Mann
ist Manager einer großen Firma und arbeitet auch öfters zu Hause. Es wäre
möglich, dass er an meiner Stelle hier ist, wenn Sie Ordnung machen. Aber nun
sagen Sie mir, was Sie veranlasst, hier eine Putzstelle antreten zu wollen.“
Ich
erzähle, mir reiche das Geld nicht, das ich für meine Arbeit mit den Schülern
bekomme.
„Ich hab
noch eine Nachbarin in der engeren Wahl“, sagt die Gnädige, als sie mich zur Tür
bringt, „eine Ausländerin, ich werde sie mir mal in den nächsten Tagen ansehen.
Sie bekommen auf jeden Fall Bescheid.“
Ich
bekomme eine Absage.
Dann
bewerbe ich mich bei einer staatlich geförderten Stelle für Sozialarbeit. Es
klappt und ich kann hier an zwei Vormittagen Deutsch unterrichten.
„Die sind
derart unflätig und unberechenbar, kommen teilweise aus dem Knast, erscheinen,
wenn Ihnen grad danach ist“, sagt der leitende Sozialarbeiter. „Wenn`s schwierig
wird, dann rufen Sie mich einfach. Wir versuchen, die Jugendlichen wieder
langsam ins Berufsleben einzugliedern oder ihnen den Weg zurück in die Schule zu
erleichtern.“
Der
Unterricht hat längst anzufangen. Aus der Schulküche riecht es nach frisch
aufgebrühtem Kaffee und Cannabis. Die Schüler hängen im Nebenraum herum, zwei
Pärchen liegen kreuz und quer übereinander auf dem Sofa und turteln mit
verschlafenem Blick.
Um den
großen Tisch sitzen siebzehn Teens.
„Hey! Ich
glaub, ich pack`s nicht!“, ruft die an Multipler Sklerose erkrankte
Achtzehnjährige. „Ihre Grammatikübungen sind voll doof, voll langweilig!“ Im
Gymmi haben wir den Max Frisch durchgenommen.“
„Wer an
diesem Tisch kennt Max Frisch?“, frage ich in die Runde. Schulterzucken rundum.
Ich ahne einen Verbündeten. Es ist Bernd, ehemaliger Drogendealer, vor kurzem
aus dem Knast entlassen. Er hebt die Hand: „Darf ich mit den Übungen anfangen?“
„Stop!“
Die beiden Skinhead-Mädchen heben lässig den Zeigefinger. Sie tragen Glatze und
Nasenring. Die hochgekrempelten Jeansjackenärmel geben ihre Tätowierung frei:
schwarze, fratzenhafte Hieroglyphen.
„Was ist
mit Geschichte?!“ Sie schieben mir einen Ausschnitt der Tageszeitung zu.
„Wir
fordern eine Diskussion zur Auschwitz-Lüge. Konzentrationslager, Vergasung
pi-pa-po…alles erstunken und erlogen!“
Meine
Halsschlagader pocht fast hörbar. Ich suche nach Worten.
Einige
schweigen gelangweilt, andere plaudern nach beiden Seiten, einer schraubt seinen
Kopf leidenschaftlich in den tiefen Ausschnitt der Tischnachbarin.
Sollte ich
hier und jetzt meine Antwort apportieren gleich einem braven Hund?
Eine Regel
aus der Linguistik kommt mir in den Sinn. Der Bildungsstand als eine der vielen
Gesprächssituationen. Für mich hieße das nun, auf den Bildungsstand der
Skinheads einzugehen. Schließlich sind sie meine Schüler.
Die Zeit
drängt. Ich fasse einen Entschluss, fasse ihn wie einen Rettungsanker:
Von
Mephisto lasse ich mir nicht das Thema vorschreiben. Mephisto stellt Fallen,
nicht um zu lernen, sondern um zu siegen.
„In diesem
Raum und an diesem Wochentag mache ich Deutsch-Unterricht und nicht Geschichte“,
sage ich gespielt müde gegen das Pochen meiner Halsschlagader. Ich mime jenen
apathischen Tonfall, der bei Jugendlichen als cool gilt.
Für den
noch vorhandenen, kläglichen Rest der Unterrichtszeit verpasse ich allen ein
Diktat.
Beim
Einsammeln der Arbeiten sehe ich auf den Blättern der Skinheads Runenzeichen
anstatt der Kommas. Damit gehe ich ins Büro der Leitung. Der Sozialarbeiter
wirft einen flüchtigen Blick auf die SS-Embleme, unterbricht kurz ein
Privatgespräch: “Den Quatsch müssen Sie einfach ignorieren. Die wollen Sie
lediglich provozieren.“
Nach
Schulschluss finde ich alle wieder im Nebenraum, eingehüllt in Zigarettenrauch
und lauten „Punk“. Ich fordere sie auf, das Geschirr in die Spülmaschine
einzuräumen.
Sie stehen
langsam auf, gähnen und räkeln sich feixend und drängeln geschlossen wie ein
Schwarm durch die Küchentür.
Jemand hat
mich von außen eingesperrt. Ich klopfe und rufe und komme mir dabei kindisch
vor. Draußen höre ich Gekicher. Nun sitze ich gefangen. Ich habe elend verloren.
Alle
scheinen weggegangen zu sein.
Dann dreht
sich langsam der Schlüssel im Schlüsselloch. Bernd ist zurückgekommen, um mich
herauszulassen.
Ich gehe
mit ihm zum Parkplatz. Dort stehen die beiden Schüler aus Kasachstan.
„Die mit
Glatze Sie haben eingesperrrt!“ rufen sie mir beflissen entgegen.
Ich lasse
sie in mein Auto einsteigen. „Wo wohnt ihr? Ich bringe euch nach Hause.“
Und dann
während der Fahrt: „Was macht ihr so in eurer Freizeit?“
„Türken
klatschen“, lachen sie unsicher in sich hinein. „Wirrr alle sind deitsch und
Türken sind Ausländer.“ Ich bekomme Angst. Noch habe ich sie beide im Rücken und
fahre mit ihnen über die Landstraße.
„Was
bedeutet das, Türken klatschen“, frage ich, um sie gedanklich zu beschäftigen.
„Wirrr
ziehen Messerrr. Die auch haben Messerrr!“
Ich habe
Mühe, ihr Zuhause zu finden. Dann gelange ich in eine aschgraue Betonwüste. Es
sind mehrstöckige, wie Gefängnismauern im Kreis stehende Wohnblöcke. Unzählige,
winzige Balkone hängen an den Fassaden. Plastikbauchladen aus der Retorte.
Im
asphaltierten Hof sitzen schwarz verschleierte Muslimas und tänzeln schwerelos
durch ihre Sprache, mal tirilierend zwitschernd, mal melodisch gurrend. Daneben
spielen Kinder in einem Sandkasten.
„Streiten
mit dem Messer ist nicht gut. Wir müssen miteinander reden. Reden, reden, reden!
Also müssen wir Deutsch sprechen können. Nächstes Mal reden wir weiter, okay?“,
sage ich zu den beiden aus Kasachstan. Dann verschwinden sie durch eine der
genormten Eingangstüren.
Mich
piesackt das Heimweh – gegen alle Vernunft.
Ich kämpfe
dagegen an, flüchte mich in meine Parallelwelt. Hier schreibe ich in Gedanken.
Mal sind es Gedichte, mal Geschichten, mal Briefe an meine Kinder. Ich schreibe
und dichte bei meinen Spaziergängen, beim Autofahren, stelle mir unsere Küche
vor, die nicht mehr unsere gemeinsame ist. Wir stehen an den Türrahmen gelehnt
oder sitzen auf der Anrichte, erzählen und kommentieren.
Mich
piesackt das Heimweh, und doch gegen alle Vernunft, denn: wäre ich auch in einem
Zelt zu Hause, die Mädchen würden mich besuchen.
Immer habe
ich versucht, dieses Wort zu verdrängen. Denn nach den Besuchen kommt die
Todeserfahrung des Abschieds.
Es sagt
sich so leichthin und verkümmert zum Gemeinplatz: Wir sind in Gedanken
verbunden.
Und doch –
wenn das Kind meinen Körper verlässt, beginnt schon der Abschied.
Nadja
studiert Kunst in Madrid, lebt in einem kleinen, fensterlosen Raum bei einem
zänkischen Ehepaar.
Melanie
wird Kommunikations-Design studieren und von zu Hause ausziehen.
Auch Horst
wird Heimweh haben. Nur wird er nie darüber sprechen können.
In den
Ferien haben sie beide gejobbt. Die moderne Welt der Sklaven hat sich für sie
aufgetan, die Welt der Büro- und Fließbandarbeit, des täglichen Einerleis der
Putzkolonnen.
Selbstverwirklichung, das Modewort der Achtzigerjahre - hier ist es Utopie, ein
ferner, unerreichbarer Planet.
Überall
im fremden
Haus
auf
schweren leeren
Eichenstühlen
körperlos
Schneeweiß
und Rosenrot
körperlos
auf
abgehackten Ästen und
zwischen
Frühlingsblumen
euer
Mädchenlachen erreicht
nicht mein
Heimweh
In den
Nächten
flecht ich
mir
ein Kleid
aus
weiß und
roten Rosen
Ernst
Bloch sagt im „Prinzip Hoffnung“, letzte Seite: „Heimat ist dort, wo noch
niemand war.“
Heimat
besteht wohl aus Teilelementen. Ich suche sie immer als Ganzes, suche sie als
Besucherin bei den Eltern – und finde sie nicht. Es ist hohe Kunst, bei einem
Besuch Heimat zu gestalten. Besucher und Besuchte sind daran beteiligt.
Heimat
gibt und fordert.
Ich bin zu
Besuch, mein kläglicher Beitrag zur Großfamilie. Meine Schwester macht Urlaub
von den Mühen der Pflege, ist mit Ehemann und Kindern in den Urlaub gefahren.
So sitze
ich am kleinen runden Tischchen der Mutter gegenüber.
Seit ihrem
letzten Schlaganfall ist sie im Rollstuhl. Ihre Hirnfunktionen erscheinen
seltsam widersprüchlich. Alle Gesten und Handgriffe einer Hilfestellung
quittiert sie mit „danke“.
Wir lösen
zusammen Kreuzworträtsel.
„Mama, wie
nennt man einen hohen Seeoffizier?“
Das Wort
will mir nicht einfallen. „Admiral!“ sagt sie ohne einen Anflug von Stolz in
ihrem Gesicht. Schließlich war sie mir überlegen. Ich lobe und bewundere.
Wir machen
Pause.
Mir fällt
plötzlich ein, was sie mir vor ein paar Jahren erzählt hat und worüber ich nie
mehr mit ihr gesprochen habe. Im Zustand der Bewusstlosigkeit, nach ihrem ersten
Schlaganfall, sei sie in einer Art Wartezimmer gewesen. Einige inzwischen
verstorbene Alte des Dorfes hätten rundum auf Stühlen gesessen. Die Guste, ihre
Schulkameradin und Nachbarin, habe gerufen: „Wie schön, Anna, dass du jetzt auch
kommst!“
„Mama,
möchtest du mir alles nochmal erzählen?“, frage ich sie.
„Lieber
jetzt nicht“, sagt sie schläfrig und lehnt sich zufrieden zurück.
Später
bringt sie die Nachtschwester zu Bett.
Es ist
früher Morgen. Ich mache das Frühstück. Vater wird es wieder erbrechen. Zitternd
sucht er auf dem Küchenbüfett nach seinen Medikamenten. Er ist ständig am
Suchen.
„Die Chemo
richtet mich zugrunde“, sagt er. Er schleppt sich zur Eckbank, sinkt in sich
zusammen. So sieht menschliches Elend aus, wollte man es wiedergeben als ein
Bild.
Er weint.
Früher, vor dem Krieg, habe er immer Architekt werden wollen, schluchzt er wie
ein zutiefst verletztes Kind, das Geld habe halt nicht gereicht.
„Architekt
warst du immer“, tröste ich, „denk an die Kultur. Du hast dem Dorf so viel
gegeben. Ich bin stolz auf dich.“
Irgendwie
schaffe ich es nicht, ihn in die Arme zu nehmen. Das schmerzt mich noch heute.
Die
Schwester kommt herein.„Die Mutter ist ins Koma gefallen.“
Ich
benachrichtige meine Geschwister telefonisch.
Aus der
Stimme des Bruders spricht die Mühe, den Schmerz zu verbergen - das Leiden an
der Heimat.
Der Arzt
diagnostiziert das Platzen eines Blutgefäßes. Es sei wohl auch die Ursache
gewesen für ihre lebenslangen Kopfschmerzen.
Mutter
bleibt im Koma.
Zwei Tage
sind vergangen.
Ich
erwache im Morgengrauen, höre Vater die Treppe hochkommen. Jeden seiner Schritte
begleitet das Klopfen seines Stockes. Er knipst das Licht an, bleibt im
Türrahmen stehen und sagt: „Unsere Mutter ist tot.“ Er sei die Nacht bei ihr
gewesen.
Mit Vater
stehe ich an Mutters Bett. Dann gehe ich roboterähnlich an meine Arbeit.
Das
Bestattungsinstitut schickt zwei Männer mit einem Sarg. Sie schauen hilflos,
möchten Mutter schön ankleiden. Vater sagt, ich dürfe Mutters bestes Kleid
aussuchen.
„Das
machst du schon richtig.“
Ich nehme
Mutters Lieblingsbluse vom Bügel. Es ist die seidenglänzende mit den weißen,
goldfarbenen und dunkelblauen Streifen.
Meine
schöne Mutter, auch noch im Tod.
Vater
steht an der Tür, kleiner, dünner, blasser noch, denn jetzt tragen sie die
Mutter hinaus.
Er stützt
sich auf seinen Stock, schweigt und sieht zu mir herüber.
Autobahn
spuckt
roten
Oleander
verbrannten Schilf
Sarg
Policia
aus Alicante
wozu mir
einfällt
Santa
Barbara und
Palmen
ein
Filmstreifen
aus einem
Sommer
am
zugemauerten Himmel
von
Benidorm
klettert
Zarathustra der Affe
über
Balkone
Badepuppen
Anziehpuppen
Dialoge
aus aufgeräumten
Schubladen
und
Träume
mit
Gebrauchsanweisung
hinauswachsen über
den Schrei
zum DADA
zum DADAlog
Lacoste
und Cartier
for men
and ladies
vom
schwarzen Afrikaner
in seinen
Augen schwimmt noch
das Weiß
eines Traumes
wilde
Hunde gehen ihre Wege
mit
gesenktem Blick
harren
Pudel in Käfigen
laufen
Ponys im Kreis
auf der
Fiesta
gekettet
an Eisenstäbe
hey viva
Espana
verblutet
der Stier
auf der
Corrida
Augen
Blicke
dahinsterbend
heißer
Atem aus dem Stein
vom
Castillo
Heimweh
nach
Herbstlicht
Er liegt
neben ihr, animalisch ausgestreckt. Er schläft. Sein Arm hat sich von ihrem
Bauch gelöst. Sie fühlt Liebesentzug, sehnt sich wieder nach der zwillingshaften
Körperlichkeit, ist bereit, sie auszuhalten, selbst wenn sich Überdruss
einstellen sollte in Momenten, wo er sie degradiert in ihre bloße Weibchenrolle.
Seine
Männlichkeit geht ihr vor Schönheit. Gier ist darin enthalten, ja Gier nach
ihrem Körper.
„Du bist
die Frau, die ich immer gesucht habe.“
Man nannte
sie die „Softies“, Männer, denen dergleichen nie über die Lippen gekommen wäre.
In jedem Softie-Kopf mussten Sätze wie dieser auf den Seziertisch, bevor „mann“
sie entlassen würde. „Frau“ durfte niemals den Wunsch nach Inbesitznahme
hineininterpretieren. Man kannte die „Schwanz ab!“-Zensur der Alice Schwarzer.
Der
Feminismus in seiner Radikalität scheint allmählich abzuebben. So sieht sie in
ihm lediglich noch den notwendigen evolutionären Teil der Geschichte.
Für ihr
Weibchen-Glücksgefühl ist sie bereit, zu leiden. Sie leidet, wenn er zuviel
getrunken hat, wenn sein Gesicht sie fremd und hämisch anstarrt.
„Deine
Gedichte werfen nichts ab! Schreib einen Bestseller und häng nicht so verbohrt
an deiner Lyrik! Wer kommt zu deinen Lesungen? Nichts als weltfremde Sektierer!“
Kaum
atmend liegt sie neben ihm. An der Decke kreist das Scheinwerferlicht der nahen
Disco, ein wildgewordener Uhrzeiger. Die Klimaanlage surrt monoton. Durchs
geschlossene Fenster drängt Tingeltangelmusik. Die Autoscooter-Anlage läuft bis
in die frühen Morgenstunden. Touristensommer in Spanien.
„Wir
könnten ein halbes Jahr hier wohnen. Ich suche eine Finca für uns beide. Ich
halte den deutschen Winter nicht mehr aus“, sagte er, gebetsmühlenhaft vor sich
hinnörgelnd und um Verständnis flehend. Er sagt es in jedem dieser Urlaube am
Meer.
„Für mich
ist es eine Frage von Heimat“, sagte sie wieder, „mir fehlt die Muttersprache um
mich herum, weißt du, quasi das Biotop.“
„Du suchst
doch ständig nach Heimat und am wohlsten fühlst du dich, solange du danach
suchst! Die schwarze Wildkatze begnügt sich mit dem Schüsselchen Milch.“
„Du hast
den Text gelesen?“, fragte sie.
„Ich lese
alle deine Texte.“
Er schien
eifersüchtig zu lauern.
Später
weckt sie das grelle Licht, das aus der Küche kommt. Im Türausschnitt sieht sie
ihn aus der Speisekammer kommen. Zelebrierend schwenkt er eine Whiskyflasche.
Dann verweilt er lange beim Trinken.
Sie rennt
auf ihn zu, fleht ihn an, er möge aufhören, versucht, ihm die Flasche aus der
Hand zu reißen.
Sie weint.
Er stößt sie zu Boden, schlägt mit seinen Fäusten auf sie ein.
Nun liegt
sie reglos. Er kommt mit Bierflaschen, schlägt wieder auf sie ein, öffnet eine
Flasche, gießt das Bier über ihren nackten Rücken, stampft mit seinen Füßen zu
und öffnet die nächste Flasche. So geht es im Wechsel.
Irgendwie
ist sie in ihr Bett gekrochen, kann noch denken, sie hätte kein Geld bei sich,
wollte sie noch heute abreisen.
Dann kommt
federleicht ein Strohhalm angeschwommen in diesem Meer von Ausweglosigkeit. Es
sind nur ein paar Worte. Sie fügt sie zu einem Gedicht.
„Wetten
wir? Ich pflück dir noch ein Edelweiß. Die Stelle kenn ich.
Ein
Edelweiß für mein Weib, für meine Annerose.“
Mark lacht
mich an. Das Geheimnis meiner Liebe sind Marks Züge von den Nasenflügeln hin zum
Mund. Jetzt lächeln sie jungenhaft, wagemutig.
Dann
wendet er die Augen nachdenklich ins Leere.
Ich
schreibe nach langer Pause.
In den
letzten Jahren nach Marks Krebsdiagnose sind die Besucher weniger geworden, es
kamen spärlich noch Telefonanrufe mit Alibi-Funktion. Dann blieben auch diese
aus. Bei unseren Spaziergängen durch den Ort beeilten sich Bekannte, die ihren
Schwatz im Freien hielten, schnell ins Haus zu kommen. Meine Töchter – ich mag
sie, sagte Mark – besuchten uns wie immer, beide mit Freund. Mark chauffierte
uns zu einem Bergrestaurant mit Tanzmusik, präsentierte uns den Blick – seinen
Blick – hinüber zu den Schneegipfeln, sagte ihre Namen. Er kannte sie alle – vom
Säntis bis zum Wettersteingebirge.
Es folgten
Krankenhausaufenthalte, Operationen, Chemotherapien.
Dazwischen
gab es diese Hochs: Konzerte, Opern, Mark als Solist in einem Musical, obgleich
wir beide Musicals nicht mochten.
Mark
spielte auf seiner Gitarre, ich summte dazu, er sang die Protest-Songs seines
Allgäuer Barden, er sang im knorrig-widerborstigen Dialekt der Heimatstadt.
Dort, auf
dem Friedhof, ruht er mit Blick auf seinen Hausberg, den Grünten.
Du bist
fort
So bist Du
in meinem
Schweigen
So lerne
ich früh
dass man
allein
stirbt
Ich bin
umgezogen, arbeite wieder mit Schülern, übe am PC und quäle mich mühsam durchs
Internet.
Monatelang
reihen sich einsame Abende und einsame Wochenenden aneinander.
Ich
strukturiere die jobfreien Tage, wandere eine Stunde lang mit schnellem Schritt.
Im Sommer
fehlen mir die Bäume, ihre behütende Anwesenheit. Die Liebe zu den Bäumen habe
ich mit Mark geteilt.
Die
Kleinstadt langweilt mich. Sie verkümmert zur Puppenstube, durch die sonntags
einige Rucksacktouristen schlendern.
Verordnete
Sonntags- und Feiertagsruhe mieft mich an, sie ängstigt mich im Vorhinein.
Am
allermeisten quälen mich die Schulferien. Noch als erwachsene Frau hatte ich den
immer wiederkehrenden Traum:
Es ist
Sonntag. Das Licht ist gleißend hell, die Dorfstraße weiß und staubig.
An den
Seiten türmen sich Kieshaufen. Die Straße führt ins Nirgendwo. Ich bin allein.
In einer
Single-Freizeitgruppe meine ich nichts Heimatliches zu finden und mache kehrt
schon an der Eingangstür des Saales, wo sie alle an langen Tischen sitzen, laut
lachen oder kichern, einander zuprosten und durcheinanderreden. Ich setze mich
ins Auto und fahre durch den Regen in die Nacht.
Übers
Internet lerne ich Männer kennen.
Manchmal
kommt es zur flüchtigen „Tasse Kaffee“. Ich verordne mir eine Anstandsfrist,
zähle die Minuten, bis ich sie ausgesessen habe und wieder am Steuer sitze.
Dann
umfängt mich wohltuend die Anonymität der Autobahn.
Süßer
Vogel Freiheit…
Allmählich
avanciere ich zur eifrigen Mitspielerin im Partner-Monopoly. Es vermittelt mir
die Illusion, die Suchenden seien beliebig verfügbar. Und es schockt mich
wiederum mit der Erkenntnis, der Mensch nehme Warencharakter an, werde
angepriesen, preise sich selber an, nicht selten durch das raffinierteste
Understatement.
Es sei
„nichts Besonderes“ an ihm, schreibt dieser Er im Partnerprofil, outet sich dann
aber profilierungssüchtig mit Segeln, Golfen, Weltreisen, mit Reitsport und
einer Labrador-Hündin.
Andere
wiederum geben „getrennt lebend“ an.
Ich sage
mir, „was nicht ist, kann ja noch werden“, verabrede mich zum obligatorischen
Kaffee, werde zu einem weiteren Treffen eingeladen, bekomme von „ihm“ die
Telefon-Nummer, Festnetz und Mobil. Ich rufe an und bin diskret. Es meldet sich
eine Dame.
„Sind Sie
die Ehefrau?“, frage ich und fühle mich idiotisch naiv. „Ja wer denn sonst?“,
antwortet sie aufgebracht. Ich weiß nicht, was ich antworten soll, lege auf und
werfe die Visitenkarte in den Müll.
Ein
anderer lädt mich in sein Haus ein. Ich habe Mut. Einem Lehrer, der am Ort
bekannt ist, sollte ich Vertrauen schenken.
Er führt
mich ins Kellergeschoss, das in den Garten führt und voller selbstgezüchteter
Topfpflanzen steht, vom winzigen Setzling bis zum hochgewachsenen Stamm. Seine
Monologe über ökologisch sinnvolle Pflanzenzucht lassen mich nicht zu Wort
kommen.
Er stinkt
ungewaschen, am meisten vom Kopf her.
Ich solle
doch zum Abendessen bleiben.
In der
Küche schneidet er Petersilie klein samt Stielen. Die seien besonders
vitaminreich, sagt er mit hochgezogenen Augenbrauen.
Jetzt erst
bemerke ich fahlgelbe, dicke Nagelpilzkrusten an seinen Fingernägeln.
Er
schneidet zwei dünne Scheiben Brot vom mehligen Bauernlaib, teilt sie in der
Mitte, legt davon zwei auf meinen Teller und zwei auf den seinigen, belegt sie
mit je einer hauchdünnen Salamischeibe und streut hingebungsvoll Petersilie
darüber.
Mich
plagen Hunger und Ekel vor dem Nagelpilz gleichermaßen. Letzten Endes verordne
ich mir Wohlerzogenheit. Ich bedanke mich und esse.
Der Ekel
hat sich in meiner Erinnerung festgesetzt.
Dann der
Andere. Jedes Thema, in das wir uns bei seinen täglichen Anrufen
hineinplauderten, brachte uns einander näher. Seine Stimme hatte nichts
Störendes. Wir vereinbarten ein nachmittägliches Treffen in seinem Haus. Er
wolle mir seinen Garten zeigen und sagte dies in einem seltsam flehenden Ton.
Ich stehe
am Vorgartentürchen, drücke auf die Klingel und warte.
Die
Haustür geht auf. Ein kleiner, gebückter Mann, schätzungsweise im Greisenalter,
schlurft mir in Hausschlappen entgegen. Er lächelt zufrieden blinzelnd und führt
mich behutsam durch den Hausflur. Der ist dunkel, riecht ungelüftet und ist
ausgekleidet mit Bücherregalen. Es sind fast ausnahmslos Antiquariatsausgaben.
Er zeigt
mir stolz sein Wohnzimmer.
Da drohen
dunkle Schrankfronten mit finsteren Gesichtern aus einem Wust von Ranken,
Schnecken und Rosetten.
Es drohen
dunkelbraune Ledermöbel. Die geschwungenen Rückenlehnen sind durchsetzt mit
Lederknöpfen. So bildet sich wiederum ein Muster von Lederkissen.
Es drohen
Teppiche mit diffusem Design, alle in Schwarzbraun und aggressivem Ocker.
Ich solle
auf der Terrasse Platz nehmen.
Auf den
Mäuerchen lungern die Gartenzwerge. Ihre Gesichter glänzen fett lackiert und
lachen einfältig profitlich.
Was ist
ästhetisch an Gartenzwergen? Was ist ästhetisch an der Mittelmäßigkeit?
Ich
schüttle die Frage ab wie ein lästiges Insekt.
Nun
schenkt er mir den schon flockigen Saft ein, dazu noch einen winzigen Schuss
Sekt aus angebrochenen Flaschen. Die Haut an seinen Händen ist welk und blass.
„Sie
können nachher mit mir die Tagesschau ansehen.“
Er rückt
einen zweiten Fernsehsessel mit Hocker herbei zum Beine-auflegen und gibt mir
dazu eine weiche Decke.
So lasse
ich mich angewidert in diese Philomen-und Baucis-Figuration hineinzwingen.
Auch er
liegt nun mit hochgelegten Beinen neben mir, demonstrativ zufrieden.
Ich bin
nicht länger gewillt, die Situation mit Artigkeit zu meistern und frage ihn nach
der Toilette.
„Ja das
ist doch ein Bedürfnis, das man nicht unterdrücken soll!“ Er zeigt besorgt in
Richtung Flur. Noch läuft der Hauptteil der Nachrichten.
„Vorne das
Bad für das kleine, hinten das Gäste-WC für das große Geschäft!“
Ich danke,
winke ab, als er sich schmunzelnd anschickt, aufzustehen, gehe betont gelassen
in Richtung Garderobe, die neben dem Bad ist, zerre hektisch meine Jacke und
meine Tasche vom Haken, sehe um die Ecke ins offene Wohnzimmer.
Immer noch
liegt er ruhig mit zusammengefalteten Händen und folgt der Tagesschau. Ich reiße
ein kleines Stück Papier aus der Tasche, schreibe darauf zitternd einen kurzen
Abschiedsgruß und danke für die freundliche Aufnahme.
Dann öffne
ich leise die Haustür, renne auf die Straße, renne ohne noch einmal
zurückzusehen.
Nach einer
Ewigkeit komme ich zur Bushaltestelle. Ich friere.
Der Bus
kommt angefahren, gutmütig brummend und schwerfällig,
ein
rettendes Riesentier aus der „Unendlichen Geschichte“. Es nimmt mich schützend
auf in seinen Bauch und bringt mich fort.
Wieder bin
ich umgezogen.
Die Stadt
atmet ihr lebensmutig-quirliges Willkommen.
Sie atmet
es aus allen Poren. Sie hebt mich auf die Schwingen ihrer ungestümen Luft, die
von der Taiga kommt.
Es ist
Januar.
Gibt es
eine Liebe zwischen Mensch und Stadt?
Ich bin
Annerose aus dem Süden. Im Frühjahr bringt der Heimatfluss das Gletscherwasser
aus den Alpen. Bei Föhn steht am Horizont die Kulisse der Berge.
„Ich kenne
viele Abschiede“, sage ich zu dieser Stadt, denke es vielmehr zu ihr hin, wenn
ich über den Kudamm schlendere.
„Die kenn
ick ooch“, höre ich sie durch ihr lautes Getriebe, „meine Menschen - die
erzählen dir wat von Abschieden! Da biste nischt alleene.“
Am
Brandenburger Tor demonstrieren Türken und Araber für ein demokratisches
Ägypten, darunter Frauen im schwarzen Tschador, der eine Luke freigibt für die
wunderschönen schwarzen Augen.
Hinterm
Bahnhof Zoo stehen Obdachlose für ein warmes Essen an.
An der
Mauer der U-Bahn-Unterführung sitzen Junkies inmitten ihrer Hunde und hantieren
mit Schlafsäcken und Essgeschirr.
Auf den
Bänken am Alexanderplatz tummeln sich Teenies zum „Komasaufen“. Ein Mädchen
sammelt herumliegende leere Bierflaschen ein. Zwei Jungen stehen gegeneinander
wie Kampfhähne. Es geht um das Mädchen, das weinend abseits steht. Der eine
Junge holt mit der Bierflasche zum Schlag aus.
Ich renne
nach einem Polizisten. Der steht, seine Zigarette rauchend, in einiger
Entfernung.
„Ja wat
meinen Sie denn, wat ick da jeden Abend zu tun hätte?! Det sieht schlimmer aus
als
et is! Sie
sind wohl nicht von hier?“
Dann geht
er ein paar Schritte weiter, hebt kurz die Hand und grüßt freundlich.
Ich sitze
in der U-Bahn. Ein junger Mann döst apathisch vor sich hin. Dann platzt der
Weckruf lauter Rap-Musik aus seiner Jackentasche. Er zerrt sein Handy heraus.
„Hey Mann,
Mann! Isch hab drei Stunden geschlafen!“
Drei
Männer, etwa um die Dreißig, gestikulieren elegant und gepflegt-eifrig, lehnen
sich mit Standbein – Spielbein gegen die Haltestangen.
Einer
erklärt, wie man die bei einer Party übriggebliebene Spaghetti-Bolognese am
besten aufbewahren könne.
An der
nächsten Haltestelle steigt eine Gruppe Lateinamerikaner zu, walzt durch die
Gänge mit Musik aus den Anden. Ein kleiner, magerer Junge sammelt das Geld ein.
Draußen
steigt ein Tross Models aus der Bahn.
Es ist
Fashion-Woche in Berlin.
Sie
staksen linkisch in Stiefeletten, den Blick ins Nichts gerichtet, als wären sie
auf dem Laufsteg. Alle über einsachtzig, nachlässig behangen mit schwerem
Schal-Mantel-Gewirre.
Es reicht
nur knapp bis unter den Po und gibt ab da die langen, in enge Leggins gezwängten
Beine frei.
Die
Rosenthaler Straße herunter kommt mir majestätisch ein junger Mann in
Schlafanzughosen entgegen. Auf dem Kopf balanciert er einen riesigen
Badetuch-Turban in leuchtendem Blau.
Ich schaue
hin.
Und ich
mache mir Gedanken über das Hin- und das Wegschauen.
Das
Wegschauen habe ich erlebt anderswo.
Es drängte
sich mir auf als pure Ignoranz, als ein Bedürfnis der Einheimischen, sich
abzuschotten.
So weckte
es in mir das Heimweh nach dem Süden.
So fühlte
sich die Gegend an, die meine Eltern „die Fremde“ nannten.
In dieser
Stadt scheint das Wegschauen zu verbinden.
Man schaut
nicht hin, wenn der Anorak schäbig ist und der andere mit echtem Pelz.
Man schaut
nicht hin, wenn auf der Straße Kopftuchfrauen dich im Pulk zur Seite schieben,
wenn Hautfarben wechseln zu Bronze oder Kaffeebraun und ins Schwarz der
Elfenbeinküste, wenn Gesprächsfetzen fremder Sprachen, fremder Dialekte mit dir
Schritt halten oder schnell an dir vorüberhuschen.
Du schaust
hin und du schaust wiederum nicht hin. Der Blick geht solidarisch ins Weite.
Ich beende
mein Tagebuch, ohne einen Schluss gefunden zu haben.
Ein
Schluss sollte sich nicht weise aufspielen, sage ich mir und ich sage es zur
Stadt,
also gehe
ich hoffnungsvoll inmitten deiner Bäume.
Bald
werden sie wieder grün.
Worte
wie dünnes
Glas
Einwegworte
Auge in
Auge schon
entsorgt
diesseits
der
verbotenen Zonen
wo wir
fast alles
pseudo
finden
wir
von
violett - wass kan dinsky
aber in
meiner
WG am
Prenzlauer Berg
sitzt eine
Barbiepuppe
aus Moskau
Nadeschda
violett aus Rot und Blau
abends
trinken wir
unseren
Wodka
mit
Büffelgras
du weites
Land
deine
Augen
brennen
wie Feuer
durch
Worte
Einwegworte
aus dünnem
Glas
____________________________________________________________________
Der Intimfeind
und andere Kurzgeschichten und Gedichte
42 Geschichten und Gedichte
aus zwei Welten,
Inhalt
Lied der ersten Lebensräume 12
Der Griff nach den Sternen 25
Geburtstag – eine Zeitreise 67
Es
war einmal in den dunkelsten Tiefen der Vergangenheit.
Fragt
nicht nach einem Ort, fragt nicht nach Jahr und Tag, denn Raum und Zeit, die gab
es noch nicht.
Es
gab weder Materie noch Antimaterie, noch das Atom, noch Quarks, noch Higgs noch
Strings und vieles mehr. Und es gab auch kein Schwarzes Loch.
Indessen existierten da zwei Wesen, die standen einander gegenüber, ein jedes
ausgestattet mit unendlicher Macht.
Doch
fragt mich nicht, wer sie geschaffen hat.
Das
eine Wesen nannte sich DAS ETWAS, das andere DAS NICHTS.
Das
Etwas hatte Flügel und trug einen Mantel aus leuchtenden Farben, das Nichts
einen schneeweißen, weichen Pelz.
Du
bist mein Intimfeind, sagte das Etwas freundlich zum Nichts.
Würdest du garnicht existieren, ja dann wärst du mein Todfeind. Und mit dem Tod
mag ich nicht reden.
Aber
schau her, mein wertes Nichts, nun stehen wir herum und jeder ist für sich
allein. Wir könnten zusammen etwas bewegen. Ich brauche dich, brauche, dass du
mir widersprichst. Ich brauche dein Schweigen.
Warum
antwortest du nicht?
Sollte ich mir denn ein Etwas wünschen, ein Etwas wie einen Zwilling?
Bewahre mich vor diesem Urteil. Bewahre mich vor dieser Langeweile!
Warum
rührst du dich nicht? Bist du etwa doch der Tod?
Da
plötzlich öffnete das Nichts ärgerlich ein Auge. Es hatte geduldig zugehört.
Sag
nicht, ich sei der Tod! Ich existiere. Doch ich existiere als das Nichts und
meine Macht reicht in die Ewigkeit!
Dennoch, wertes Etwas, schmeichelst du mir.
Nanntest du mich nicht eben deinen Intimfeind?
Das
klingt nach Logik und nach ewiger Wahrheit.
Du
überzeugst. So lass mich dein Begleiter werden zu meinen Bedingungen.
Ich
will dein ewiger Widerspruch sein.
Ich
will mich dir in den Weg stellen, wenn du überquillst vor Schaffensdrang, vor
Glück und Freude.
Ich
will dich hinter deine Grenzen weisen.
Ich
bin dein Vergehen und dein Sterben.
Aber
vergiss nicht, nur so kannst du wieder auferstehen.
Das
Etwas schlug ungeduldig die Flügel. Es ahnte den Zauber des Aufbruchs. Jedoch
das Nichts fuhr fort:
Wir
werden Wesen schaffen, die uns nicht gönnen, im Widerspruch ein Paar zu sein.
Mich,
das Nichts, werden sie das Böse nennen, den Tod oder den Teufel.
Sie
werden nicht aufhören, mich zu verdammen.
Aber
einmal, in einer helleren Zukunft, werden wir Wesen schaffen von unserem Geist .
Diese
werden uns zusammendenken, dich als das Etwas und mich als deinen Intimfeind,
das Nichts, und uns beide als ein ewiges Paar.
Das
Etwas schlug die Flügel.
Es
fühlte sich glücklich, wippte und tänzelte verführerisch.
Drum,
mein Intimfeind, lass uns zusammen aufbrechen!
Lass
uns lebendige Welten schaffen!
Lass
uns streiten und lass uns kämpfen!
Wir
haben keine Wahl.
Warten worauf
und
doch
ein
Gefäß umschließt
das
Nichts
Nichts geschieht
im
Gefäß des Nichts
außer
dem Hand in Hand
von
Gefäß und Nichts
ziellos treiben
auf
intervallen
zwischen den inseln
unserer highlights
wachsen sehen
aus
intervallen
brücken mit schwingen
von
mir zu dir
mein
festland
ist
fern
da
stehen stolze brücken
mit
füßen aus beton
Liebe
Tante Lene,
seit
einigen Jahren bist du tot. Ich hab` dich nicht vergessen.
Wo
bist du nun?
Mein
Brief soll den Weg zu dir finden.
Es
geht darin um mein Geheimnis.
Doch
- ihr Toten schweigt.
Ich
suche nach Worten für die Zeit, die du mit uns gewesen bist.
Du
warst das jüngste der neun Geschwister meiner Mutter, zierlich, klein und
zerbrechlich.
In
den Kriegs- und Nachkriegsjahren hast du für die Leute im Dorf Kleider genäht
aus karierten Bettbezügen und Vorhangstoffen. Deine Nähmaschine rasselte den
ganzen Tag in der guten Stube.
Eines
Tages warst du schwanger von Onkel Fritz. Nach langer Russland-Gefangenschaft
hat er dich geheiratet und zu sich auf den Hof geholt.
Da
waren noch die beiden Schwestern von Onkel Fritz und seine alte Mutter.
Immer
wieder hörtest du von den Schwestern, du seist ohne jede Mitgift gekommen. In
der Küche hattest du nichts zu bestimmen. Dein Platz war im Stall und auf den
Feldern. Dort musstest du das Heu mit der Gabel wenden und das Getreide kniend
zu Garben binden.
So
wurde dein Rücken mit den Jahren krumm, du wurdest immer kleiner und musstest
selbst zu deinen halbwüchsigen Kindern aufschauen.
Im
Stall gab es eine Kuh, die ließ sich nur von dir melken. Den Schwestern haute
sie ständig mit dem Schwanz ins Gesicht.
Tante
Lene, immer noch trage ich die Schuld mit mir herum, dass ich dich nicht oft
genug besucht habe. Nein, ich kann es nicht damit entschuldigen, dass ich in der
Fremde war, wie du es immer nanntest.
Weißt
du noch, Tante Lene...
Bei
meinem Besuch zeigtest du mir deine ganze Menagerie von den Ställen bis zum
Hühnerhof und du gabst mir frische Eier und Äpfel.
Als
ich mit dir allein hinterm Schuppen stand und dich fragte, wie es jetzt so mit
Deinem Mann und seinen Schwestern sei, da sagtest du leise:
Wenn
sie böse sind, dann gehe ich in den Wald. Da gibt es einen Jäger-Hochsitz. Ich
klettere die Leiter hinauf und setze mich auf die Bank. Dann singe ich das Lied
` So nimm denn meine Hände' und schon geht`s wieder besser.
Einmal hörte ich, du seist im Krankenhaus, es ginge dir nicht gut.
Ich
fuhr hin, um dich zu sehen. Du warst an das Beatmungsgerät angeschlossen.
Aus
deinem Körper hingen Schläuche auch für die Zu- und Abfuhr der Infusion.
Dein
gekrümmter Rücken drückte gewaltsam den Kopf nach unten und dein Körper folgte
beständig dem Takt des Beatmungsgerätes, bäumte sich kurz auf und sank wieder in
sich zusammen. Aber deine Augen haben zu mir aufgesehen und sagten mir: Es ist
unser Abschied.
Ich
eilte auf dem Krankenhausflur nach Hilfe.
Einen
vorbeieilenden Arzt flehte ich an: Bitte, es geht um meine Tante auf Zimmer 304!
Gibt
es eine Patientenverfügung? fragte er. Nicht? Ja dann kann ich nichts tun.
Die
Krankenschwester nahm mich am Arm: Da kommt die Visite, sagte sie.
Bitte! Helfen sie mir! Es geht um meine Tante auf Zimmer 304, rief ich wieder
und stellte mich einfach in den Weg.
Der
Oberarzt gab seinem Tross fliegender Weißkittel das Zeichen, weiterzugehen und er
nahm mich beiseite.
Aber
er blieb stumm. Dann drückte er mir wortlos die Hand und ging weiter.
Am
nächsten Morgen rief mich meine Schwester an:
Tante
Lene ist tot, sagte sie, die Krankenschwester meinte, sie sei ganz friedlich
eingeschlafen.
Ich
war bei deiner Beerdigung, Tante Lene.
Der
Chor hat dir zum Abschied das Lied gesungen: 'So nimm denn meine Hände`, dein
Lied, das du im Wald auf dem Hochsitz gesungen hast.
Sieh
zu
In
meinem fernen
Zuhause
reden
sie
reden
Alltagsworte
und
weinen nicht
über
Ungesagtes
ihnen
Verwehrtes
und
wissen doch
vom
großen Nichts
das
sie
behutsam
in
den Armen wiegt
Winter
hinter Tüllgardinen
Fenstersprossen Gartenzaun
weiter draußen ist Krieg
aber
in der alten Stube
lässt
der warme Kachelofen
gütig
die Kartoffeln bähen
aber
in der alten Stube
hat
Großvaters Schreibtisch Türmchen
und
das Wachstuch Tintenkleckse
Frühling
hinterm alten Haus
Hühnergackern Katzenschnurren
weiter draußen ist Krieg
aber
hinterm alten Haus
musiziert es vom Holunder
musiziert es von der Schupf
die
Stare sind da
Sommer
an
der alten Mühle
Bach
durchwaten
Enten
schnattern
weiter draußen ist Krieg
aber
zwischen Sommerwolken
glitzern silberhelle Flieger
Sommervögel ohne Lied
Herbstwind
über
Schlehenhecken
Hirtenfeuern Rübenäckern
weiter draußen ist Krieg
aber
hintendrauß im Garten
räumt
Großvater die Bäume
und
das Obst in Weidenkörbe
weiter draußen ist Krieg
Wenn
die Kirchenglocken läuten
gehe
ich
durchs Haus
nehme
Großmutters Bild
von
der Wand
und
gebe ihm
einen
Rahmen
aus
dunklem Holz
Großmutter an der Nähmaschine
ihre
Hände
gichtknotig
ruhen
auf
dem Stoff
Großmutter
gepresst unter Glas
lächelt scheu
mir
ins Herz
Weißt
du noch .…
Maria
wohnt in Berlin-Dahlem mit Robert, Zahnarzt im Ruhestand.
Robert und Maria lieben das Understatement.
Ihr
Haus hat keinen Park, dafür im Garten Beerensträucher.
Auch
beim neuen Rover achteten sie auf Gediegenheit.
Das
grenzt uns ab gegen den Plunder der Berliner Neureichen, sagt Robert, alter Adel
braucht keinen Park ums Haus.
Alter
Adel - das klingt gut, dachte vor Jahren Maria und holte sich den Salon der
Berliner 1820er-Jahre in ihr geräumiges Haus.
Rahel
Levin musste Mut beweisen, hat ihren Salon in einer Dachkammer begonnen, die
Arme, sagte Maria zu Robert. Na ja, bei Rahel gingen aber Leute wie Hegel, die
Brüder Humboldt, Bettina von Arnim und Heinrich Heine ein und aus.
Bei
Maria und Robert waren es die Freunde vom Golfclub.
Eines
Tages war es dann mit dem Salon zu Ende. Das kam so:
Alexander, Roberts Kollege von der Charité, sagte irgendwann verärgert in die
Runde:
Leute, ich bin sackmüde und hab jetzt nichts mehr am Hut mit Goethes
`Wahlverwandtschaften'. Zur Zeit sitz ich nur noch am Computer oder fülle
Formulare aus. Das wäre Schwesternarbeit. Aber Ihr wisst ja - der
Pflegenotstand.
So
ging man wenig erbaut auseinander.
Die
Sache mit dem Salon war beendet und Maria wollte als die harmoniestiftende
Gastgeberin ihr Salonprojekt nicht weiter verfolgen.
Es
ist frühmorgens. Maria sitzt mit Robert beim Frühstück und schreibt ihren
Einkaufszettel. Vergiss nicht das Meersalz vom KaDeWe, Gourmet-Abteilung, du
weißt schon, und...ach ja, der Whisky ist alle.
Tut`s
auch das Meersalz vom Bioladen? Da muss ich eh noch hin, fragt Maria.
In
einer Woche steigt im Heidelberger Schloss eine Hochzeit. Es ist der Sohn von
Roberts Bundesbruder.
Dann
hol ich gleich noch am Kudamm das Kleid ab, sagt Maria. Die Heidelbergerinnen,
garantiert aufgetakelt, sollen geschockt sein, aber erst auf den zweiten Blick.
Hauptstadt-Fashion, weißt du, quasi Jil Sander-Purismus, Etuikleid, graue Seide,
leicht übers Knie und Rundausschnitt.
Robert findet daran nichts Überraschendes und liest die Zeitung.
Maria
holt den Range Rover aus der Garage und fährt in Richtung Charlottenburg.
Dann
plötzlich macht sie eine Vollbremsung.
Eine
Frau huscht auf den Zebrastreifen, bleibt auf halbem Weg vor dem Rover stehen,
wendet das Gesicht und blickt durch die Frontscheibe Maria direkt in die Augen.
Die
Frau lächelt - und Maria kennt dieses Lächeln, Maria kennt diesen Blick.
So
freundlich und doch so ängstlich und verwundbar.
Die
Frau ist etwa 35 Jahre alt, jünger als Maria, und sie trägt einen etwas
schäbigen, mausgrauen Stepp-Anorak. Jedenfalls uncool und vom Textil-Discounter,
denkt Maria.
Das
pechschwarze Haar der Frau ist im Nacken weich geknotet.
Maria
hupt und die Frau geht flink zur anderen Straßenseite.
Mit
unbewusster Grandezza - und Maria kennt diese Bewegung - wendet sich die Frau
nocheimnal hin zum Rover, als möchte sie etwas sagen.
Maria
weiß in diesem Moment: Es ist die Mutter ihrer Kindertage.
Dann
folgt sie ihr bis zum Parkplatz eines Supermarktes.
Die
Mutter verschwindet durch den Hintereingang.
Warum
heute nicht hier einkaufen? sagt sich Maria.
Mit
dem voll beladenen Einkaufswagen stellt sie sich in die Schlange.
An
deren Ende sitzt die Mutter als Kassiererin.
Mutter, denkt Maria, so hast du hier Arbeit gefunden.
Die
Mutter lächelt, als habe sie verstanden, aber sie blickt den Kunden nicht ins
Gesicht.
Hallo! sagt die Mutter.
Hallo! sagt Maria zurück.
Dann
klingt es wie eine kleine, schüchterne Melodie: Und Ihnen noch einen schönen
Tag!
Ja,
danke, Ihnen auch, sagt Maria.
Es
gibt keinen Blickkontakt, denn schon dreht sich die Mutter hin zum Förderband.
Maria
schiebt den Einkaufswagen zum Parkplatz und belädt den Kofferraum.
Dann
setzt sie sich ins Auto und wartet.
Sie
weiß nicht, wie lange sie so gesessen und gewartet hat.
Nun
ist der Parkplatz gähnend leer. Es sieht nach Ladenschluss aus.
Im
Innern des Supermarktes löschen sie die Lichter.
Ein
Mann vom Personal verlässt mit Rucksack den Hintereingang und fährt auf seinem
Fahrrad davon.
Maria
wartet.
Langsam wird es dunkel.
Die
Mutter kommt nicht mehr.
Damals
saß
ich am Fenster
wartend
auf
dich
und
dann
kamst du
und
es
war mir
eine
Ewigkeit von Glück
und
dann
kamst du
ein
letztes Mal
Er
liegt neben ihr, animalisch ausgestreckt. Es ist gegen drei Uhr morgens.
Sein
Arm hatte sich langsam von ihrem Bauch gelöst. Sie fühlt Liebesentzug, sehnt
sich nach der zwillingshaften Körperlichkeit und ist bereit, sie auszuhalten,
auch wenn sich Überdruss einstellen sollte, auch wenn er sie wieder wortlos
degradieren würde auf ihre bloße Weibchenrolle.
Dennoch war es ihm gelungen, sie an sich zu binden. „Du bist die Frau, die ich
immer gesucht habe“, war seine Liebeserklärung. Von ihren Eltern hatte sie
niemals gehört: „Du bist das Mädchen, das wir uns immer gewünscht haben.“
Entgegen aller Emanzipationstheorien hütete sie ihr Geheimnis und nannte es „ihr
idiotisches und bescheidenes Weibchen-Glücksgefühl“. Dafür ist sie bereit, zu
leiden. Sie leidet, wenn er zu viel getrunken hat und dann unvermittelt sagt:
„Deine Texte werfen doch nichts ab! Wer geilt sich schon daran auf?! Schreib
einen Bestseller und häng` auch nicht so verbissen an deiner Lyrik. Und deine
Philosophen haben nie etwas anderes getan als sich gegenseitig zu bekriegen.“
Sie
hält den Atem an. An der Decke kreist das Scheinwerferlicht der nahen Disco zum
Surren der Klimaanlage. Touristensommer in Spanien. „Wir
könnten gut ein halbes Jahr hier wohnen. Ich suche eine Finca für uns beide. Den
deutschen Winter halte ich nicht mehr lang aus.“ Wieder nörgelt er es vor sich
hin und wieder sagt sie darauf: „Für
mich ist es eine Frage von Heimat. Mir fehlt hier die Muttersprache, weißt du...
quasi das Biotop.“ „Du
suchst doch ständig nach Heimat und am wohlsten fühlst du dich, solange du
danach suchst! Und seh´ ich recht? Jetzt blärrst du bestimmt nach deinem
gewesenen Ehemann!?“
Sie
war wohl eingeschlafen. Nun weckt sie grelles Licht, das aus der Küche kommt. Im
Türausschnitt sieht sie ihn aus der Speisekammer kommen.
Katerfrühstück, denkt sie. Am Abend zuvor waren sie noch in Rodrigos Botega zur
Weinprobe gewesen.
Zelebrierend schwenkt er eine Whiskyflasche und trinkt daraus auf schwankenden
Beinen. Sie rennt auf ihn zu, fleht „hör auf!“ und will ihm die Flasche aus der
Hand reißen. Sie weint. Er drückt sie zu Boden und schlägt auf sie ein, dann
liegt sie reglos. Nun kommt er mit vollen Bierflaschen, stößt mit den Füßen auf
sie ein und gießt das Bier über ihren nackten Rücken. Sie versucht, aufzustehen,
doch schon fühlt sie den nächsten Guss. So geht es im Wechsel.
Irgendwie ist sie in ihr Bett gekrochen, kann noch denken, sie hätte nicht das
Geld für die Abreise bei sich.
Dann
kommt federleicht ein Strohhalm angeschwommen auf diesem Meer von
Ausweglosigkeit.
Es
sind nur ein paar Worte.
Sie
fügt sie zu einem Gedicht:
Unter
dem Overkill
unter
der Asche
nistet ein Samenkorn
nistet mein Kind.
Gewandert über sieben Berge
Geträumt deinen Traum
Geschluckt den Apfel
Zurückgekehrt
mit
dem Schweigen des Schnees
Überall
im
fremden Haus
auf
schweren leeren
Eichenstühlen
körperlos
Schneeweiß und Rosenrot
körperlos
auf
abgehackten Ästen
und
zwischen Frühlingsblumen
euer
Mädchenlachen
erreicht nicht
mein
Heimweh
In
den Nächten flecht ich
mir
ein Kleid
aus
weiß
und
roten
Rosen
Mo
kommt aus der Dusche, schaut in den Spiegel und fragt sich: Bin ich schön?
Schön
klingt kitschig, hat die Patina einer früheren Epoche. Denn allseits ist
Schönheit wohlfeil und billig zu haben, auch bei Ralf um die Ecke, dem
Bodydesigner. Bei Mo`s Urgroßmutter war es noch das Friseurgeschäft. Aber was
Ralf noch nicht kann: ein paar Rippen entsorgen.
Sevin
ist dafür in die Stadt gefahren. Nun ist sie stolz auf ihre vierzig Zentimeter
Taillenumfang.
Ed
kommt ins Bad.
Verstehe ich dich richtig, fragt Mo, wenn du diese Abart einer Taille auch noch
schön findest?
Nicht
bei zehn Zentimeter Gehirnumfang, sagt Ed. Mo`s Eifersucht ist damit nicht
heruntergekühlt.
Aber
dann sag mir, Ed, warum wolltest du gestern den Haushaltsrobot ‚Emmeline‘
kaufen?
Der
gleicht Sevin doch aufs Haar!
Schau
doch mal rüber, Mo, zu den Nachbarn. Robby hat sich eine Sex-Robotdame
angeschafft.
Ja
Robby, den du immer so charmant findest! Und er geht mit ihr sogar shoppen! Du
würdest mich steinigen, wenn ich mir eine Robotdame wenigstens fürs Schach
zulegen würde. Dabei hast du dich noch nie für Schach interessiert. Was willst
du eigentlich?
Was
ich will – du wirst es erfahren. Und sag jetzt nicht, du seist mir wegen meiner
Wesensart treu geblieben. Ich möchte dir gefallen, Ed.
Wo
ist das Problem? nuschelt Ed, während der Rasier-Robot sanft über sein Gesicht
gleitet, mir gefallen gut aussehende Frauen.
Nicht
F r a u – e n , Ed !
Aber
ihr seht doch alle gleich aus. Urahne Barbie wäre stolz auf euch.
Mo
geht zur Garderobe, holt einen Koffer und weint:
Da
genau sind wir beim Problem, so es dich interessiert.
Wir
Frauen von der Emanzipations-Avantgarde fordern: Gebt uns unsere Fältchen
zurück, unsere eigenen Fältchen und Charakterzüge!
Schon
Friedrich Schiller sagte: Schönheit gebe es nicht ohne Anmut und Anmut komme von
innen.
Ed
nimmt einen Schluck Whisky. Was hast du vor?
Mo
packt ihren Koffer. Ich habe Paris gebucht. Dort kann ich das neue Design
bekommen,
Gesichtszüge und Fältchen nach meiner Wesensart.
Nie
wieder möchte ich in den Spiegel schauen, dabei an dich denken und mich fragen
müssen:
Bin
ich schön?
Was
ich weiß
ich
der
Klon
mutterlos im Dunkel
Sohn
des Perseus
hochgerüstet mit Raketen
Am
Anfang
war
Alpha das Zeichen
war
der Logos
war
Frau und Mann
im
Kreis
der
Göttin
War
Hathor
Isis
und Athene
war
Demeter
sie
buk das Brot
bei
Spielen
und
Gesang
Am
Anfang
war
Gaia
war
Nut
war
Lilith die Sonne
und
der Ginster so golden
in
Sumer
Was
ich weiß
ich
der
Klon
mutterlos im Dunkel
Kopfunter verlasse ich Omega
kopfunter den Kreis
Ich
bin
Anfang und Ende
spricht die Göttin
Ich
bin
der
Logos
bin
Alpha und Omega
Was
ich weiß
ich
der
Klon
Am
Anfang
war
Lilith die Sonne
und
der Ginster so golden in Sumer
Liebe
Zuschauer vom weiblichen, männlichen und Bio-Transgender-Geschlecht,
liebe
Zuschauer vom ehrwürdigen Geschlecht der Androiden und Hybriden,
seien
Sie herzlich willkommen.
Ich
bin Christina Johnson vom Sender YAI und berichte vom Weltkongress der
Wissenschaft.
Ich
fasse mich kurz, meine Zeit eilt mir davon.
Worum
geht es? Der Flug zum Sternensystem Alpha Centauri ist beschlossene Sache.
Eingeladen haben uns die Bewohner von Alpha Proxima B, entdeckt schon 2016. Und
dies ist keine Science- fiction Story!
Proxima B ist ein Exoplanet von Alpha Centauri.
Tja -
lange mussten wir auf die Einladung warten. Aber Schwamm drüber!
Die
große Verwüstung haben wir durchgestanden. Die technischen Probleme sind gelöst.
Neil
und Bob, unsere Star-Commander der Ultra-Intelligenz, steuern das Zeitschiff.
Aah!!
Wen sehe ich da!?
Seien
Sie begrüßt, Professorin Olga Stepanowa!
Sie
haben eben Ihren zweihundertsten Geburtstag gefeiert. Meine aufrichtige
Gratulation! Sie sind Schirmherrin der neuen Emanzipationsbewegung, bekannt
unter dem Namen „Kassandra“.
Was
sagen Sie, Olga Stepanowa, zum heutigen Kongress?
Was
ich sage, liebe Christina? Ich warne. Aus Gier und Verzweiflung greifen wir nach
den Sternen. Die Künstliche Intelligenz sitzt an den Schalthebeln der
Weltregierung, unfähig, dem Volk das zu geben, wonach es sich sehnt: das Glück
und die Liebe.
Suchen wir danach auf Alpha Proxima B??? - dass ich nicht lache!!! Das wird
unsere neue Sternenkolonie! Und ihre Bewohner werden unsere Sklaven. Na denn -
gute Reise!
Olga
Stepanowa, ich danke Ihnen für Ihre Zeit.
Liebes Publikum, ich schalte nun um in die Kongresshalle.
Am
Podium diskutieren mit den Robots Neil und Bob die
Astrophysiker, Philosophen, Soziologen, Psychologen.
Es
fehlt Olga Stepanowa.
In
höflicher Noblesse neigen Neil und Bob ihre Köpfe mal hierhin, mal dorthin.
Ich
sag mal: Sie allein kennen die Antwort auf all diese letzten Fragen.
So
schweigen sie.
Oh
nein!!!! Eine Bildstörung! Können Sie mich noch hören?
Lautes Pfeifen!
Nun
sind wir wieder auf Sendung. Doch sehen Sie selbst:
Ein
nicht geladener Gast - sagt mein Kollege soeben - nähert sich dem Rednerpult. Er
ist eingehüllt in gleißendes Weiß, sein Gesicht ist puppenhaft und freundlich.
Und hören Sie! Er spricht in unserer Sprache. „Lasst
mich erzählen, wie es war unter Alpha Centauri.
Wir
hatten blauen Sand und eine rote Sonne.
Wir
lebten als Zweilinge. Unsere Körper hatten zwei Beine, zwei Arme und - zwei
Köpfe.
Nennt
sie Zwillinge, Zweilinge oder nennt sie Mann und Frau.
Sie
waren miteinander im Gespräch, sie waren miteinander im Schweigen.
Ein
Streit war der Streit zwischen ihren Köpfen. Doch sie konnten nicht hassen,
wusste doch jeder der Beiden, dass Hass die Zerstörung ihres gemeinsamen Körpers
bedeutete.
Manchmal, wenn sie sich küssten, entstanden ihre zweiköpfigen Nachkommen.
Mit
ihnen lebten sie in Kleinfamilien und bestellten das Land.
Diese
Zeit war paradiesisch und dauerte bis zum Anbruch einer neuen Epoche.
Nun
lebten sie in Gruppen. Es garantierte wirtschaftliches Arbeiten, brachte aber
auch die Neugier auf andere Körper. Und es gab Küsse kreuz und quer. Die
Zweilinge wurden einander untreu. Es entstanden Kinder, deren Herkunft sie nicht
kannten.
Man
sprach von Eifersucht und Neid, man sprach von Liebe und Besitz. Den wollte man
nicht teilen mit Köpfen, die man hasste.
Ein
Kopf, ein Körper… das wäre die Lösung. So hörte man es raunen in Zirkeln der
Wissenschaft.
Man
sprach nun von Kulturzerfall.
Schließlich gelang es, lange vor Eurer Zeit - das neue Wesen zu schaffen:
Ein
Kopf - ein Körper.
Doch
irgendwo versagten wir. An der Stelle des nicht mehr vorhandenen zweiten Kopfes
saß nun der Phantomschmerz, die Sehnsucht nach dem Zweiling.
Nun
machte jeder sich auf die Suche nach dem Anderen.
Man
sprach vom Warten, aber auch vom Hoffen.
Jedoch - einander zu finden, konnte auch bedeuten, einander zu verlieren.
Man
starb nun auch allein.
Die
Älteren in unseren Reservaten hören wir mitunter klagen:
Früher war es anders.
Früher hatte man noch zwei Köpfe, aber man war ein Leib und eine Seele.
Nun
suchen wir nach dem Glück und nach der Liebe.
` E u
d a i m o n i a ' nennen es die Weisen eurer Antike.
Doch
wir finden es nicht unter den Sternen von Alpha Centauri. ---
Nun
hört: Wir haben einen Traum.
Und
darum kommen wir zu Euch auf die Erde.
Aber
wir kommen in Frieden.“
Liebes Publikum---verzeihen Sie bitte diese erneute Bildstörung.
Ich
hoffe, Sie können mich noch hören. Ja???!!!
Vom
Sender höre ich soeben, der Kongress werde abgebrochen.
Es
herrsche höchste Geheimhaltungsstufe.
Im
Moment bleibt mir nur diese Information an Sie.
Ich
danke Ihnen vielmals fiür Ihr Interesse und Ihre Aufmerksamkeit und wünsche uns
allen eine glückliche Zukunft.
übers
eisfeld
einer
digitalen
liebe
karren robots
emsig
sprach- und liebesspiele
vieltausendjährig
das
hohelied der liebe
worte
harren
der
deutung
und
bleiben doch nur
worte
zu
dir und
worte
zu mi
leise
tastend
senkt
sich
deine
glut
sheherazad
auf
das eis
der
digitalen liebe
gemachte Zeit
mit
dem Klick auf den Bildschirm
lösche ich den Tag
mit
den
erledigten Terminen
streiche ich die Woche
das
Jahr
und
streiche
Träume
himmelblau
mit
weißen Flügeln
von
Tagen
wo du
mit
mir warst
Augusthimmelblau
Madonnenblau
du
schöne Lüge
kein
Mantel
der
herunterreicht
mich
einhüllt
weil
ich friere
und
doch
Madonna voller Gnade
schickst mir
eine
Wolke
mein
Wolkenkamerad
ziellos treibend
hin
zum Horizont
mit
den strohgelben Feldern
mit
den weißen Wegen
menschenleer
mit
den Autoschlangen gen Süden
ziellos hin
zum
Horizont
mit
den Flügeln der Wünsche
Kleo
steht am Tresen, nippt gelangweilt an einem „Happy Cola“ und genießt die Pause.
Kleo weiß: Das Getränk wurde vor Generationen mit großem Erfolg unter ähnlichem
Namen auf den Weltmarkt gebracht. Nun ist der Konzern zusammen mit anderen das,
was sie die Weltregierung nennen.
Und
im Dienst der Weltregierung steht die Elite aller Wissenschaftler.
Im
Saal läuft der Bericht über Erkundungen auf HELI 61, dem Exoplaneten.
Es
gibt dort Ozeane, Wälder und Gebirge. Unspektakulär dafür, dass das Raumschiff
fünfzig Jahre unterwegs war. An Bord saßen die Roboter Bill und Bob.
Bill
war zuständig für die Technik, Bob für die Forschung. Sie stießen auf
intelligente Lebewesen.
Bob
saß auf dem Podium zur Rechten, Bill zur Linken des Professors für Theoretische
Physik und beide antworteten artig, wenn sie etwas gefragt wurden.
Bob
war es gelungen, sich einem der Bewohner von HELI 61 zu nähern, kam ihnen aber
nicht wirklich nahe. Ihre Sprache schien nicht aus Lauten und Zeichen gemacht.
Bob
sagte zum Publikum hin mit monotoner Stimme, aber selbstbewusster Gestik, er
habe sich gefühlt wie ein Schimpanse. Diese Wesen hätten wohl keinerlei Sprache
mehr nötig. Letzten Endes seien er und Bill von einem unerklärlichen Kraftfeld
zum Verlassen des Planeten gezwungen worden.
„Wozu
bloß dieser ganze Aufwand? Und Bob die totale Fehlbesetzung! Finden Sie nicht
auch?“, sagt der Mann am Tresen. „Übrigens,
mein Name ist Dirac, ich komme von der Theoretischen Physik.“ „Erfreut“,
sagt Kleo, „Paul Dirac – hat er nicht im frühen Zwanzigsten Jahrhundert gelebt
und mathematisch belegt, dass jedes Elementarteilchen auch ein Antiteilchen hat,
ein virtuelles, die Antimaterie also? Längst ist sie doch nachgewiesen. Ein Mehr
an Physik ist bei mir nicht vorhanden. Ich komme von der historischen und der
sprachlichen Zunft.“ „Interessant
für mich!“, sagt Dirac, „Sie haben es demnach mit der Wahrnehmung und der
Deutung von Geschehnissen zu tun. Geschichte – Geschichten – Hmmm... zweifellos
verschiedene Wahrheiten und nicht die vermaledeite eine Wahrheit, welcher wir
hinterherjagen. Den Quanten gefällt es immer noch, uns schamlos zum Narren zu
halten.“
Er
sagt es mit einer Mischung von Noblesse und Lässigkeit. Könnte das sein
wirkliches Interesse an ihr bemänteln?
Im
Gesicht trägt er sympathische Altersfältchen. Auch Kleo ließ sie sich verpassen.
Es ist die neue Mode, entstanden aus dem Überdruss an Jugendlichkeit. Die
Jugendlichkeitsampullen sind für wenig Geld in jedem Shop zu haben.
Dirac
sieht sie an – und doch scheint er durch sie hindurchzusehen. „Sie
gefallen mir. Wollen Sie mich wiedersehen?“
Kleo
trifft Dirac. Sie gehen spazieren, sitzen in Cafés, diskutieren und halten sich
dabei an den Händen. Immer wieder küsst er sie. Niemals schlafen sie
miteinander.
Zwischen ihren Begegnungen halten sie Kontakt, erscheinen einander als
Hologramm. „Bald
wird alles anders“, sagt Dirac, „ich habe immer noch so wenig Zeit. Theoretische
Physik eben. Wir sind nicht nur die Anwender mathematischer Gleichungen, wir
interpretieren sie. Wir machen Experimente, können auch physikalische
Voraussagen treffen. Lass einfach die Zeit für uns entscheiden.“ „Gestatte,
dass ich mal deinen Satz interpretiere“, sagt Kleo, „wer stets entscheidet, das
ist nicht die Zeit, das bist doch du. Und du entscheidest stets zu deinen
eigenen Bedingungen. Am Ende entscheidest du nach deinen physikalischen
Voraussagen. Mich gruselt dabei.“ „Versteh`
doch, meine Liebe, ich kann nicht über die Bedingungen reden.“ „Was
ist dein Projekt – was willst du?“ fragt Kleos Hologramm. „Ich
will dich, denn ich liebe dich wie ich noch keine Frau zuvor geliebt habe.
Ich
bin dir inzwischen treu gewesen. Du hast all das, was ich nicht habe und ich
weiß, ich könnte dich verlieren.“
Kleo
fühlt sich wieder anerkannt und beschützt, denkt jedoch:
er
könnte mein Bedürfnis nach Schutz und Anerkennung schamlos ausnützen für ein mir
verborgenes Ziel. Nur sagt sie es nicht aus Angst, sie könnte damit unweiblich
wirken. „Es
ist deine Weiblichkeit, wonach ich gesucht habe“, sagt er zu ihr.
Eines
Tages sitzen sie wieder zusammen im Café. „In
früheren Zeiten“, sagt Kleo, „gab es eine chinesische Kampfsportart. Wichtig
war, dem Gegner keine Angriffsfläche zu bieten. Man ließ ihn in hohem Bogen über
die Schulter fliegen. Deine Taktik? Ob durch Schweigen oder durch Worte – du
sagst viel und sagst doch nichts. Du bist nicht fassbar.“ „Wenn
du mich liebst“, sagt Dirac, „dann versuche, mich zu verstehen. Ich kann mich
nicht gut ausdrücken.
Ich
liebe dich.“
Durchs offene Fenster dringt der Lärm einer Demonstration. Immer wieder gibt es
Unruhen im Land. Sie richten sich gegen die Weltregierung.
Laute
Kampfparolen und Kampflieder, begleitet von altmodischen Musikinstrumenten,
mischen sich mit dem Gegröle und den Pfiffen der Demonstranten.
Transparente werden vorbeigetragen.
Auf
ihnen ist zu lesen: „Zerschlagt die wertfreie Wissenschaft!“
Kleo
erinnert sich: Da war doch mal etwas im Geschichtsseminar:
Noch
im späteren Zwanzigsten Jahrhundert gab es diese Bewegungen. Vor allem viele
junge Menschen wollten die Systemveränderung. Man las die Philosophen,
Theoretiker und und Literaten, man diskutierte und man sang die alten
Freiheitslieder auf weltweiten Demonstrationen. Es hieß, die Wissenschaft
arbeite Hand in Hand mit den Regierungen für den Profit der Konzerne und habe
längst die Werte der Moral verlassen.
Plötzlich steht ein vermummter Mann am offenen Fenster.
Seine
Waffe zielt auf Dirac.
Der,
ganz unbewegte Noblesse und scheinbar ohne Angst, wendet sich dem Fenster zu.
Dann trifft ihn das Geschoss. Sein Kopf fällt nach hinten und sein Blick heftet
sich starr auf Kleos Augen, als wollte er für immer darin verweilen.
Aus
seinem Hals quillt ein Bündel von Drähten und auf dem Boden liegen die
herausgesprengten Chips und Metallteile in einer Lache seines Blutes.
Und
wenn du zurückkämst
aus
dem Himmel der heimatlosen Linken
nur
eine Demo lang
Zu
eurer Zeit
war
der Osten noch rot
Wir
latschten zu Tausenden um die Utopie
und
riefen in Sprechchören
Weg
mit den Berufsverboten
und
sangen
Und
weil der Mensch ein Mensch ist...
Unsere Treffen
waren
Feten
gewiss auch mit entfernten Verwandten
Wir
saßen am Feuer
bei
Borschtsch und Paella
nach
den Rezepten der Euros
Und
weißt du noch
das
Wort „verbissen“
in
deinem Schweigen
in
deiner Selbstkritik
Oh we
can be heroes just for one day
Ho Ho
Ho Chi Minh
Blue
Jeans und unser wehendes Haar
All
you need is love
Und
dann
an
einem Sommertag
auf
deinem Sarg
die
roten Nelken
Mahlers Fünfte
Einer
im roten Hemd
So
hat es dir gefallen
Mit
dir ging eine Epoche
Und
wenn du zurückkämst
aus
dem Himmel der heimatlosen Linken
nur
eine Demo lang
Zu
eurer Zeit
war
der Osten noch rot
Doch
heimatlos sind wir geblieben.
Worte
wie
dünnes Glas
Einwegworte
Auge
in Auge schon
entsorgt
diesseits
der
verbotenen Zonen
wo
wir fast alles
pseudo
finden
wir
von violett-wass.kandinsky
Aber
in meiner WG
am
Prenzlauer Berg
sitzt
eine Barbiepuppe
aus
Moskau
Nadeschda violett aus Rot und Blau
Abends trinken wir unseren Vodka
mit
Büffelgras
Du
weites Land
Deine
Augen
brennen wie Feuer
durch
Worte
Einwegworte
aus
dünnem Glas
Hannes sitzt mit Max beim Italiener. Sie nennen es ihr Wirtshaus. „Eines
Tages kommt sie zu dir zurück. Die Zeit ist die Unbekannte. Was sagen deine
Klinik-Professoren?“, fragt Max. „Neue
Ärzte, neue Medikamente“, sagt Hannes, „neuerdings habe ich Halluzinationen,
erstmalig als Zugabe der epileptische Anfall.“ „Wirf
den ganzen Scheiß in den Müll und fang an mit kleinen Schritten!“ „Danke“,
sagt Hannes, „seit wann liest du Glücksratgeber-Magazine? Weißt du was – für die
kleinen Schritte brauche ich den festen Boden unter meinen Füßen. Ich hänge
brutal über dem Abgrund.“ „Versteh
ich doch“, tröstet Max, „der Boden, das war die reale Heimat,
war Mirjam, waren deine Kinder,
war dein Haus. Aber war es nur das? Dir fehlt die Heimstatt in dir selber. Sie
ist dir nicht so leicht zu nehmen.“ „Hab ich doch alles schon gehört vom
Psychotherapeuten, wenn er beim Meeting nebenher den Baumarkt-Einkaufszettel
studiert hat. Scheiß der Hund drauf!“
Hannes lacht sein allseits berühmtes, wieherndes Lachen, die Mischung von Extase
und Schmerz. „Magst
Recht haben, Max – die Heimstatt in mir… Ohmmm… Der Duft von Räucherstäbchen...
Spaß
beiseite, die Identität, das Gefühl von Selbstwert, vergiss es! Ich war Lehrer
mit Leib und Seele. Meine Knochenkrankheit, meine Operationen – das alles hat
mich zum Hausmann gemacht. Bei aller Liebe – mir blieb nur die Wahl der
Dankbarkeit für diesen Lebensstil auf Berliner Speckgürtel-Niveau.
Hätte
ich nun wieder, hokuspokus, Boden unter meinen Füßen, es wäre immer wieder
dieselbe Geröllwüste mit Felsbrocken von Schuldgefühlen.
Ich
war acht Jahre alt und dem allwöchentlichen Ritual der Religionslehrerin
ausgeliefert. ‚Du bist und bleibst ein Dummkopf fürs Leben‘, flötete sie mir
schrill ins Ohr. Gewiss – ich hatte sie beleidigt, weil ich das Auge Gottes zu
einer Vagina umgemalt hatte.
Zur
gleichen Zeit zwei Jahre lang sexueller Missbrauch durch den Dorffriseur.
Er
sei ein so leutseliger, ehrlicher und gesprächiger Mann, sagte man im Dorf.
Ich
hatte mehrfache Angst: Zum einen, die Eltern könnten mir nicht glauben, zum
anderen, die Eltern könnten mich für mitschuldig halten, sollten sie mir
glauben.
Der
Richter fragte mich pennibel nach Einzelheiten. Ich konnte nicht antworten. So
stand ich am Dorfpranger. Danach gab es keine Gespräche mehr.“ „Du
siehst doch, was falsch gelaufen ist, sagt Max, „sieh`s einfach dialektisch.“ „Mensch,
Max! Philosophie und Schuldgefühle – wie geht das zusammen? Die Schuldgefühle
nagen mir das Fleisch von den Knochen. Hinzu kommt noch der Stempel, das Stigma
des unheilbar Depressionskranken. Das klebt wie Pech an mir“. „Verstehe“,
sagt Max, „so kannst du`s nun niemandem mehr rechtmachen.
Selbstwert ade!“
Er
greift in seine Jackentasche. „Komm,
Hannes, lass uns einen Joint rauchen. Weißt du noch – die Nacht in unserer WG
auf dem schrägen Sperrmüllsofa?“
Sie
kiffen wie in alten Tagen, lehnen sich gegen die Mauer der U-Bahn-Haltestelle.
Zu
ihren Füßen haben Obdachlose ihre Schlafstatt aufgeschlagen. Ein leerer
Yoghurtbecher steht auf dem Boden und bittet um Geld.
Die
Passanten schauen geradeaus, eilen vorbei mit vollen Einkaufs-Plastiktüten,
Rucksäcken, Reisekoffern und Kinderwagen.
Dann
– wie eine Fanfare – zerreißt das Staccato einer Rap-Band das Alltagseinerlei.
Der U-Bahn-Schacht wird dröhnend zur Kathedrale. „Tschau
Hannes, muss heim zu Weib und Kind“, sagt Max, schwingt sich aufs Fahrrad und
fährt davon.
Hannes geht am Ufer der Spree. Mühsam tastet er sich durch den Nebel und das
raschelnde Herbstlaub zu einer Bank. Da sitzt eine vermummte Gestalt. „Trostloser
Abend“, sagt Hannes.
Die
Gestalt antwortet mit ruhiger Stimme: „Trostlos? Ich halte nichts davon. Ich
gebe Trost.“ „Wer
bist du?“, fragt Hannes. „Ich
bin die Z e i t . Nichts bleibt, wie es ist, nicht das Gute, das Schöne, nicht
das Schlimme, das Hässliche, nicht das Verlassen und das Verlassenwerden –
das
ist mein Trost.
Mein
Trost sei dir Grund. Darauf mach` deine Schritte. Ich bin mit dir.“
„Du
liebe Zeit! Ich muss wohl bekifft sein!“, möchte Hannes antworten, aber die Frau
ist im Nebel verschwunden.
Nun
irrt er durch die Straßen. Vor den Lokalen sitzen Leute unter Heizsonnen an
kleinen und größeren Tischen, diskutieren und erzählen einander.
Der
Kiez. Auch in dieser Nacht zelebriert er sein Eigenleben, sein Credo der kleinen
und der großen Alltagssorgen.
´Nichts bleibt, wie es ist, das ist mein Trost`, hat sie gesagt, denkt Hannes
und er schlürft seinen dampfenden Espresso.
Dann
steht er auf, geht durch den Novembernebel und fühlt Boden unter seinen Füßen.
Uli
und Susanne sitzen beim Frühstück.
Sobald Kaffee und Brötchen duften, lässt Susanne ihre Gedanken frei
vagabundieren.
Uli
hält nichts von solchen Denkpausen. Er liest die Zeitung.
„Was
verstehst du unter `verworfener Tradition ́?“, fragt er, ohne vom Blatt
aufzusehen.
Susanne: „Wie kommst du jetzt darauf ? Und wo steht das?“
Uli:
„Es steht nirgends, ist mir nur so eingefallen.“ „Mir
fällt dazu ́ne Menge ein“, sagt Susanne, „Traditionen, die man verwerfen,
verdammen müsste. Die Burka, die öffentlichen Hinrichtungen bei den Saudis nach
dem Freitagsgebet, das Töten neugeborener Mädchen und Genitalverstümmelung in
anderen Kulturen, die Witwen-Selbstverbrennung teilweise noch in Indien...“
Uli:
„Du siehst, keine Tradition ohne Rituale, Rituale als Gehirnwäsche.“
Uli
liest und kaut. „Worauf
willst du jetzt hinaus?“, fragt Susanne, „probier mal diesen Käse“.
Uli
legt die Zeitung beiseite. „Worauf
ich hinaus will? Du redest von der Burka als traditioneller Zwangsjacke. Ich
kenne andere Zwangsjacken und es geht hier um unsere eigenen Traditionen.“
Susanne: „Und die wären?“
Uli:
„Seit über zehn Jahren der allmonatliche Sonntagnachmittagskaffee bei deinen
Eltern.
Der
Kuchenboden ist immer zu dick und zu trocken und der Belag zu dünn. Am Tisch
herrscht Maulkorberlass für politische Themen, man fachsimpelt über Hausmusik.
Ein Scheißgeschwätz, denn in meinem Elternhaus gab es keine Hausmusik. Bedenke
auch dein unterwürfiges Verhalten,wenn la Patronne die Tafel aufhebt und du mit
deiner Schwester und der Schwägerin nichts wie hinterhermarschierst zum
Geschirrabwasch. Während ich mit deinen Brüdern am Tisch zurückbleibe, schenkt
uns dein Vater dieses einzige, winzige Gläschen Obstler ein. Es darf diskutiert
werden, aber die Nazi- Zeit muss draußen bleiben. Denkverbot, Maulkorberlass –
das wollte ich dir mal sagen.“
Susanne: „Jetzt hast du mir das Frühstück endgültig verdorben. Dir fehlt der
Respekt. Schon die Bibel sagt: Du sollst Vater und Mutter ehren.“
Uli:
„Ist doch alles beliebig auslegbar. Dass ich darüber mit dir nicht mehr
diskutiere – wie lang ist das eigentlich her? Ach so! Meine Zigaretten sind
alle. Ich geh ́ mal schnell zum Automaten.“
Uli
verlässt den Frühstückstisch. Zu Susanne ist er nie wieder zurückgekehrt.
von
katzenhaar
ist
meine haut
von
katzenhaar
wenn
ich dich suche
stromauf stromab
schleift hin
mein
vagabundenrock
schleift hin
der
grüne tang
vom
fluss
wenn
ich dich suche
in
den bäumen
wenn
ich dich finde
schneeverweht
am
fels
schleift hin
mein
vagabundenrock
schleift hin
der
grüne tang
vom
fluss
Ich
bin
Topfpflanze
Meine
Wurzeln
hungern
auf
dem Grund
des
Topfes
Ich
bin
transportierbar
pflegeleicht
funktional
bis
in die Blüte
Du
hast Erde
so
hast du auch stets
deinen Grund
verbannt
hinter das versteck
verbannt
ins
runde schweigen
der
null
gläsern
ist
das schweigen
der
null
da
wird keiner
dich
suchen
da
gehst du
zweibeinig
unter
zweibeinigen zitaten
gehst
einkaufen
tust
deine arbeit
und
redest
hinter einer wand
aus
glas
Eine
Konferenz war anberaumt.
Es
ging darum, zu diskutieren, wem wohl das größte Verdienst zukomme am Fortschritt
der Geschichte, man könnte auch sagen, der großen und der kleineren Geschichten
dieser Welt.
Viele
waren geladen, nicht alle waren gekommen.
Angerückt waren die Wissenschaften, allesamt bebrillt, im Blick das Suchen nach
der Wahrheit. Dieses Bestreben wollten sie geschlossen vertreten.
Gleich bunten Vögeln tummelten sich die Künste, uneinig in der Frage, was sie
nun anstrebten - und wenn es denn die Wahrheit wäre, was letzten Endes die
Wahrheit sei.
Auf
dem Podest erschien die Sprache. Stolz schlug sie ihr Pfauenrad, mit Augen
unzählig und buntschillernd, jedes Auge ein Spiegel, jedes Auge die Pose ihrer
Selbstdarstellung.
Wie
gesagt, es ging darum, zu diskutieren, wer wohl den größten Anteil habe am
Fortschritt der Geschichte dieser Welt.
…
„Natürlich
das Denken!“, meinten die Wissenschaften.
…
„wenn
ja, dann doch das Sich-zusammen-denken“, entgegnete die Sprache, „...das
Miteinander-denken, -sprechen, denn nur mit Sprache kann das Denken Schritte
machen!“
Nun
räusperte sich die Philosophie: „Wohl stellt die Sprache Zeichen zur Verfügung,
die Formen und das rechte Maß. Auch Philosophen denken, doch fragen sie nach dem
Woher, Wohin, Warum.“
Die
Künste hatten zugehört, doch nun begannen sie zu klagen: „Es fällt uns schwer,
in Sprache auszudrücken, was wir fühlen.
Sprache ist Fessel und Grenze. Wenn das Bedürfnis zu reden gestillt ist, dann
betreten wir die Räume der Musik, der Bilder und der Poesie. So sind wir stets
bemüht, das Nicht-sagbare zu ergründen. Unsere Rede hört auf das Schweigen.“
Doch
die Sprache schlug ihr Pfauenrad: „Das Schweigen – ja! Nur – ich bin da, um es
zu brechen!
Am
Anfang war das Wort!“
Nun
kam ein Wesen auf die Bühne, grau gewandet. „Erlauchte
Werte, Wissenschaften, Sprache, Künste! Euer Ziel war stets Erfolg, nicht selten
Geld und Ruhm. Ich bin der Sprecher der Moral und Sitte. Nie werden wir
versäumen, euch zu hinterfragen. Wir sind dem Guten untertan!“
Die
Wissenschaften riefen: „Wart ihr nicht eher euren Herrschern untertan?!
Und
jeder Herrscher hatte seinen eigenen Moralapostel.
Drum
sind wir gegen eure Kontrolle. Wir stimmen für den Dialog.“
Die
Sprache schlug dazu ihr Pfauenrad, mit Augen unzählig und buntschillernd, jedes
einzelne die Pose ihrer Selbstdarstellung.
Nach
langem Hin und Her begann die Konferenz sich aufzulösen.
Niemand hatte die Gestalt bemerkt, die von Anfang an dabeigewesen war. Sie saß
noch stumm und wachsam in der Ecke, ihr Blick versteinert, von echsenhafter
Starre.
Und
doch war viel darin zu lesen: Grausamkeit und Milde, Mut und Feigheit.
Oder
war es namenlose Trauer?
Niemand hatte die Gestalt bemerkt, niemand hatte sich auf sie besonnen.
Es
war das Schweigen.
Verliebt in die Zwergenprinzessin
wollte er dennoch
kein
Oberzwerg sein
denn
wer ist schon Goethe
würden die Oberzwerge schreien
oder
wir
Zwerge waren schon immer
anders gescheit
wir
achten das Gesetz der Zwerge
hier
Puck und Butz
hier
Hinz und Kunz
hier
Petz und Bibabutzemann
Heil
Alberich
Heil
Oberon
Wir
werden uns nicht das Maul verbrennen
Das
Maß ist uns Gesetz
Darüber lässt sich nicht hinauswachsen
Wir
haben keine Träume zum Licht
Wir
harren gebückt unter Tage
und
holen das Erz das Gold und das Silber
und
huldigen dem Zwergenkönig
ihm
dienen wir
ihm
dient die Zwergenkönigin
Wir
harren versteinert
zur
Mahnung der Wichte
in
euren Gärten
Hier
Puck und Butz
hier
Petz und Bibabutzemann
Heil
Alberich
Heil
Oberon
Wir
werden uns nicht das Maul verbrennen
Das
Zwergenmaß ist uns Gesetz
Am
Ende entkam der Bursche
dem
Land der Zwerge
und
schrieb seine Geschichte
Ist
es der magische Ort, der mir die Freiheit gibt, zu gehen, zurückzukommen oder zu
bleiben?
Ist
es nun an diesem Tag der magische Ort, der mich festhält wie die vielarmige
Krake, surreal wechselhaft und real in der
Gestalt des grinsenden Virus, erhaben gegen die Macht von Staat und Kirche,
klüger als die Wissenschaft?
So
hält es die Welt niedergedrückt unter einer Glocke aus undurchdringbarem Glas.
Darunter gehen wir die vorgeschriebenen Pfade mit Atemschutzmasken.
Und
das Virus lehrt uns zu sagen „wir“, gleichwohl ob in Peking, London, Rom,
Madrid, Paris, Moskau oder Berlin, oder ob zuhause in unseren Heimatdörfern.
Zu
Tausenden sind sie eingesperrt, die Anderen, eingepfercht in ihren Wohnungen, in
Pflegeheimen oder Intensivstationen.
Die
Angst vor der Quarantäne geht um.
Der
Frühlingshimmel ist märchenblau, die Weiden hängen ihre grünen Schleier in die
Spree, die Vögel zwitschern, doch die Straßen und Plätze sind stumm und die
Tische und Bänke vor den Kiezkneipen sind menschenleer.
Nur
die Medienleinwand flimmert hektisch durch die Wohnungen in permanenter
Geschwätzigkeit, teils beschwichtigend, teils angstgetrieben.
Dennoch hänge ich am Netz, dem worldwide web, hänge an ihm wie an einer Droge.
Nun
stehe ich an der Glaswand der Glocke. Das Virus hat sie dem Erdball
übergestülpt, hat damit seinen Herrschaftsbereich markiert und sein Name heißt
Pandemie.
Ich
stehe auf der surrealen Seite unserer Gegenwart , sehe hindurch und hinüber in
eine real gewesene Vergangenheit.
Eine
Frau taucht auf. Es ist Annerose M., meine Romanfigur, und sie winkt mir zu.
Annerose ist auf der Suche nach einem neuen Zuhause.
Nun
beginnt sie zu erzählen.
„...Wieder
bin ich umgezogen.
Die
Stadt atmet ihr lebensmutig-quirliges Willkommen. Sie atmet es aus allen Poren,
hebt mich auf die Schwingen ihrer ungestümen Luft, die von der Taiga kommt.
Gibt
es eine Liebe zwischen Mensch und Stadt?
Ich
bin Annerose aus dem Süden.
Im
Frühjahr bringt der Heimatfluss das Gletscherwasser aus den Alpen.
Bei
Föhn steht klar am Horizont die Kulisse der Berge. ‚Ich
kenne viele Abschiede‘, sage ich zu dieser Stadt, denke es vielmehr zu ihr hin,
wenn ich über den Kudamm streune. ‚Die
kenn ick ooch‘, höre ich sie durch ihr lautes Getriebe, ‚meine
Menschen erzählen dir wat von Abschieden! Da biste nischt alleene.‘
Am
Brandenburger Tor demonstrieren Araber, darunter ihre Frauen im schwarzen
Tschador.
Hinterm Bahnhof Zoo stehen Obdachlose für ein warmes Essen an. An der Mauer der
S-Bahn-Unterführung und unter Brücken sitzen sie inmitten ihrer Hunde und
hantieren mit Schlafsäcken und Essgeschirr. Vor ihnen steht der leere
Joghurtbecher für die Almosen.
Auf
den Bänken am Alexanderplatz tummeln sich Teenies zum Komasaufen.
Überall herumliegende Bierflaschen. Zwei Jungen stehen gegeneinander wie
Kampfhähne. Die Herumsitzenden finden das krass. Ein Mädchen steht weinend
abseits. Der eine Junge holt mit der Bierflasche zum Schlag aus.
Ich
renne nach einem Polizisten. Der raucht seine Zigarette. ‚Ja
wat meinen Sie denn, wat ick da jeden Abend zu tun hätte?! Sie sind wohl nischt
von hier?‘
Ich
sitze in der U-Bahn. Ein junger Mann döst vor sich hin. Dann platzen laute
Rap-Schreie aus seiner Jackentasche. Er zerrt das Handy heraus. ‚Hey
Mann, Mann!! Isch hab nur drei Stunden gepennt!‘
An
der nächsten Haltestelle steigt eine Gruppe Lateinamerikaner zu, walzt durch die
Gänge mit ohrenbetäubender Musik aus den Anden und mit ‚Guantanamera...
yo
soy un hombre sincero...‘
Draußen steigt ein Tross Models aus der Bahn. Es ist Fashion-Woche in Berlin.
Sie
staksen linkisch in Stiefeletten, den Blick ins Nichts gerichtet.
Alle
über einsachtzig, behangen mit schwerem Schal-Mantel-Gewirre, aber es reicht nur
knapp bis unter den Po und gibt die langen Beine frei.
Die
Rosenthaler Straße herunter kommt mir ein junger Mann entgegen in
Schlafanzughosen und mit Badetuchturban in leuchtendem Blau.
Ich
schaue hin. Und ich mache mir Gedanken über das Hin- und das Wegschauen.
In
dieser Stadt scheint das Wegschauen zu verbinden.
Du
schaust nicht hin, wenn Hautfarben wechseln zu Bronze oder Kaffeebraun oder ins
Schwarz der Elfenbeinküste, wenn Kopftuchfrauen mit Kinderwagen dich im Pulk zur
Seite schieben, wenn Gesprächsfetzen fremder Sprachen, fremder Dialekte mit dir
Schritt halten oder schnell an dir vorüberhuschen. Dein Blick geht solidarisch
ins Weite.
Ich
finde keinen Schluss für mein Tagebuch.
Ein
Schluss soll sich nicht weise aufspielen. Und ich sage es zur Stadt. Also gehe
ich hoffnungsvoll inmitten ihrer stolzen Bäume.
Bald
werden sie wieder grün.“
Das
erzählt mir Annerose durch diese Glaswand aus dem jenseitigen Berlin,
aus
ihrem neuen Zuhausen.
In
meiner Angstkammer
verberge ich
Nichtgesagtes
Nichtgeschriebenes
Nichtgetanes
Vertagtes
Versäumtes
Verlogenes
In
meiner Angstkammer
verberge ich
die
Angst
Alle
Jahre wieder
Kyrie
eleison
Krippenchristkindkreuzes
videoundbarbiepuppe
Gloria in excelsis
REPRO
Sanctus Sanctus
Dominus Deus
Kyrie
eleison
Allüberall
mit
Sang und Schall
VERPUPPUNG
Sie
ist auf Jobsuche. In ihrem Geldbeutel sind noch zehn Euro. Die müssen reichen
bis zum Monatsende.
Beim
Discounter am Alten Bahnhof, wo teils die Waren in Kartons aufeinandergestapelt
sind, gibt es Haferflocken im Sonderangebot. Sie kocht sie mit Wasser und etwas
Salz zu einem dicken Brei, fast so dick wie Brotteig. Auf den Wiesen hatte sie
Zwetschgen eingesammelt und damit hastig ihren Rucksack gefüllt aus Angst,
jemand könnte sie beobachten. Nun kocht sie Zwetschgenmus, isst es zusammen mit
dem Haferbrei ganz andächtig auf ihrem Küchenstuhl und denkt: Eigentlich ein
Festessen.
Die
Haferflocken sind aufgebraucht. So geht sie wieder zum Discounter am alten
Bahnhof.
Dicht
vor ihr schiebt ein Mann den Einkaufswagen. Sein stumpfes, verfilztes Haar fällt
schulterlang über das fleckige T-Shirt. Ausgeleiert hängt es über den zu weiten
Jeans. Typ Loser, denkt sie.
Am
Wühltisch sieht er sich lange einen Jogging-Anzug an, legt ihn wieder zurück.
Dann schichtet er sorgfältig ein paar Packungen Graubrotschnitten vom
Sonderangebot in den Wagen.
Bei
den Getränken tut er einige Flaschen Bier hinzu.
Aha!
denkt sie, ein Saufbruder. Geld spielt wohl hier keine Rolle!
An
der Kasse lässt er den zwei laut debattierenden Afrikanern und der Muslima mit
dem quengelnden Baby den Vortritt.
Dann
legt er seine Waren aufs Förderband. Die Kassiererin sagt ihm die Endsumme.
Er
kramt in seinen Hosentaschen nach Geld.
Das
Baby hat aufgehört zu quengeln, tatscht in den Bart des Mannes.
Er
lächelt – und während er zahlt, lächelt er noch immer.
Draußen erwartet ihn ein Pulk Obdachloser, einige mit Rucksäcken, einige mit
Plastiktüten.
Er
beginnt, das Brot und die Bierflaschen unter ihnen zu verteilen.
Eine
Frau ist dabei. Sie scheint zu ihm zu gehören.
Man
hört ihren Namen.
Es
ist Magdalena.
Ina
und Eliane – keine lesbische Liaison und daher für Nachbarn nicht von Interesse.
Ina
nahm Eliane zu sich nach dem Tod von Marc.
Eliane ist schweigsam.
So
ist ihr nicht gegeben, eine Sache geschwätzig zu kommentieren,
Ina
würde sagen, Sätze strategisch anzuwenden, „denn – so machen es doch alle, die
Politiker, die Wissenschaftler und die Verkünder des rechten Glaubens.“ „Auch
ich“, sagt Ina, „liebe das hurenhafte Pfauengefieder der Sprache.
Doch
– sag mir, Eliane – das Geheimnis deines Schweigens.“
Eliane bleibt stumm und hört zu.
Dann
plötzlich sieht Ina ganz deutlich: Eliane hat Durst.
So
geht Ina in die Küche, holt die Gießkanne, füllt sie mit Wasser und gibt Eliane
zu trinken.
Sieh
doch
die
Mauer
graues Wesen
alt
wie die Welt
aus
einem Spalt
wächst grüner Efeu
die
Mauer hat
geboren
ging
lange schwanger
mit
dem
Geheimnis
ganz
schweigender Stein
sehnte sich
nach
dem Augenblick
dass
der Wind sie küsse
zurück blieb
ein
Samenkorn
das
wuchs
Es
begann mit einem Haselnuss-Stecken.
Großvater hatte ihn im Wald geholt und sein Platz war die Lücke zwischen
Küchenschrank und Wand.
Ich
bin drei Jahre alt und schleudere im Übermut meine Puppe unter den Küchenherd.
Sie scheint mir für immer verloren.
Großvater holt den Stecken, wir legen uns beide flach auf den Boden und während
er nach meiner Puppe angelt, halte ich den Atem an.
Da
plötzlich liegt die Puppe - weiß eingestaubt - vor meiner Nase.
"Ja
siehst du! Geht doch!", sagt Großvater.
Bei
meinem Vater geht immer eher etwas nicht oder es geht zumindest nicht so.
Eines
Tages will er Muggl, meinen Hasen, schlachten für den Sonntagsbraten.
Muggl
soll davor noch ein bisschen fröhlich im Gehege herumhopsen.
"Du
stellst dich jetzt da hin und passt mir auf den Hasen auf, dass er nicht
abhaut!", sagt Vater.
Kaum
ist er im Haus verschwunden, öffne ich das Gatter. Muggl schlägt einen Haken und
sucht mit weiten Sprüngen die Freiheit.
Er
kommt nie wieder zurück.
"Geht
doch!", sage ich mir und weiß Großvater auf meiner Seite auch noch, als Vater
mich schlägt und ich dabei den Küchenboden einnässe.
“Der
Vikar Müller ist ein so netter junger Mann!", sagt meine Mutter.
Ich
bin siebzehn. "Find ich nicht!", sage ich, "auf seinem Motorroller sieht er aus
wie draufgeschissen!"
Dennoch ist Herr Müller bei meinen Eltern zum Kaffee eingeladen.
Ich
rette mich blitzschnell hinauf in den Schuppen, verstecke mich hinter einer
Holzbeige und bin somit verschollen.
“Geht
doch!" - das waren Großvaters Worte und sie haben sich wohl tief in mir
eingenistet, um sich energisch einzumischen, wenn ich vor einer Entscheidung
stehen sollte.
Fragt
mich nicht, wie oft sie mich lehrten, sie wollten keine märchenhaften
Glücksbringer sein!
Stattdessen aber machten sie mich neugierig auf die Philosophie. Unter ihren
tausend Facetten interessierte mich besonders das Für und Wider des Handelns.
"Geht
doch!" - das ist wohl die Maxime des Handelns. "Stimmt!" würde Platon sagen,
unser über zweitausend Jahre alter Großvater der Europäischen Aufklärung, "aber
es ist die Idee, die etwas zum Gehen bringt. Und am Anfang stand die Idee."
Ich
bin auf dem Weg zur Demonstration "Friday for future" - der weltweite Streik der
Schüler für die Zukunft der Erde.
Über
den Platz am Brandenburger Tor tönt der Song der Beatles "Let it be...“
Paul
McCartney`s Mutter starb, als er erst vierzehn war.
Sie
waren arm, die Mutter arbeitete hart, aber immer hatte sie tröstende Worte für
den kleinen Paul.
Jahre
später trifft ihn wieder ein Schicksalsschlag. Dann erscheint ihm im Traum die
Mutter.
So
heißt es am Schluss des Songs: "..mother Mary comes to me speaking words of
wisdom: let it be. "
Immer, wenn du unglücklich bist, mein Junge, sollst du dir sagen: "Geht doch!"
Zigtausende Demonstranten brechen sich Bahn nach allen Seiten und scheinen die
Stadt zu überfluten.
Die
Jugend meldet sich zurück.
Und
ich denke: Da war doch mal was...
"Bleibt dran!", rufe ich einer Gruppe von Schülern zu.
Da
ist mir, als sähe die Stadt selbst auf die Menge, leidgeprüft, kämpferisch,
naturverbunden.
Ihr
graues Haar ist zerzaust vom Wind, der aus der Taiga kommt.
So
lächelt sie uns zu:
"Ich
bin an eurer Seite.
Nu
kiekt nischt so!
Geht
doch ! "
Auf
dem weg
zu
dir
auf
dem weg
zu
mir
auf
schmalem grat
in
der tiefe
das
einhorn
winkt
herauf
aus
dem abgrund
über
den wir gehen
auf
schmalem grat
Ich
bin in den 90er Jahren des vorigen Jahrhunderts.
Die
Straßenpassanten tragen noch keine Handys und keine Kopfhörer.
Viele
sind zu Fuß von A nach B unterwegs, um einfach an einen Ort zu gelangen.
Meine
Zeitreise ging an einen Ort der Erinnerung.
Auf
Plakaten lese ich: Die Baden-Württembergischen Literaturtage sind in
Vorbereitung, diesmal zu Ehren von Hermann Hesse.
Sie
feiern auch den 120. Geburtstag des großen Sohnes der Stadt.
Obgleich Literaturnobelpreisträger, war er zu Lebzeiten ungeliebt als der
„Prophet im eigenen Land“, als der Taugenichts und Rebell gegen die Knute des
schwäbischen Pietismus.
So
verließ er in jungen Jahren jede Schule und auch seine Lehre und schließlich für
immer sein Schwarzwald-Heimatstädtchen.
Spitzgiebelige Fachwerkhäuser stehen mit der ehrwürdigen Stiftskirche um den
alten Brunnen. Enge Gässchen und Stufen führen hinauf zu den höher gelegenen
Fachwerkhäusern. Dahinter türmen sich schwarze, bewaldete Hügel auf.
Auf
dem Marktplatz höre ich gemächliches Klopfen und Hämmern. Bücherstände und Buden
werden aufgebaut.
Zwei
junge Autoren sitzen vor dem Lokal von Giuseppe und schlürfen ihren Cappuccino.
Sie kennen einander seit der Schulzeit, nennen sich gegenseitig ´Schniege´ und
´Schlumpi`.
Schniege zu Schlumpi: „Deine Hippie-Mähne, Schlumpi, ist doch inzwischen
megaout. Wir sind nicht mehr in den Siebzigern, born to be wild – und so.
Und
dein megaweiter Strickpulli erinnert mich an die Schaustricker der ersten Grünen
im Bundestag.
Sag,
Schlumpi, warum beteiligst du dich nicht mit einem Bücherstand?
Schlumpi: Ich hab mich nicht angemeldet. Mit deinem Bestseller kann ich nicht
konkurrieren. Hab nun mal kein Talent für Krimis. Mir fehlt auch das
Marketing-Knowhow. Wie hast du es geschafft? Doch wohl nicht nur mit deiner
geschniegelten Frisur und deinen Bügelfalten?
Schniege: Du brauchst connections auf Teufel komm raus, Beziehungen, sei es zum
Teufel selber, der reicht dich nach oben weiter bis in die Medien und
Fernseh-Talkshows. Das ist schon mal die halbe Miete. Du präsentierst dich und
nicht deinen Text. Die Masse will kein intellektuelles Gesäuere über des Lebens
Widersprüche, sie will nicht das Hohe Lied der Selbstverwirklichung, mein lieber
Schlumpi. Der Weg ist ihr zu lang und zu steinig. Die Masse will Unterhaltung.
Neue
Empfindsamkeit – das hatten wir doch alles schon.
Doch
die Verhältnisse – die sind nicht so, sagte schon Bert Brecht.
Schlumpi: Danke, Schniege, so bist du immer noch mein Freund. Trotz BWL-Studium
hast du auch die großen Literaten gepackt.
Schniege: Gepackt aber auch die Gelegenheit, ans Geld zu kommen.
Die
Klassiker benutze ich nur, um sie zu zitieren. Das macht Mords-Eindruck.
Sag,
Schlumpi, kokst du noch gegen deine Lahmarschigkeit?
Nun
geh endlich rein zu Giuseppe ans Telefon und ruf die Verwaltung der
Literaturtage an. Hier ist die Nummer.
Schlumpi erhebt sich umständlich vom Stuhl.
Giuseppe summt ´avanti popolo...avanti popolo…` und reicht ihm fröhlich das
Telefon.
Schlumpi: Hallo! ist hier die Verwaltung der Literaturtage?
Stimme: Jo, genau, des sen mir!
Schlumpi: Ich wollte fragen, ob noch ein Platz frei wäre für einen Buchstand.
Stimme: Em Prinzip jo...wie isch denn dr Name ihres Verlags?
Wie??
Huberle-Verlag? Der Name sagt mir garnix.
Jetzt
halt a mole...Ihr wievieltes Buch isch es denn?
Schlumpi: Mein erstes.
Stimme: Jo, was meinet se denn, wieviele Autoren mit ihrem allererschte Buch bei
ons gern en Schtand hättet?! Do wär für unsere bekannte Autoren bald koi Platz
mehr geschweige denn für onsere Beschtseller.
Ach
so!...Wie heißet se denn übrigens?
Schlumpi sagt:
Ich
heiße Hermann Hesse.
geh
schneller
überhole
software
und
deine reaktion
die
zu spät käme
überhole
das
überholen
geh
schneller
nach
nirgendwo
made
in silicon valley
da
weisen silberne spinnen
dir
deine einbahnstraße
hinter die zeit
da
ist der schilf
aus
metall
da
dümpelt
online
dein
kahn
nach
nirgendwo
die
zeit ist gekommen
eine
sänfte aus dollarmilliarden
dem
volk geraubt
trägt
mister president an die macht
so
kann er sagen
yes
we can
und
oh we
can be heroes not just for one day
we
can be heroes
forever
was
kümmern mich eurokrise
windräder atomkraftwerke
menschen die von müllhalden essen
was
kümmern mich
dschihad und gottesstaat
unsere reihen sind fest geschlossen
im
spy center von utah
feiern wir unseren traum
of a
permanent solution
dort
hält big brother
eure
digitalen ketten in seiner faust
forever
dort
überwacht und hütet er
eure
träume
eure
sehnsucht nach dem du
wer
unter uns zieht den stecker
wirft
rechner robot telefon und handy
auf
den müll und flüchtet
in
die wälder zum jagen
in
die höhlen
zum
hüten des feuers
die
zeit läuft nicht rückwärts
w a s
t u n
bevor
wir alle rufen
yes
we can
heil
mister president
dich
grüßt dein volk
der
world wide web society
Es
ist ein klirrend kalter Dezemberabend vor der Jahrtausendwende.
Mühsam rutscht mein Auto durch die Schneedecke den Bergpfad hinauf.
Oben
angekommen, sehe ich am Nachthimmel eine Uhr in der Größe des Mondes.
Ihre
leicht verschwommenen römischen Ziffern zeigen auf zehn Minuten vor halb zwei.
Auf
meiner Autouhr ist es genau zehn Uhr abends.
Nein,
es ist kein Traum! sagt mir der Geruch der frischen Lauchzwiebeln.
Er
kommt vom Rücksitz aus meinem Einkaufskorb.
Aber
am Himmel steht die Uhr.
Ach
so! Jahrtausendwende!
Ein
besonderer Werbegag – nur – für welche Firma und für welches Produkt?
Zu
Hause angekommen, ärgert mich der Schneeberg vor der Garage. Ich vergesse die
Uhr.
Das
war gestern. Doch wieder steht die Uhr am Nachthimmel.
Auf
dem Feldweg kommt mir ein junges Paar entgegen. Ich fasse Mut und frage: „Bitte,
entschuldigen Sie, wissen Sie, was das für ein Uhr ist da oben?“
Der
junge Mann: „Wie – was?“
Die
junge Frau beschwichtigend: „Ach so...ja, ja! Da ist eine Uhr.“
Ich:
„Ja schon! Aber woher kommt sie?“
Die
Frau zum Mann: „Weißt du es?“
Der
Mann zieht die Frau energisch am Ärmel und klopft sich dreimal mit dem Finger an
die Stirn.
Mit
schnellem Schritt gehen sie untergehakt weiter.
Zu
Hause knipse ich die Tagesschau an. Als Schlusslicht der Nachrichten kommt die
Wiedergabe der Prophezeihung einer Sekte, die Welt gehe unter pünktlich zur
Jahrtausendwende.
Nur
keine Rede von der Uhr, etwa als mögliches Symbol.
Doch
warum zeigt sie dann zehn Minuten vor halb zwei und nicht fünf Minuten vor
zwölf?
Außerdem bin ich nicht abergläubisch.
Ich
schaue zum Fenster hinaus an den Nachthimmel. In einigem Abstand von der Uhr
steht der Mond. Jetzt umgibt ihn deutlich ein blassgelber Ring.
Ich
hole meine Brille aus der Schublade. Vor ein paar Wochen habe ich sie gekauft
für längere Autofahrten.
Durch
die Brille sehe ich zum Himmel. Da steht der Mond nun ganz ohne Ring und die Uhr
ist verschwunden, weggezaubert.
Dennoch: Meine Uhr begleitet mich auch heute, wenn ich ohne Brille und mit
bloßen Augen zum Nachthimmel hinaufsehe.
So
kündet sie von Wahrheiten aus längst vergangenen Zeiten, wo es noch keine
Brillen gab.
Neue
Bedrohung
altes
Feindbild
neue
Waffen
neue
Kriege
Über
Auschwitz
und
die verbrannte Erde des Ostens
und
das mit Napalm verseuchte Vietnam
über
Hiroshima und Nagasaki
über
Syrien, Irak und Afghanistan
zieht
sich die Blutspur
eurer
Kreuzzüge
nach
der Gleichung eurer Legitimation
Die
Juden die Linken die Nigger
die
Schwulen der Islam
doch
Revolutionen Gentlemen
überlasst ihr dem Volk
und
Scheich und Mullah eure Waffen
Allah-hu Akhbar – Remember the Prince
Und
wieder liefert euch
die
Geschichte
die
Krise frei Haus
Neue
Bedrohung
altes
Feindbild
neue
Waffen
neue
Kriege
Geschichten von früher...
herausgegebenim Selbstverlag
Dezember 2020
42 Geschichten und Gedichte
Inhalt
Lied der ersten Lebensräume 12
Der Griff nach den Sternen 25
Geburtstag – eine Zeitreise 67
Die Uhr – eine wahre
Geschichte 73
Es
war einmal in den dunkelsten Tiefen der Vergangenheit.
Fragt
nicht nach einem Ort, fragt nicht nach Jahr und Tag, denn Raum und Zeit, die gab
es noch nicht.
Es
gab weder Materie noch Antimaterie, noch das Atom, noch Quarks, noch Higgs noch
Strings und vieles mehr. Und es gab auch kein Schwarzes Loch.
Indessen existierten da zwei Wesen, die standen einander gegenüber, ein jedes
ausgestattet mit unendlicher Macht.
Doch
fragt mich nicht, wer sie geschaffen hat.
Das
eine Wesen nannte sich DAS ETWAS, das andere DAS NICHTS.
Das
Etwas hatte Flügel und trug einen Mantel aus leuchtenden Farben, das Nichts
einen schneeweißen, weichen Pelz.
Du
bist mein Intimfeind, sagte das Etwas freundlich zum Nichts.
Würdest du garnicht existieren, ja dann wärst du mein Todfeind. Und mit dem Tod
mag ich nicht reden.
Aber
schau her, mein wertes Nichts, nun stehen wir herum und jeder ist für sich
allein. Wir könnten zusammen etwas bewegen. Ich brauche dich, brauche, dass du
mir widersprichst. Ich brauche dein Schweigen.
Warum
antwortest du nicht?
Sollte ich mir denn ein Etwas wünschen, ein Etwas wie einen Zwilling?
Bewahre mich vor diesem Urteil. Bewahre mich vor dieser Langeweile!
Warum
rührst du dich nicht? Bist du etwa doch der Tod?
Da
plötzlich öffnete das Nichts ärgerlich ein Auge. Es hatte geduldig zugehört.
Sag
nicht, ich sei der Tod! Ich existiere. Doch ich existiere als das Nichts und
meine Macht reicht in die Ewigkeit!
Dennoch, wertes Etwas, schmeichelst du mir.
Nanntest du mich nicht eben deinen Intimfeind?
Das
klingt nach Logik und nach ewiger Wahrheit.
Du
überzeugst. So lass mich dein Begleiter werden zu meinen Bedingungen.
Ich
will dein ewiger Widerspruch sein.
Ich
will mich dir in den Weg stellen, wenn du überquillst vor Schaffensdrang, vor
Glück und Freude.
Ich
will dich hinter deine Grenzen weisen.
Ich
bin dein Vergehen und dein Sterben.
Aber
vergiss nicht, nur so kannst du wieder auferstehen.
Das
Etwas schlug ungeduldig die Flügel. Es ahnte den Zauber des Aufbruchs. Jedoch
das Nichts fuhr fort:
Wir
werden Wesen schaffen, die uns nicht gönnen, im Widerspruch ein Paar zu sein.
Mich,
das Nichts, werden sie das Böse nennen, den Tod oder den Teufel.
Sie
werden nicht aufhören, mich zu verdammen.
Aber
einmal, in einer helleren Zukunft, werden wir Wesen schaffen von unserem Geist .
Diese
werden uns zusammendenken, dich als das Etwas und mich als deinen Intimfeind,
das Nichts, und uns beide als ein ewiges Paar.
Das
Etwas schlug die Flügel.
Es
fühlte sich glücklich, wippte und tänzelte verführerisch.
Drum,
mein Intimfeind, lass uns zusammen aufbrechen!
Lass
uns lebendige Welten schaffen!
Lass
uns streiten und lass uns kämpfen!
Wir
haben keine Wahl.
Warten worauf
und
doch
ein
Gefäß umschließt
das
Nichts
Nichts geschieht
im
Gefäß des Nichts
außer
dem Hand in Hand
von
Gefäß und Nichts
ziellos treiben
auf
intervallen
zwischen den inseln
unserer highlights
wachsen sehen
aus
intervallen
brücken mit schwingen
von
mir zu dir
mein
festland
ist
fern
da
stehen stolze brücken
mit
füßen aus beton
Liebe
Tante Lene,
seit
einigen Jahren bist du tot. Ich hab` dich nicht vergessen.
Wo
bist du nun?
Mein
Brief soll den Weg zu dir finden.
Es
geht darin um mein Geheimnis.
Doch
- ihr Toten schweigt.
Ich
suche nach Worten für die Zeit, die du mit uns gewesen bist.
Du
warst das jüngste der neun Geschwister meiner Mutter, zierlich, klein und
zerbrechlich.
In
den Kriegs- und Nachkriegsjahren hast du für die Leute im Dorf Kleider genäht
aus karierten Bettbezügen und Vorhangstoffen. Deine Nähmaschine rasselte den
ganzen Tag in der guten Stube.
Eines
Tages warst du schwanger von Onkel Fritz. Nach langer Russland-Gefangenschaft
hat er dich geheiratet und zu sich auf den Hof geholt.
Da
waren noch die beiden Schwestern von Onkel Fritz und seine alte Mutter.
Immer
wieder hörtest du von den Schwestern, du seist ohne jede Mitgift gekommen. In
der Küche hattest du nichts zu bestimmen. Dein Platz war im Stall und auf den
Feldern. Dort musstest du das Heu mit der Gabel wenden und das Getreide kniend
zu Garben binden.
So
wurde dein Rücken mit den Jahren krumm, du wurdest immer kleiner und musstest
selbst zu deinen halbwüchsigen Kindern aufschauen.
Im
Stall gab es eine Kuh, die ließ sich nur von dir melken. Den Schwestern haute
sie ständig mit dem Schwanz ins Gesicht.
Tante
Lene, immer noch trage ich die Schuld mit mir herum, dass ich dich nicht oft
genug besucht habe. Nein, ich kann es nicht damit entschuldigen, dass ich in der
Fremde war, wie du es immer nanntest.
Weißt
du noch, Tante Lene...
Bei
meinem Besuch zeigtest du mir deine ganze Menagerie von den Ställen bis zum
Hühnerhof und du gabst mir frische Eier und Äpfel.
Als
ich mit dir allein hinterm Schuppen stand und dich fragte, wie es jetzt so mit
Deinem Mann und seinen Schwestern sei, da sagtest du leise:
Wenn
sie böse sind, dann gehe ich in den Wald. Da gibt es einen Jäger-Hochsitz. Ich
klettere die Leiter hinauf und setze mich auf die Bank. Dann singe ich das Lied
` So nimm denn meine Hände' und schon geht`s wieder besser.
Einmal hörte ich, du seist im Krankenhaus, es ginge dir nicht gut.
Ich
fuhr hin, um dich zu sehen. Du warst an das Beatmungsgerät angeschlossen.
Aus
deinem Körper hingen Schläuche auch für die Zu- und Abfuhr der Infusion.
Dein
gekrümmter Rücken drückte gewaltsam den Kopf nach unten und dein Körper folgte
beständig dem Takt des Beatmungsgerätes, bäumte sich kurz auf und sank wieder in
sich zusammen. Aber deine Augen haben zu mir aufgesehen und sagten mir: Es ist
unser Abschied.
Ich
eilte auf dem Krankenhausflur nach Hilfe.
Einen
vorbeieilenden Arzt flehte ich an: Bitte, es geht um meine Tante auf Zimmer 304!
Gibt
es eine Patientenverfügung? fragte er. Nicht? Ja dann kann ich nichts tun.
Die
Krankenschwester nahm mich am Arm: Da kommt die Visite, sagte sie.
Bitte! Helfen sie mir! Es geht um meine Tante auf Zimmer 304, rief ich wieder
und stellte mich einfach in den Weg.
Der
Oberarzt gab seinem Tross fliegender Weißkittel das Zeichen, weiterzugehen und er
nahm mich beiseite.
Aber
er blieb stumm. Dann drückte er mir wortlos die Hand und ging weiter.
Am
nächsten Morgen rief mich meine Schwester an:
Tante
Lene ist tot, sagte sie, die Krankenschwester meinte, sie sei ganz friedlich
eingeschlafen.
Ich
war bei deiner Beerdigung, Tante Lene.
Der
Chor hat dir zum Abschied das Lied gesungen: 'So nimm denn meine Hände`, dein
Lied, das du im Wald auf dem Hochsitz gesungen hast.
Sieh
zu
In
meinem fernen
Zuhause
reden
sie
reden
Alltagsworte
und
weinen nicht
über
Ungesagtes
ihnen
Verwehrtes
und
wissen doch
vom
großen Nichts
das
sie
behutsam
in
den Armen wiegt
Winter
hinter Tüllgardinen
Fenstersprossen Gartenzaun
weiter draußen ist Krieg
aber
in der alten Stube
lässt
der warme Kachelofen
gütig
die Kartoffeln bähen
aber
in der alten Stube
hat
Großvaters Schreibtisch Türmchen
und
das Wachstuch Tintenkleckse
Frühling
hinterm alten Haus
Hühnergackern Katzenschnurren
weiter draußen ist Krieg
aber
hinterm alten Haus
musiziert es vom Holunder
musiziert es von der Schupf
die
Stare sind da
Sommer
an
der alten Mühle
Bach
durchwaten
Enten
schnattern
weiter draußen ist Krieg
aber
zwischen Sommerwolken
glitzern silberhelle Flieger
Sommervögel ohne Lied
Herbstwind
über
Schlehenhecken
Hirtenfeuern Rübenäckern
weiter draußen ist Krieg
aber
hintendrauß im Garten
räumt
Großvater die Bäume
und
das Obst in Weidenkörbe
weiter draußen ist Krieg
Wenn
die Kirchenglocken läuten
gehe
ich
durchs Haus
nehme
Großmutters Bild
von
der Wand
und
gebe ihm
einen
Rahmen
aus
dunklem Holz
Großmutter an der Nähmaschine
ihre
Hände
gichtknotig
ruhen
auf
dem Stoff
Großmutter
gepresst unter Glas
lächelt scheu
mir
ins Herz
Weißt
du noch .…
Maria
wohnt in Berlin-Dahlem mit Robert, Zahnarzt im Ruhestand.
Robert und Maria lieben das Understatement.
Ihr
Haus hat keinen Park, dafür im Garten Beerensträucher.
Auch
beim neuen Rover achteten sie auf Gediegenheit.
Das
grenzt uns ab gegen den Plunder der Berliner Neureichen, sagt Robert, alter Adel
braucht keinen Park ums Haus.
Alter
Adel - das klingt gut, dachte vor Jahren Maria und holte sich den Salon der
Berliner 1820er-Jahre in ihr geräumiges Haus.
Rahel
Levin musste Mut beweisen, hat ihren Salon in einer Dachkammer begonnen, die
Arme, sagte Maria zu Robert. Na ja, bei Rahel gingen aber Leute wie Hegel, die
Brüder Humboldt, Bettina von Arnim und Heinrich Heine ein und aus.
Bei
Maria und Robert waren es die Freunde vom Golfclub.
Eines
Tages war es dann mit dem Salon zu Ende. Das kam so:
Alexander, Roberts Kollege von der Charité, sagte irgendwann verärgert in die
Runde:
Leute, ich bin sackmüde und hab jetzt nichts mehr am Hut mit Goethes
`Wahlverwandtschaften'. Zur Zeit sitz ich nur noch am Computer oder fülle
Formulare aus. Das wäre Schwesternarbeit. Aber Ihr wisst ja - der
Pflegenotstand.
So
ging man wenig erbaut auseinander.
Die
Sache mit dem Salon war beendet und Maria wollte als die harmoniestiftende
Gastgeberin ihr Salonprojekt nicht weiter verfolgen.
Es
ist frühmorgens. Maria sitzt mit Robert beim Frühstück und schreibt ihren
Einkaufszettel. Vergiss nicht das Meersalz vom KaDeWe, Gourmet-Abteilung, du
weißt schon, und...ach ja, der Whisky ist alle.
Tut`s
auch das Meersalz vom Bioladen? Da muss ich eh noch hin, fragt Maria.
In
einer Woche steigt im Heidelberger Schloss eine Hochzeit. Es ist der Sohn von
Roberts Bundesbruder.
Dann
hol ich gleich noch am Kudamm das Kleid ab, sagt Maria. Die Heidelbergerinnen,
garantiert aufgetakelt, sollen geschockt sein, aber erst auf den zweiten Blick.
Hauptstadt-Fashion, weißt du, quasi Jil Sander-Purismus, Etuikleid, graue Seide,
leicht übers Knie und Rundausschnitt.
Robert findet daran nichts Überraschendes und liest die Zeitung.
Maria
holt den Range Rover aus der Garage und fährt in Richtung Charlottenburg.
Dann
plötzlich macht sie eine Vollbremsung.
Eine
Frau huscht auf den Zebrastreifen, bleibt auf halbem Weg vor dem Rover stehen,
wendet das Gesicht und blickt durch die Frontscheibe Maria direkt in die Augen.
Die
Frau lächelt - und Maria kennt dieses Lächeln, Maria kennt diesen Blick.
So
freundlich und doch so ängstlich und verwundbar.
Die
Frau ist etwa 35 Jahre alt, jünger als Maria, und sie trägt einen etwas
schäbigen, mausgrauen Stepp-Anorak. Jedenfalls uncool und vom Textil-Discounter,
denkt Maria.
Das
pechschwarze Haar der Frau ist im Nacken weich geknotet.
Maria
hupt und die Frau geht flink zur anderen Straßenseite.
Mit
unbewusster Grandezza - und Maria kennt diese Bewegung - wendet sich die Frau
nocheimnal hin zum Rover, als möchte sie etwas sagen.
Maria
weiß in diesem Moment: Es ist die Mutter ihrer Kindertage.
Dann
folgt sie ihr bis zum Parkplatz eines Supermarktes.
Die
Mutter verschwindet durch den Hintereingang.
Warum
heute nicht hier einkaufen? sagt sich Maria.
Mit
dem voll beladenen Einkaufswagen stellt sie sich in die Schlange.
An
deren Ende sitzt die Mutter als Kassiererin.
Mutter, denkt Maria, so hast du hier Arbeit gefunden.
Die
Mutter lächelt, als habe sie verstanden, aber sie blickt den Kunden nicht ins
Gesicht.
Hallo! sagt die Mutter.
Hallo! sagt Maria zurück.
Dann
klingt es wie eine kleine, schüchterne Melodie: Und Ihnen noch einen schönen
Tag!
Ja,
danke, Ihnen auch, sagt Maria.
Es
gibt keinen Blickkontakt, denn schon dreht sich die Mutter hin zum Förderband.
Maria
schiebt den Einkaufswagen zum Parkplatz und belädt den Kofferraum.
Dann
setzt sie sich ins Auto und wartet.
Sie
weiß nicht, wie lange sie so gesessen und gewartet hat.
Nun
ist der Parkplatz gähnend leer. Es sieht nach Ladenschluss aus.
Im
Innern des Supermarktes löschen sie die Lichter.
Ein
Mann vom Personal verlässt mit Rucksack den Hintereingang und fährt auf seinem
Fahrrad davon.
Maria
wartet.
Langsam wird es dunkel.
Die
Mutter kommt nicht mehr.
Damals
saß
ich am Fenster
wartend
auf
dich
und
dann
kamst du
und
es
war mir
eine
Ewigkeit von Glück
und
dann
kamst du
ein
letztes Mal
Er
liegt neben ihr, animalisch ausgestreckt. Es ist gegen drei Uhr morgens.
Sein
Arm hatte sich langsam von ihrem Bauch gelöst. Sie fühlt Liebesentzug, sehnt
sich nach der zwillingshaften Körperlichkeit und ist bereit, sie auszuhalten,
auch wenn sich Überdruss einstellen sollte, auch wenn er sie wieder wortlos
degradieren würde auf ihre bloße Weibchenrolle.
Dennoch war es ihm gelungen, sie an sich zu binden. „Du bist die Frau, die ich
immer gesucht habe“, war seine Liebeserklärung. Von ihren Eltern hatte sie
niemals gehört: „Du bist das Mädchen, das wir uns immer gewünscht haben.“
Entgegen aller Emanzipationstheorien hütete sie ihr Geheimnis und nannte es „ihr
idiotisches und bescheidenes Weibchen-Glücksgefühl“. Dafür ist sie bereit, zu
leiden. Sie leidet, wenn er zu viel getrunken hat und dann unvermittelt sagt:
„Deine Texte werfen doch nichts ab! Wer geilt sich schon daran auf?! Schreib
einen Bestseller und häng` auch nicht so verbissen an deiner Lyrik. Und deine
Philosophen haben nie etwas anderes getan als sich gegenseitig zu bekriegen.“
Sie
hält den Atem an. An der Decke kreist das Scheinwerferlicht der nahen Disco zum
Surren der Klimaanlage. Touristensommer in Spanien. „Wir
könnten gut ein halbes Jahr hier wohnen. Ich suche eine Finca für uns beide. Den
deutschen Winter halte ich nicht mehr lang aus.“ Wieder nörgelt er es vor sich
hin und wieder sagt sie darauf: „Für
mich ist es eine Frage von Heimat. Mir fehlt hier die Muttersprache, weißt du...
quasi das Biotop.“ „Du
suchst doch ständig nach Heimat und am wohlsten fühlst du dich, solange du
danach suchst! Und seh´ ich recht? Jetzt blärrst du bestimmt nach deinem
gewesenen Ehemann!?“
Sie
war wohl eingeschlafen. Nun weckt sie grelles Licht, das aus der Küche kommt. Im
Türausschnitt sieht sie ihn aus der Speisekammer kommen.
Katerfrühstück, denkt sie. Am Abend zuvor waren sie noch in Rodrigos Botega zur
Weinprobe gewesen.
Zelebrierend schwenkt er eine Whiskyflasche und trinkt daraus auf schwankenden
Beinen. Sie rennt auf ihn zu, fleht „hör auf!“ und will ihm die Flasche aus der
Hand reißen. Sie weint. Er drückt sie zu Boden und schlägt auf sie ein, dann
liegt sie reglos. Nun kommt er mit vollen Bierflaschen, stößt mit den Füßen auf
sie ein und gießt das Bier über ihren nackten Rücken. Sie versucht, aufzustehen,
doch schon fühlt sie den nächsten Guss. So geht es im Wechsel.
Irgendwie ist sie in ihr Bett gekrochen, kann noch denken, sie hätte nicht das
Geld für die Abreise bei sich.
Dann
kommt federleicht ein Strohhalm angeschwommen auf diesem Meer von
Ausweglosigkeit.
Es
sind nur ein paar Worte.
Sie
fügt sie zu einem Gedicht:
Unter
dem Overkill
unter
der Asche
nistet ein Samenkorn
nistet mein Kind.
Gewandert über sieben Berge
Geträumt deinen Traum
Geschluckt den Apfel
Zurückgekehrt
mit
dem Schweigen des Schnees
Überall
im
fremden Haus
auf
schweren leeren
Eichenstühlen
körperlos
Schneeweiß und Rosenrot
körperlos
auf
abgehackten Ästen
und
zwischen Frühlingsblumen
euer
Mädchenlachen
erreicht nicht
mein
Heimweh
In
den Nächten flecht ich
mir
ein Kleid
aus
weiß
und
roten
Rosen
Mo
kommt aus der Dusche, schaut in den Spiegel und fragt sich: Bin ich schön?
Schön
klingt kitschig, hat die Patina einer früheren Epoche. Denn allseits ist
Schönheit wohlfeil und billig zu haben, auch bei Ralf um die Ecke, dem
Bodydesigner. Bei Mo`s Urgroßmutter war es noch das Friseurgeschäft. Aber was
Ralf noch nicht kann: ein paar Rippen entsorgen.
Sevin
ist dafür in die Stadt gefahren. Nun ist sie stolz auf ihre vierzig Zentimeter
Taillenumfang.
Ed
kommt ins Bad.
Verstehe ich dich richtig, fragt Mo, wenn du diese Abart einer Taille auch noch
schön findest?
Nicht
bei zehn Zentimeter Gehirnumfang, sagt Ed. Mo`s Eifersucht ist damit nicht
heruntergekühlt.
Aber
dann sag mir, Ed, warum wolltest du gestern den Haushaltsrobot ‚Emmeline‘
kaufen?
Der
gleicht Sevin doch aufs Haar!
Schau
doch mal rüber, Mo, zu den Nachbarn. Robby hat sich eine Sex-Robotdame
angeschafft.
Ja
Robby, den du immer so charmant findest! Und er geht mit ihr sogar shoppen! Du
würdest mich steinigen, wenn ich mir eine Robotdame wenigstens fürs Schach
zulegen würde. Dabei hast du dich noch nie für Schach interessiert. Was willst
du eigentlich?
Was
ich will – du wirst es erfahren. Und sag jetzt nicht, du seist mir wegen meiner
Wesensart treu geblieben. Ich möchte dir gefallen, Ed.
Wo
ist das Problem? nuschelt Ed, während der Rasier-Robot sanft über sein Gesicht
gleitet, mir gefallen gut aussehende Frauen.
Nicht
F r a u – e n , Ed !
Aber
ihr seht doch alle gleich aus. Urahne Barbie wäre stolz auf euch.
Mo
geht zur Garderobe, holt einen Koffer und weint:
Da
genau sind wir beim Problem, so es dich interessiert.
Wir
Frauen von der Emanzipations-Avantgarde fordern: Gebt uns unsere Fältchen
zurück, unsere eigenen Fältchen und Charakterzüge!
Schon
Friedrich Schiller sagte: Schönheit gebe es nicht ohne Anmut und Anmut komme von
innen.
Ed
nimmt einen Schluck Whisky. Was hast du vor?
Mo
packt ihren Koffer. Ich habe Paris gebucht. Dort kann ich das neue Design
bekommen,
Gesichtszüge und Fältchen nach meiner Wesensart.
Nie
wieder möchte ich in den Spiegel schauen, dabei an dich denken und mich fragen
müssen:
Bin
ich schön?
Was
ich weiß
ich
der
Klon
mutterlos im Dunkel
Sohn
des Perseus
hochgerüstet mit Raketen
Am
Anfang
war
Alpha das Zeichen
war
der Logos
war
Frau und Mann
im
Kreis
der
Göttin
War
Hathor
Isis
und Athene
war
Demeter
sie
buk das Brot
bei
Spielen
und
Gesang
Am
Anfang
war
Gaia
war
Nut
war
Lilith die Sonne
und
der Ginster so golden
in
Sumer
Was
ich weiß
ich
der
Klon
mutterlos im Dunkel
Kopfunter verlasse ich Omega
kopfunter den Kreis
Ich
bin
Anfang und Ende
spricht die Göttin
Ich
bin
der
Logos
bin
Alpha und Omega
Was
ich weiß
ich
der
Klon
Am
Anfang
war
Lilith die Sonne
und
der Ginster so golden in Sumer
Liebe
Zuschauer vom weiblichen, männlichen und Bio-Transgender-Geschlecht,
liebe
Zuschauer vom ehrwürdigen Geschlecht der Androiden und Hybriden,
seien
Sie herzlich willkommen.
Ich
bin Christina Johnson vom Sender YAI und berichte vom Weltkongress der
Wissenschaft.
Ich
fasse mich kurz, meine Zeit eilt mir davon.
Worum
geht es? Der Flug zum Sternensystem Alpha Centauri ist beschlossene Sache.
Eingeladen haben uns die Bewohner von Alpha Proxima B, entdeckt schon 2016. Und
dies ist keine Science- fiction Story!
Proxima B ist ein Exoplanet von Alpha Centauri.
Tja -
lange mussten wir auf die Einladung warten. Aber Schwamm drüber!
Die
große Verwüstung haben wir durchgestanden. Die technischen Probleme sind gelöst.
Neil
und Bob, unsere Star-Commander der Ultra-Intelligenz, steuern das Zeitschiff.
Aah!!
Wen sehe ich da!?
Seien
Sie begrüßt, Professorin Olga Stepanowa!
Sie
haben eben Ihren zweihundertsten Geburtstag gefeiert. Meine aufrichtige
Gratulation! Sie sind Schirmherrin der neuen Emanzipationsbewegung, bekannt
unter dem Namen „Kassandra“.
Was
sagen Sie, Olga Stepanowa, zum heutigen Kongress?
Was
ich sage, liebe Christina? Ich warne. Aus Gier und Verzweiflung greifen wir nach
den Sternen. Die Künstliche Intelligenz sitzt an den Schalthebeln der
Weltregierung, unfähig, dem Volk das zu geben, wonach es sich sehnt: das Glück
und die Liebe.
Suchen wir danach auf Alpha Proxima B??? - dass ich nicht lache!!! Das wird
unsere neue Sternenkolonie! Und ihre Bewohner werden unsere Sklaven. Na denn -
gute Reise!
Olga
Stepanowa, ich danke Ihnen für Ihre Zeit.
Liebes Publikum, ich schalte nun um in die Kongresshalle.
Am
Podium diskutieren mit den Robots Neil und Bob die
Astrophysiker, Philosophen, Soziologen, Psychologen.
Es
fehlt Olga Stepanowa.
In
höflicher Noblesse neigen Neil und Bob ihre Köpfe mal hierhin, mal dorthin.
Ich
sag mal: Sie allein kennen die Antwort auf all diese letzten Fragen.
So
schweigen sie.
Oh
nein!!!! Eine Bildstörung! Können Sie mich noch hören?
Lautes Pfeifen!
Nun
sind wir wieder auf Sendung. Doch sehen Sie selbst:
Ein
nicht geladener Gast - sagt mein Kollege soeben - nähert sich dem Rednerpult. Er
ist eingehüllt in gleißendes Weiß, sein Gesicht ist puppenhaft und freundlich.
Und hören Sie! Er spricht in unserer Sprache. „Lasst
mich erzählen, wie es war unter Alpha Centauri.
Wir
hatten blauen Sand und eine rote Sonne.
Wir
lebten als Zweilinge. Unsere Körper hatten zwei Beine, zwei Arme und - zwei
Köpfe.
Nennt
sie Zwillinge, Zweilinge oder nennt sie Mann und Frau.
Sie
waren miteinander im Gespräch, sie waren miteinander im Schweigen.
Ein
Streit war der Streit zwischen ihren Köpfen. Doch sie konnten nicht hassen,
wusste doch jeder der Beiden, dass Hass die Zerstörung ihres gemeinsamen Körpers
bedeutete.
Manchmal, wenn sie sich küssten, entstanden ihre zweiköpfigen Nachkommen.
Mit
ihnen lebten sie in Kleinfamilien und bestellten das Land.
Diese
Zeit war paradiesisch und dauerte bis zum Anbruch einer neuen Epoche.
Nun
lebten sie in Gruppen. Es garantierte wirtschaftliches Arbeiten, brachte aber
auch die Neugier auf andere Körper. Und es gab Küsse kreuz und quer. Die
Zweilinge wurden einander untreu. Es entstanden Kinder, deren Herkunft sie nicht
kannten.
Man
sprach von Eifersucht und Neid, man sprach von Liebe und Besitz. Den wollte man
nicht teilen mit Köpfen, die man hasste.
Ein
Kopf, ein Körper… das wäre die Lösung. So hörte man es raunen in Zirkeln der
Wissenschaft.
Man
sprach nun von Kulturzerfall.
Schließlich gelang es, lange vor Eurer Zeit - das neue Wesen zu schaffen:
Ein
Kopf - ein Körper.
Doch
irgendwo versagten wir. An der Stelle des nicht mehr vorhandenen zweiten Kopfes
saß nun der Phantomschmerz, die Sehnsucht nach dem Zweiling.
Nun
machte jeder sich auf die Suche nach dem Anderen.
Man
sprach vom Warten, aber auch vom Hoffen.
Jedoch - einander zu finden, konnte auch bedeuten, einander zu verlieren.
Man
starb nun auch allein.
Die
Älteren in unseren Reservaten hören wir mitunter klagen:
Früher war es anders.
Früher hatte man noch zwei Köpfe, aber man war ein Leib und eine Seele.
Nun
suchen wir nach dem Glück und nach der Liebe.
` E u
d a i m o n i a ' nennen es die Weisen eurer Antike.
Doch
wir finden es nicht unter den Sternen von Alpha Centauri. ---
Nun
hört: Wir haben einen Traum.
Und
darum kommen wir zu Euch auf die Erde.
Aber
wir kommen in Frieden.“
Liebes Publikum---verzeihen Sie bitte diese erneute Bildstörung.
Ich
hoffe, Sie können mich noch hören. Ja???!!!
Vom
Sender höre ich soeben, der Kongress werde abgebrochen.
Es
herrsche höchste Geheimhaltungsstufe.
Im
Moment bleibt mir nur diese Information an Sie.
Ich
danke Ihnen vielmals fiür Ihr Interesse und Ihre Aufmerksamkeit und wünsche uns
allen eine glückliche Zukunft.
übers
eisfeld
einer
digitalen
liebe
karren robots
emsig
sprach- und liebesspiele
vieltausendjährig
das
hohelied der liebe
worte
harren
der
deutung
und
bleiben doch nur
worte
zu
dir und
worte
zu
mir
leise
tastend
senkt
sich
deine
glut
sheherazad
auf
das eis
der
digitalen liebe
gemachte Zeit
mit
dem Klick auf den Bildschirm
lösche ich den Tag
mit
den
erledigten Terminen
streiche ich die Woche
das
Jahr
und
streiche
Träume
himmelblau
mit
weißen Flügeln
von
Tagen
wo du
mit
mir warst
Augusthimmelblau
Madonnenblau
du
schöne Lüge
kein
Mantel
der
herunterreicht
mich
einhüllt
weil
ich friere
und
doch
Madonna voller Gnade
schickst mir
eine
Wolke
mein
Wolkenkamerad
ziellos treibend
hin
zum Horizont
mit
den strohgelben Feldern
mit
den weißen Wegen
menschenleer
mit
den Autoschlangen gen Süden
ziellos hin
zum
Horizont
mit
den Flügeln der Wünsche
Kleo
steht am Tresen, nippt gelangweilt an einem „Happy Cola“ und genießt die Pause.
Kleo weiß: Das Getränk wurde vor Generationen mit großem Erfolg unter ähnlichem
Namen auf den Weltmarkt gebracht. Nun ist der Konzern zusammen mit anderen das,
was sie die Weltregierung nennen.
Und
im Dienst der Weltregierung steht die Elite aller Wissenschaftler.
Im
Saal läuft der Bericht über Erkundungen auf HELI 61, dem Exoplaneten.
Es
gibt dort Ozeane, Wälder und Gebirge. Unspektakulär dafür, dass das Raumschiff
fünfzig Jahre unterwegs war. An Bord saßen die Roboter Bill und Bob.
Bill
war zuständig für die Technik, Bob für die Forschung. Sie stießen auf
intelligente Lebewesen.
Bob
saß auf dem Podium zur Rechten, Bill zur Linken des Professors für Theoretische
Physik und beide antworteten artig, wenn sie etwas gefragt wurden.
Bob
war es gelungen, sich einem der Bewohner von HELI 61 zu nähern, kam ihnen aber
nicht wirklich nahe. Ihre Sprache schien nicht aus Lauten und Zeichen gemacht.
Bob
sagte zum Publikum hin mit monotoner Stimme, aber selbstbewusster Gestik, er
habe sich gefühlt wie ein Schimpanse. Diese Wesen hätten wohl keinerlei Sprache
mehr nötig. Letzten Endes seien er und Bill von einem unerklärlichen Kraftfeld
zum Verlassen des Planeten gezwungen worden.
„Wozu
bloß dieser ganze Aufwand? Und Bob die totale Fehlbesetzung! Finden Sie nicht
auch?“, sagt der Mann am Tresen. „Übrigens,
mein Name ist Dirac, ich komme von der Theoretischen Physik.“ „Erfreut“,
sagt Kleo, „Paul Dirac – hat er nicht im frühen Zwanzigsten Jahrhundert gelebt
und mathematisch belegt, dass jedes Elementarteilchen auch ein Antiteilchen hat,
ein virtuelles, die Antimaterie also? Längst ist sie doch nachgewiesen. Ein Mehr
an Physik ist bei mir nicht vorhanden. Ich komme von der historischen und der
sprachlichen Zunft.“ „Interessant
für mich!“, sagt Dirac, „Sie haben es demnach mit der Wahrnehmung und der
Deutung von Geschehnissen zu tun. Geschichte – Geschichten – Hmmm... zweifellos
verschiedene Wahrheiten und nicht die vermaledeite eine Wahrheit, welcher wir
hinterherjagen. Den Quanten gefällt es immer noch, uns schamlos zum Narren zu
halten.“
Er
sagt es mit einer Mischung von Noblesse und Lässigkeit. Könnte das sein
wirkliches Interesse an ihr bemänteln?
Im
Gesicht trägt er sympathische Altersfältchen. Auch Kleo ließ sie sich verpassen.
Es ist die neue Mode, entstanden aus dem Überdruss an Jugendlichkeit. Die
Jugendlichkeitsampullen sind für wenig Geld in jedem Shop zu haben.
Dirac
sieht sie an – und doch scheint er durch sie hindurchzusehen. „Sie
gefallen mir. Wollen Sie mich wiedersehen?“
Kleo
trifft Dirac. Sie gehen spazieren, sitzen in Cafés, diskutieren und halten sich
dabei an den Händen. Immer wieder küsst er sie. Niemals schlafen sie
miteinander.
Zwischen ihren Begegnungen halten sie Kontakt, erscheinen einander als
Hologramm. „Bald
wird alles anders“, sagt Dirac, „ich habe immer noch so wenig Zeit. Theoretische
Physik eben. Wir sind nicht nur die Anwender mathematischer Gleichungen, wir
interpretieren sie. Wir machen Experimente, können auch physikalische
Voraussagen treffen. Lass einfach die Zeit für uns entscheiden.“ „Gestatte,
dass ich mal deinen Satz interpretiere“, sagt Kleo, „wer stets entscheidet, das
ist nicht die Zeit, das bist doch du. Und du entscheidest stets zu deinen
eigenen Bedingungen. Am Ende entscheidest du nach deinen physikalischen
Voraussagen. Mich gruselt dabei.“ „Versteh`
doch, meine Liebe, ich kann nicht über die Bedingungen reden.“ „Was
ist dein Projekt – was willst du?“ fragt Kleos Hologramm. „Ich
will dich, denn ich liebe dich wie ich noch keine Frau zuvor geliebt habe.
Ich
bin dir inzwischen treu gewesen. Du hast all das, was ich nicht habe und ich
weiß, ich könnte dich verlieren.“
Kleo
fühlt sich wieder anerkannt und beschützt, denkt jedoch:
er
könnte mein Bedürfnis nach Schutz und Anerkennung schamlos ausnützen für ein mir
verborgenes Ziel. Nur sagt sie es nicht aus Angst, sie könnte damit unweiblich
wirken. „Es
ist deine Weiblichkeit, wonach ich gesucht habe“, sagt er zu ihr.
Eines
Tages sitzen sie wieder zusammen im Café. „In
früheren Zeiten“, sagt Kleo, „gab es eine chinesische Kampfsportart. Wichtig
war, dem Gegner keine Angriffsfläche zu bieten. Man ließ ihn in hohem Bogen über
die Schulter fliegen. Deine Taktik? Ob durch Schweigen oder durch Worte – du
sagst viel und sagst doch nichts. Du bist nicht fassbar.“ „Wenn
du mich liebst“, sagt Dirac, „dann versuche, mich zu verstehen. Ich kann mich
nicht gut ausdrücken.
Ich
liebe dich.“
Durchs offene Fenster dringt der Lärm einer Demonstration. Immer wieder gibt es
Unruhen im Land. Sie richten sich gegen die Weltregierung.
Laute
Kampfparolen und Kampflieder, begleitet von altmodischen Musikinstrumenten,
mischen sich mit dem Gegröle und den Pfiffen der Demonstranten.
Transparente werden vorbeigetragen.
Auf
ihnen ist zu lesen: „Zerschlagt die wertfreie Wissenschaft!“
Kleo
erinnert sich: Da war doch mal etwas im Geschichtsseminar:
Noch
im späteren Zwanzigsten Jahrhundert gab es diese Bewegungen. Vor allem viele
junge Menschen wollten die Systemveränderung. Man las die Philosophen,
Theoretiker und und Literaten, man diskutierte und man sang die alten
Freiheitslieder auf weltweiten Demonstrationen. Es hieß, die Wissenschaft
arbeite Hand in Hand mit den Regierungen für den Profit der Konzerne und habe
längst die Werte der Moral verlassen.
Plötzlich steht ein vermummter Mann am offenen Fenster.
Seine
Waffe zielt auf Dirac.
Der,
ganz unbewegte Noblesse und scheinbar ohne Angst, wendet sich dem Fenster zu.
Dann trifft ihn das Geschoss. Sein Kopf fällt nach hinten und sein Blick heftet
sich starr auf Kleos Augen, als wollte er für immer darin verweilen.
Aus
seinem Hals quillt ein Bündel von Drähten und auf dem Boden liegen die
herausgesprengten Chips und Metallteile in einer Lache seines Blutes.
Und
wenn du zurückkämst
aus
dem Himmel der heimatlosen Linken
nur
eine Demo lang
Zu
eurer Zeit
war
der Osten noch rot
Wir
latschten zu Tausenden um die Utopie
und
riefen in Sprechchören
Weg
mit den Berufsverboten
und
sangen
Und
weil der Mensch ein Mensch ist...
Unsere Treffen
waren
Feten
gewiss auch mit entfernten Verwandten
Wir
saßen am Feuer
bei
Borschtsch und Paella
nach
den Rezepten der Euros
Und
weißt du noch
das
Wort „verbissen“
in
deinem Schweigen
in
deiner Selbstkritik
Oh we
can be heroes just for one day
Ho Ho
Ho Chi Minh
Blue
Jeans und unser wehendes Haar
All
you need is love
Und
dann
an
einem Sommertag
auf
deinem Sarg
die
roten Nelken
Mahlers Fünfte
Einer
im roten Hemd
So
hat es dir gefallen
Mit
dir ging eine Epoche
Und
wenn du zurückkämst
aus
dem Himmel der heimatlosen Linken
nur
eine Demo lang
Zu
eurer Zeit
war
der Osten noch rot
Doch
heimatlos sind wir geblieben.
Worte
wie
dünnes Glas
Einwegworte
Auge
in Auge schon
entsorgt
diesseits
der
verbotenen Zonen
wo
wir fast alles
pseudo
finden
wir
von violett-wass.kandinsky
Aber
in meiner WG
am
Prenzlauer Berg
sitzt
eine Barbiepuppe
aus
Moskau
Nadeschda violett aus Rot und Blau
Abends trinken wir unseren Vodka
mit
Büffelgras
Du
weites Land
Deine
Augen
brennen wie Feuer
durch
Worte
Einwegworte
aus
dünnem Glas
Hannes sitzt mit Max beim Italiener. Sie nennen es ihr Wirtshaus. „Eines
Tages kommt sie zu dir zurück. Die Zeit ist die Unbekannte. Was sagen deine
Klinik-Professoren?“, fragt Max. „Neue
Ärzte, neue Medikamente“, sagt Hannes, „neuerdings habe ich Halluzinationen,
erstmalig als Zugabe der epileptische Anfall.“ „Wirf
den ganzen Scheiß in den Müll und fang an mit kleinen Schritten!“ „Danke“,
sagt Hannes, „seit wann liest du Glücksratgeber-Magazine? Weißt du was – für die
kleinen Schritte brauche ich den festen Boden unter meinen Füßen. Ich hänge
brutal über dem Abgrund.“ „Versteh
ich doch“, tröstet Max, „der Boden, das war die reale Heimat,
war Mirjam, waren deine Kinder,
war dein Haus. Aber war es nur das? Dir fehlt die Heimstatt in dir selber. Sie
ist dir nicht so leicht zu nehmen.“ „Hab ich doch alles schon gehört vom
Psychotherapeuten, wenn er beim Meeting nebenher den Baumarkt-Einkaufszettel
studiert hat. Scheiß der Hund drauf!“
Hannes lacht sein allseits berühmtes, wieherndes Lachen, die Mischung von Extase
und Schmerz. „Magst
Recht haben, Max – die Heimstatt in mir… Ohmmm… Der Duft von Räucherstäbchen...
Spaß
beiseite, die Identität, das Gefühl von Selbstwert, vergiss es! Ich war Lehrer
mit Leib und Seele. Meine Knochenkrankheit, meine Operationen – das alles hat
mich zum Hausmann gemacht. Bei aller Liebe – mir blieb nur die Wahl der
Dankbarkeit für diesen Lebensstil auf Berliner Speckgürtel-Niveau.
Hätte
ich nun wieder, hokuspokus, Boden unter meinen Füßen, es wäre immer wieder
dieselbe Geröllwüste mit Felsbrocken von Schuldgefühlen.
Ich
war acht Jahre alt und dem allwöchentlichen Ritual der Religionslehrerin
ausgeliefert. ‚Du bist und bleibst ein Dummkopf fürs Leben‘, flötete sie mir
schrill ins Ohr. Gewiss – ich hatte sie beleidigt, weil ich das Auge Gottes zu
einer Vagina umgemalt hatte.
Zur
gleichen Zeit zwei Jahre lang sexueller Missbrauch durch den Dorffriseur.
Er
sei ein so leutseliger, ehrlicher und gesprächiger Mann, sagte man im Dorf.
Ich
hatte mehrfache Angst: Zum einen, die Eltern könnten mir nicht glauben, zum
anderen, die Eltern könnten mich für mitschuldig halten, sollten sie mir
glauben.
Der
Richter fragte mich pennibel nach Einzelheiten. Ich konnte nicht antworten. So
stand ich am Dorfpranger. Danach gab es keine Gespräche mehr.“ „Du
siehst doch, was falsch gelaufen ist, sagt Max, „sieh`s einfach dialektisch.“ „Mensch,
Max! Philosophie und Schuldgefühle – wie geht das zusammen? Die Schuldgefühle
nagen mir das Fleisch von den Knochen. Hinzu kommt noch der Stempel, das Stigma
des unheilbar Depressionskranken. Das klebt wie Pech an mir“. „Verstehe“,
sagt Max, „so kannst du`s nun niemandem mehr rechtmachen.
Selbstwert ade!“
Er
greift in seine Jackentasche. „Komm,
Hannes, lass uns einen Joint rauchen. Weißt du noch – die Nacht in unserer WG
auf dem schrägen Sperrmüllsofa?“
Sie
kiffen wie in alten Tagen, lehnen sich gegen die Mauer der U-Bahn-Haltestelle.
Zu
ihren Füßen haben Obdachlose ihre Schlafstatt aufgeschlagen. Ein leerer
Yoghurtbecher steht auf dem Boden und bittet um Geld.
Die
Passanten schauen geradeaus, eilen vorbei mit vollen Einkaufs-Plastiktüten,
Rucksäcken, Reisekoffern und Kinderwagen.
Dann
– wie eine Fanfare – zerreißt das Staccato einer Rap-Band das Alltagseinerlei.
Der U-Bahn-Schacht wird dröhnend zur Kathedrale. „Tschau
Hannes, muss heim zu Weib und Kind“, sagt Max, schwingt sich aufs Fahrrad und
fährt davon.
Hannes geht am Ufer der Spree. Mühsam tastet er sich durch den Nebel und das
raschelnde Herbstlaub zu einer Bank. Da sitzt eine vermummte Gestalt. „Trostloser
Abend“, sagt Hannes.
Die
Gestalt antwortet mit ruhiger Stimme: „Trostlos? Ich halte nichts davon. Ich
gebe Trost.“ „Wer
bist du?“, fragt Hannes. „Ich
bin die Z e i t . Nichts bleibt, wie es ist, nicht das Gute, das Schöne, nicht
das Schlimme, das Hässliche, nicht das Verlassen und das Verlassenwerden –
das
ist mein Trost.
Mein
Trost sei dir Grund. Darauf mach` deine Schritte. Ich bin mit dir.“
„Du
liebe Zeit! Ich muss wohl bekifft sein!“, möchte Hannes antworten, aber die Frau
ist im Nebel verschwunden.
Nun
irrt er durch die Straßen. Vor den Lokalen sitzen Leute unter Heizsonnen an
kleinen und größeren Tischen, diskutieren und erzählen einander.
Der
Kiez. Auch in dieser Nacht zelebriert er sein Eigenleben, sein Credo der kleinen
und der großen Alltagssorgen.
´Nichts bleibt, wie es ist, das ist mein Trost`, hat sie gesagt, denkt Hannes
und er schlürft seinen dampfenden Espresso.
Dann
steht er auf, geht durch den Novembernebel und fühlt Boden unter seinen Füßen.
Uli
und Susanne sitzen beim Frühstück.
Sobald Kaffee und Brötchen duften, lässt Susanne ihre Gedanken frei
vagabundieren.
Uli
hält nichts von solchen Denkpausen. Er liest die Zeitung.
„Was
verstehst du unter `verworfener Tradition ́?“, fragt er, ohne vom Blatt
aufzusehen.
Susanne: „Wie kommst du jetzt darauf ? Und wo steht das?“
Uli:
„Es steht nirgends, ist mir nur so eingefallen.“ „Mir
fällt dazu ́ne Menge ein“, sagt Susanne, „Traditionen, die man verwerfen,
verdammen müsste. Die Burka, die öffentlichen Hinrichtungen bei den Saudis nach
dem Freitagsgebet, das Töten neugeborener Mädchen und Genitalverstümmelung in
anderen Kulturen, die Witwen-Selbstverbrennung teilweise noch in Indien...“
Uli:
„Du siehst, keine Tradition ohne Rituale, Rituale als Gehirnwäsche.“
Uli
liest und kaut. „Worauf
willst du jetzt hinaus?“, fragt Susanne, „probier mal diesen Käse“.
Uli
legt die Zeitung beiseite. „Worauf
ich hinaus will? Du redest von der Burka als traditioneller Zwangsjacke. Ich
kenne andere Zwangsjacken und es geht hier um unsere eigenen Traditionen.“
Susanne: „Und die wären?“
Uli:
„Seit über zehn Jahren der allmonatliche Sonntagnachmittagskaffee bei deinen
Eltern.
Der
Kuchenboden ist immer zu dick und zu trocken und der Belag zu dünn. Am Tisch
herrscht Maulkorberlass für politische Themen, man fachsimpelt über Hausmusik.
Ein Scheißgeschwätz, denn in meinem Elternhaus gab es keine Hausmusik. Bedenke
auch dein unterwürfiges Verhalten,wenn la Patronne die Tafel aufhebt und du mit
deiner Schwester und der Schwägerin nichts wie hinterhermarschierst zum
Geschirrabwasch. Während ich mit deinen Brüdern am Tisch zurückbleibe, schenkt
uns dein Vater dieses einzige, winzige Gläschen Obstler ein. Es darf diskutiert
werden, aber die Nazi- Zeit muss draußen bleiben. Denkverbot, Maulkorberlass –
das wollte ich dir mal sagen.“
Susanne: „Jetzt hast du mir das Frühstück endgültig verdorben. Dir fehlt der
Respekt. Schon die Bibel sagt: Du sollst Vater und Mutter ehren.“
Uli:
„Ist doch alles beliebig auslegbar. Dass ich darüber mit dir nicht mehr
diskutiere – wie lang ist das eigentlich her? Ach so! Meine Zigaretten sind
alle. Ich geh ́ mal schnell zum Automaten.“
Uli
verlässt den Frühstückstisch. Zu Susanne ist er nie wieder zurückgekehrt.
von
katzenhaar
ist
meine haut
von
katzenhaar
wenn
ich dich suche
stromauf stromab
schleift hin
mein
vagabundenrock
schleift hin
der
grüne tang
vom
fluss
wenn
ich dich suche
in
den bäumen
wenn
ich dich finde
schneeverweht
am
fels
schleift hin
mein
vagabundenrock
schleift hin
der
grüne tang
vom
fluss
Ich
bin
Topfpflanze
Meine
Wurzeln
hungern
auf
dem Grund
des
Topfes
Ich
bin
transportierbar
pflegeleicht
funktional
bis
in die Blüte
Du
hast Erde
so
hast du auch stets
deinen Grund
verbannt
hinter das versteck
verbannt
ins
runde schweigen
der
null
gläsern
ist
das schweigen
der
null
da
wird keiner
dich
suchen
da
gehst du
zweibeinig
unter
zweibeinigen zitaten
gehst
einkaufen
tust
deine arbeit
und
redest
hinter einer wand
aus
glas
Eine
Konferenz war anberaumt.
Es
ging darum, zu diskutieren, wem wohl das größte Verdienst zukomme am Fortschritt
der Geschichte, man könnte auch sagen, der großen und der kleineren Geschichten
dieser Welt.
Viele
waren geladen, nicht alle waren gekommen.
Angerückt waren die Wissenschaften, allesamt bebrillt, im Blick das Suchen nach
der Wahrheit. Dieses Bestreben wollten sie geschlossen vertreten.
Gleich bunten Vögeln tummelten sich die Künste, uneinig in der Frage, was sie
nun anstrebten - und wenn es denn die Wahrheit wäre, was letzten Endes die
Wahrheit sei.
Auf
dem Podest erschien die Sprache. Stolz schlug sie ihr Pfauenrad, mit Augen
unzählig und buntschillernd, jedes Auge ein Spiegel, jedes Auge die Pose ihrer
Selbstdarstellung.
Wie
gesagt, es ging darum, zu diskutieren, wer wohl den größten Anteil habe am
Fortschritt der Geschichte dieser Welt.
…
„Natürlich
das Denken!“, meinten die Wissenschaften.
…
„wenn
ja, dann doch das Sich-zusammen-denken“, entgegnete die Sprache, „...das
Miteinander-denken, -sprechen, denn nur mit Sprache kann das Denken Schritte
machen!“
Nun
räusperte sich die Philosophie: „Wohl stellt die Sprache Zeichen zur Verfügung,
die Formen und das rechte Maß. Auch Philosophen denken, doch fragen sie nach dem
Woher, Wohin, Warum.“
Die
Künste hatten zugehört, doch nun begannen sie zu klagen: „Es fällt uns schwer,
in Sprache auszudrücken, was wir fühlen.
Sprache ist Fessel und Grenze. Wenn das Bedürfnis zu reden gestillt ist, dann
betreten wir die Räume der Musik, der Bilder und der Poesie. So sind wir stets
bemüht, das Nicht-sagbare zu ergründen. Unsere Rede hört auf das Schweigen.“
Doch
die Sprache schlug ihr Pfauenrad: „Das Schweigen – ja! Nur – ich bin da, um es
zu brechen!
Am
Anfang war das Wort!“
Nun
kam ein Wesen auf die Bühne, grau gewandet. „Erlauchte
Werte, Wissenschaften, Sprache, Künste! Euer Ziel war stets Erfolg, nicht selten
Geld und Ruhm. Ich bin der Sprecher der Moral und Sitte. Nie werden wir
versäumen, euch zu hinterfragen. Wir sind dem Guten untertan!“
Die
Wissenschaften riefen: „Wart ihr nicht eher euren Herrschern untertan?!
Und
jeder Herrscher hatte seinen eigenen Moralapostel.
Drum
sind wir gegen eure Kontrolle. Wir stimmen für den Dialog.“
Die
Sprache schlug dazu ihr Pfauenrad, mit Augen unzählig und buntschillernd, jedes
einzelne die Pose ihrer Selbstdarstellung.
Nach
langem Hin und Her begann die Konferenz sich aufzulösen.
Niemand hatte die Gestalt bemerkt, die von Anfang an dabeigewesen war. Sie saß
noch stumm und wachsam in der Ecke, ihr Blick versteinert, von echsenhafter
Starre.
Und
doch war viel darin zu lesen: Grausamkeit und Milde, Mut und Feigheit.
Oder
war es namenlose Trauer?
Niemand hatte die Gestalt bemerkt, niemand hatte sich auf sie besonnen.
Es
war das Schweigen.
Verliebt in die Zwergenprinzessin
wollte er dennoch
kein
Oberzwerg sein
denn
wer ist schon Goethe
würden die Oberzwerge schreien
oder
wir
Zwerge waren schon immer
anders gescheit
wir
achten das Gesetz der Zwerge
hier
Puck und Butz
hier
Hinz und Kunz
hier
Petz und Bibabutzemann
Heil
Alberich
Heil
Oberon
Wir
werden uns nicht das Maul verbrennen
Das
Maß ist uns Gesetz
Darüber lässt sich nicht hinauswachsen
Wir
haben keine Träume zum Licht
Wir
harren gebückt unter Tage
und
holen das Erz das Gold und das Silber
und
huldigen dem Zwergenkönig
ihm
dienen wir
ihm
dient die Zwergenkönigin
Wir
harren versteinert
zur
Mahnung der Wichte
in
euren Gärten
Hier
Puck und Butz
hier
Petz und Bibabutzemann
Heil
Alberich
Heil
Oberon
Wir
werden uns nicht das Maul verbrennen
Das
Zwergenmaß ist uns Gesetz
Am
Ende entkam der Bursche
dem
Land der Zwerge
und
schrieb seine Geschichte
Ist
es der magische Ort, der mir die Freiheit gibt, zu gehen, zurückzukommen oder zu
bleiben?
Ist
es nun an diesem Tag der magische Ort, der mich festhält wie die vielarmige
Krake, surreal wechselhaft und real in der
Gestalt des grinsenden Virus, erhaben gegen die Macht von Staat und Kirche,
klüger als die Wissenschaft?
So
hält es die Welt niedergedrückt unter einer Glocke aus undurchdringbarem Glas.
Darunter gehen wir die vorgeschriebenen Pfade mit Atemschutzmasken.
Und
das Virus lehrt uns zu sagen „wir“, gleichwohl ob in Peking, London, Rom,
Madrid, Paris, Moskau oder Berlin, oder ob zuhause in unseren Heimatdörfern.
Zu
Tausenden sind sie eingesperrt, die Anderen, eingepfercht in ihren Wohnungen, in
Pflegeheimen oder Intensivstationen.
Die
Angst vor der Quarantäne geht um.
Der
Frühlingshimmel ist märchenblau, die Weiden hängen ihre grünen Schleier in die
Spree, die Vögel zwitschern, doch die Straßen und Plätze sind stumm und die
Tische und Bänke vor den Kiezkneipen sind menschenleer.
Nur
die Medienleinwand flimmert hektisch durch die Wohnungen in permanenter
Geschwätzigkeit, teils beschwichtigend, teils angstgetrieben.
Dennoch hänge ich am Netz, dem worldwide web, hänge an ihm wie an einer Droge.
Nun
stehe ich an der Glaswand der Glocke. Das Virus hat sie dem Erdball
übergestülpt, hat damit seinen Herrschaftsbereich markiert und sein Name heißt
Pandemie.
Ich
stehe auf der surrealen Seite unserer Gegenwart , sehe hindurch und hinüber in
eine real gewesene Vergangenheit.
Eine
Frau taucht auf. Es ist Annerose M., meine Romanfigur, und sie winkt mir zu.
Annerose ist auf der Suche nach einem neuen Zuhause.
Nun
beginnt sie zu erzählen.
„...Wieder
bin ich umgezogen.
Die
Stadt atmet ihr lebensmutig-quirliges Willkommen. Sie atmet es aus allen Poren,
hebt mich auf die Schwingen ihrer ungestümen Luft, die von der Taiga kommt.
Gibt
es eine Liebe zwischen Mensch und Stadt?
Ich
bin Annerose aus dem Süden.
Im
Frühjahr bringt der Heimatfluss das Gletscherwasser aus den Alpen.
Bei
Föhn steht klar am Horizont die Kulisse der Berge. ‚Ich
kenne viele Abschiede‘, sage ich zu dieser Stadt, denke es vielmehr zu ihr hin,
wenn ich über den Kudamm streune. ‚Die
kenn ick ooch‘, höre ich sie durch ihr lautes Getriebe, ‚meine
Menschen erzählen dir wat von Abschieden! Da biste nischt alleene.‘
Am
Brandenburger Tor demonstrieren Araber, darunter ihre Frauen im schwarzen
Tschador.
Hinterm Bahnhof Zoo stehen Obdachlose für ein warmes Essen an. An der Mauer der
S-Bahn-Unterführung und unter Brücken sitzen sie inmitten ihrer Hunde und
hantieren mit Schlafsäcken und Essgeschirr. Vor ihnen steht der leere
Joghurtbecher für die Almosen.
Auf
den Bänken am Alexanderplatz tummeln sich Teenies zum Komasaufen.
Überall herumliegende Bierflaschen. Zwei Jungen stehen gegeneinander wie
Kampfhähne. Die Herumsitzenden finden das krass. Ein Mädchen steht weinend
abseits. Der eine Junge holt mit der Bierflasche zum Schlag aus.
Ich
renne nach einem Polizisten. Der raucht seine Zigarette. ‚Ja
wat meinen Sie denn, wat ick da jeden Abend zu tun hätte?! Sie sind wohl nischt
von hier?‘
Ich
sitze in der U-Bahn. Ein junger Mann döst vor sich hin. Dann platzen laute
Rap-Schreie aus seiner Jackentasche. Er zerrt das Handy heraus. ‚Hey
Mann, Mann!! Isch hab nur drei Stunden gepennt!‘
An
der nächsten Haltestelle steigt eine Gruppe Lateinamerikaner zu, walzt durch die
Gänge mit ohrenbetäubender Musik aus den Anden und mit ‚Guantanamera...
yo
soy un hombre sincero...‘
Draußen steigt ein Tross Models aus der Bahn. Es ist Fashion-Woche in Berlin.
Sie
staksen linkisch in Stiefeletten, den Blick ins Nichts gerichtet.
Alle
über einsachtzig, behangen mit schwerem Schal-Mantel-Gewirre, aber es reicht nur
knapp bis unter den Po und gibt die langen Beine frei.
Die
Rosenthaler Straße herunter kommt mir ein junger Mann entgegen in
Schlafanzughosen und mit Badetuchturban in leuchtendem Blau.
Ich
schaue hin. Und ich mache mir Gedanken über das Hin- und das Wegschauen.
In
dieser Stadt scheint das Wegschauen zu verbinden.
Du
schaust nicht hin, wenn Hautfarben wechseln zu Bronze oder Kaffeebraun oder ins
Schwarz der Elfenbeinküste, wenn Kopftuchfrauen mit Kinderwagen dich im Pulk zur
Seite schieben, wenn Gesprächsfetzen fremder Sprachen, fremder Dialekte mit dir
Schritt halten oder schnell an dir vorüberhuschen. Dein Blick geht solidarisch
ins Weite.
Ich
finde keinen Schluss für mein Tagebuch.
Ein
Schluss soll sich nicht weise aufspielen. Und ich sage es zur Stadt. Also gehe
ich hoffnungsvoll inmitten ihrer stolzen Bäume.
Bald
werden sie wieder grün.“
Das
erzählt mir Annerose durch diese Glaswand aus dem jenseitigen Berlin,
aus
ihrem neuen Zuhausen.
In
meiner Angstkammer
verberge ich
Nichtgesagtes
Nichtgeschriebenes
Nichtgetanes
Vertagtes
Versäumtes
Verlogenes
In
meiner Angstkammer
verberge ich
die
Angst
Alle
Jahre wieder
Kyrie
eleison
Krippenchristkindkreuzes
videoundbarbiepuppe
Gloria in excelsis
REPRO
Sanctus Sanctus
Dominus Deus
Kyrie
eleison
Allüberall
mit
Sang und Schall
VERPUPPUNG
Sie
ist auf Jobsuche. In ihrem Geldbeutel sind noch zehn Euro. Die müssen reichen
bis zum Monatsende.
Beim
Discounter am Alten Bahnhof, wo teils die Waren in Kartons aufeinandergestapelt
sind, gibt es Haferflocken im Sonderangebot. Sie kocht sie mit Wasser und etwas
Salz zu einem dicken Brei, fast so dick wie Brotteig. Auf den Wiesen hatte sie
Zwetschgen eingesammelt und damit hastig ihren Rucksack gefüllt aus Angst,
jemand könnte sie beobachten. Nun kocht sie Zwetschgenmus, isst es zusammen mit
dem Haferbrei ganz andächtig auf ihrem Küchenstuhl und denkt: Eigentlich ein
Festessen.
Die
Haferflocken sind aufgebraucht. So geht sie wieder zum Discounter am alten
Bahnhof.
Dicht
vor ihr schiebt ein Mann den Einkaufswagen. Sein stumpfes, verfilztes Haar fällt
schulterlang über das fleckige T-Shirt. Ausgeleiert hängt es über den zu weiten
Jeans. Typ Loser, denkt sie.
Am
Wühltisch sieht er sich lange einen Jogging-Anzug an, legt ihn wieder zurück.
Dann schichtet er sorgfältig ein paar Packungen Graubrotschnitten vom
Sonderangebot in den Wagen.
Bei
den Getränken tut er einige Flaschen Bier hinzu.
Aha!
denkt sie, ein Saufbruder. Geld spielt wohl hier keine Rolle!
An
der Kasse lässt er den zwei laut debattierenden Afrikanern und der Muslima mit
dem quengelnden Baby den Vortritt.
Dann
legt er seine Waren aufs Förderband. Die Kassiererin sagt ihm die Endsumme.
Er
kramt in seinen Hosentaschen nach Geld.
Das
Baby hat aufgehört zu quengeln, tatscht in den Bart des Mannes.
Er
lächelt – und während er zahlt, lächelt er noch immer.
Draußen erwartet ihn ein Pulk Obdachloser, einige mit Rucksäcken, einige mit
Plastiktüten.
Er
beginnt, das Brot und die Bierflaschen unter ihnen zu verteilen.
Eine
Frau ist dabei. Sie scheint zu ihm zu gehören.
Man
hört ihren Namen.
Es
ist Magdalena.
Ina
und Eliane – keine lesbische Liaison und daher für Nachbarn nicht von Interesse.
Ina
nahm Eliane zu sich nach dem Tod von Marc.
Eliane ist schweigsam.
So
ist ihr nicht gegeben, eine Sache geschwätzig zu kommentieren,
Ina
würde sagen, Sätze strategisch anzuwenden, „denn – so machen es doch alle, die
Politiker, die Wissenschaftler und die Verkünder des rechten Glaubens.“ „Auch
ich“, sagt Ina, „liebe das hurenhafte Pfauengefieder der Sprache.
Doch
– sag mir, Eliane – das Geheimnis deines Schweigens.“
Eliane bleibt stumm und hört zu.
Dann
plötzlich sieht Ina ganz deutlich: Eliane hat Durst.
So
geht Ina in die Küche, holt die Gießkanne, füllt sie mit Wasser und gibt Eliane
zu trinken.
Sieh
doch
die
Mauer
graues Wesen
alt
wie die Welt
aus
einem Spalt
wächst grüner Efeu
die
Mauer hat
geboren
ging
lange schwanger
mit
dem
Geheimnis
ganz
schweigender Stein
sehnte sich
nach
dem Augenblick
dass
der Wind sie küsse
zurück blieb
ein
Samenkorn
das
wuchs
Es
begann mit einem Haselnuss-Stecken.
Großvater hatte ihn im Wald geholt und sein Platz war die Lücke zwischen
Küchenschrank und Wand.
Ich
bin drei Jahre alt und schleudere im Übermut meine Puppe unter den Küchenherd.
Sie scheint mir für immer verloren.
Großvater holt den Stecken, wir legen uns beide flach auf den Boden und während
er nach meiner Puppe angelt, halte ich den Atem an.
Da
plötzlich liegt die Puppe - weiß eingestaubt - vor meiner Nase.
"Ja
siehst du! Geht doch!", sagt Großvater.
Bei
meinem Vater geht immer eher etwas nicht oder es geht zumindest nicht so.
Eines
Tages will er Muggl, meinen Hasen, schlachten für den Sonntagsbraten.
Muggl
soll davor noch ein bisschen fröhlich im Gehege herumhopsen.
"Du
stellst dich jetzt da hin und passt mir auf den Hasen auf, dass er nicht
abhaut!", sagt Vater.
Kaum
ist er im Haus verschwunden, öffne ich das Gatter. Muggl schlägt einen Haken und
sucht mit weiten Sprüngen die Freiheit.
Er
kommt nie wieder zurück.
"Geht
doch!", sage ich mir und weiß Großvater auf meiner Seite auch noch, als Vater
mich schlägt und ich dabei den Küchenboden einnässe.
“Der
Vikar Müller ist ein so netter junger Mann!", sagt meine Mutter.
Ich
bin siebzehn. "Find ich nicht!", sage ich, "auf seinem Motorroller sieht er aus
wie draufgeschissen!"
Dennoch ist Herr Müller bei meinen Eltern zum Kaffee eingeladen.
Ich
rette mich blitzschnell hinauf in den Schuppen, verstecke mich hinter einer
Holzbeige und bin somit verschollen.
“Geht
doch!" - das waren Großvaters Worte und sie haben sich wohl tief in mir
eingenistet, um sich energisch einzumischen, wenn ich vor einer Entscheidung
stehen sollte.
Fragt
mich nicht, wie oft sie mich lehrten, sie wollten keine märchenhaften
Glücksbringer sein!
Stattdessen aber machten sie mich neugierig auf die Philosophie. Unter ihren
tausend Facetten interessierte mich besonders das Für und Wider des Handelns.
"Geht
doch!" - das ist wohl die Maxime des Handelns. "Stimmt!" würde Platon sagen,
unser über zweitausend Jahre alter Großvater der Europäischen Aufklärung, "aber
es ist die Idee, die etwas zum Gehen bringt. Und am Anfang stand die Idee."
Ich
bin auf dem Weg zur Demonstration "Friday for future" - der weltweite Streik der
Schüler für die Zukunft der Erde.
Über
den Platz am Brandenburger Tor tönt der Song der Beatles "Let it be...“
Paul
McCartney`s Mutter starb, als er erst vierzehn war.
Sie
waren arm, die Mutter arbeitete hart, aber immer hatte sie tröstende Worte für
den kleinen Paul.
Jahre
später trifft ihn wieder ein Schicksalsschlag. Dann erscheint ihm im Traum die
Mutter.
So
heißt es am Schluss des Songs: "..mother Mary comes to me speaking words of
wisdom: let it be. "
Immer, wenn du unglücklich bist, mein Junge, sollst du dir sagen: "Geht doch!"
Zigtausende Demonstranten brechen sich Bahn nach allen Seiten und scheinen die
Stadt zu überfluten.
Die
Jugend meldet sich zurück.
Und
ich denke: Da war doch mal was...
"Bleibt dran!", rufe ich einer Gruppe von Schülern zu.
Da
ist mir, als sähe die Stadt selbst auf die Menge, leidgeprüft, kämpferisch,
naturverbunden.
Ihr
graues Haar ist zerzaust vom Wind, der aus der Taiga kommt.
So
lächelt sie uns zu:
"Ich
bin an eurer Seite.
Nu
kiekt nischt so!
Geht
doch ! "
Auf
dem weg
zu
dir
auf
dem weg
zu
mir
auf
schmalem grat
in
der tiefe
das
einhorn
winkt
herauf
aus
dem abgrund
über
den wir gehen
auf
schmalem grat
Ich
bin in den 90er Jahren des vorigen Jahrhunderts.
Die
Straßenpassanten tragen noch keine Handys und keine Kopfhörer.
Viele
sind zu Fuß von A nach B unterwegs, um einfach an einen Ort zu gelangen.
Meine
Zeitreise ging an einen Ort der Erinnerung.
Auf
Plakaten lese ich: Die Baden-Württembergischen Literaturtage sind in
Vorbereitung, diesmal zu Ehren von Hermann Hesse.
Sie
feiern auch den 120. Geburtstag des großen Sohnes der Stadt.
Obgleich Literaturnobelpreisträger, war er zu Lebzeiten ungeliebt als der
„Prophet im eigenen Land“, als der Taugenichts und Rebell gegen die Knute des
schwäbischen Pietismus.
So
verließ er in jungen Jahren jede Schule und auch seine Lehre und schließlich für
immer sein Schwarzwald-Heimatstädtchen.
Spitzgiebelige Fachwerkhäuser stehen mit der ehrwürdigen Stiftskirche um den
alten Brunnen. Enge Gässchen und Stufen führen hinauf zu den höher gelegenen
Fachwerkhäusern. Dahinter türmen sich schwarze, bewaldete Hügel auf.
Auf
dem Marktplatz höre ich gemächliches Klopfen und Hämmern. Bücherstände und Buden
werden aufgebaut.
Zwei
junge Autoren sitzen vor dem Lokal von Giuseppe und schlürfen ihren Cappuccino.
Sie kennen einander seit der Schulzeit, nennen sich gegenseitig ´Schniege´ und
´Schlumpi`.
Schniege zu Schlumpi: „Deine Hippie-Mähne, Schlumpi, ist doch inzwischen
megaout. Wir sind nicht mehr in den Siebzigern, born to be wild – und so.
Und
dein megaweiter Strickpulli erinnert mich an die Schaustricker der ersten Grünen
im Bundestag.
Sag,
Schlumpi, warum beteiligst du dich nicht mit einem Bücherstand?
Schlumpi: Ich hab mich nicht angemeldet. Mit deinem Bestseller kann ich nicht
konkurrieren. Hab nun mal kein Talent für Krimis. Mir fehlt auch das
Marketing-Knowhow. Wie hast du es geschafft? Doch wohl nicht nur mit deiner
geschniegelten Frisur und deinen Bügelfalten?
Schniege: Du brauchst connections auf Teufel komm raus, Beziehungen, sei es zum
Teufel selber, der reicht dich nach oben weiter bis in die Medien und
Fernseh-Talkshows. Das ist schon mal die halbe Miete. Du präsentierst dich und
nicht deinen Text. Die Masse will kein intellektuelles Gesäuere über des Lebens
Widersprüche, sie will nicht das Hohe Lied der Selbstverwirklichung, mein lieber
Schlumpi. Der Weg ist ihr zu lang und zu steinig. Die Masse will Unterhaltung.
Neue
Empfindsamkeit – das hatten wir doch alles schon.
Doch
die Verhältnisse – die sind nicht so, sagte schon Bert Brecht.
Schlumpi: Danke, Schniege, so bist du immer noch mein Freund. Trotz BWL-Studium
hast du auch die großen Literaten gepackt.
Schniege: Gepackt aber auch die Gelegenheit, ans Geld zu kommen.
Die
Klassiker benutze ich nur, um sie zu zitieren. Das macht Mords-Eindruck.
Sag,
Schlumpi, kokst du noch gegen deine Lahmarschigkeit?
Nun
geh endlich rein zu Giuseppe ans Telefon und ruf die Verwaltung der
Literaturtage an. Hier ist die Nummer.
Schlumpi erhebt sich umständlich vom Stuhl.
Giuseppe summt ´avanti popolo...avanti popolo…` und reicht ihm fröhlich das
Telefon.
Schlumpi: Hallo! ist hier die Verwaltung der Literaturtage?
Stimme: Jo, genau, des sen mir!
Schlumpi: Ich wollte fragen, ob noch ein Platz frei wäre für einen Buchstand.
Stimme: Em Prinzip jo...wie isch denn dr Name ihres Verlags?
Wie??
Huberle-Verlag? Der Name sagt mir garnix.
Jetzt
halt a mole...Ihr wievieltes Buch isch es denn?
Schlumpi: Mein erstes.
Stimme: Jo, was meinet se denn, wieviele Autoren mit ihrem allererschte Buch bei
ons gern en Schtand hättet?! Do wär für unsere bekannte Autoren bald koi Platz
mehr geschweige denn für onsere Beschtseller.
Ach
so!...Wie heißet se denn übrigens?
Schlumpi sagt:
Ich
heiße Hermann Hesse.
geh
schneller
überhole
software
und
deine reaktion
die
zu spät käme
überhole
das
überholen
geh
schneller
nach
nirgendwo
made
in silicon valley
da
weisen silberne spinnen
dir
deine einbahnstraße
hinter die zeit
da
ist der schilf
aus
metall
da
dümpelt
online
dein
kahn
nach
nirgendwo
die
zeit ist gekommen
eine
sänfte aus dollarmilliarden
dem
volk geraubt
trägt
mister president an die macht
so
kann er sagen
yes
we can
und
oh we
can be heroes not just for one day
we
can be heroes
forever
was
kümmern mich eurokrise
windräder atomkraftwerke
menschen die von müllhalden essen
was
kümmern mich
dschihad und gottesstaat
unsere reihen sind fest geschlossen
im
spy center von utah
feiern wir unseren traum
of a
permanent solution
dort
hält big brother
eure
digitalen ketten in seiner faust
forever
dort
überwacht und hütet er
eure
träume
eure
sehnsucht nach dem du
wer
unter uns zieht den stecker
wirft
rechner robot telefon und handy
auf
den müll und flüchtet
in
die wälder zum jagen
in
die höhlen
zum
hüten des feuers
die
zeit läuft nicht rückwärts
w a s
t u n
bevor
wir alle rufen
yes
we can
heil
mister president
dich
grüßt dein volk
der
world wide web society
Es
ist ein klirrend kalter Dezemberabend vor der Jahrtausendwende.
Mühsam rutscht mein Auto durch die Schneedecke den Bergpfad hinauf.
Oben
angekommen, sehe ich am Nachthimmel eine Uhr in der Größe des Mondes.
Ihre
leicht verschwommenen römischen Ziffern zeigen auf zehn Minuten vor halb zwei.
Auf
meiner Autouhr ist es genau zehn Uhr abends.
Nein,
es ist kein Traum! sagt mir der Geruch der frischen Lauchzwiebeln.
Er
kommt vom Rücksitz aus meinem Einkaufskorb.
Aber
am Himmel steht die Uhr.
Ach
so! Jahrtausendwende!
Ein
besonderer Werbegag – nur – für welche Firma und für welches Produkt?
Zu
Hause angekommen, ärgert mich der Schneeberg vor der Garage. Ich vergesse die
Uhr.
Das
war gestern. Doch wieder steht die Uhr am Nachthimmel.
Auf
dem Feldweg kommt mir ein junges Paar entgegen. Ich fasse Mut und frage: „Bitte,
entschuldigen Sie, wissen Sie, was das für ein Uhr ist da oben?“
Der
junge Mann: „Wie – was?“
Die
junge Frau beschwichtigend: „Ach so...ja, ja! Da ist eine Uhr.“
Ich:
„Ja schon! Aber woher kommt sie?“
Die
Frau zum Mann: „Weißt du es?“
Der
Mann zieht die Frau energisch am Ärmel und klopft sich dreimal mit dem Finger an
die Stirn.
Mit
schnellem Schritt gehen sie untergehakt weiter.
Zu
Hause knipse ich die Tagesschau an. Als Schlusslicht der Nachrichten kommt die
Wiedergabe der Prophezeihung einer Sekte, die Welt gehe unter pünktlich zur
Jahrtausendwende.
Nur
keine Rede von der Uhr, etwa als mögliches Symbol.
Doch
warum zeigt sie dann zehn Minuten vor halb zwei und nicht fünf Minuten vor
zwölf?
Außerdem bin ich nicht abergläubisch.
Ich
schaue zum Fenster hinaus an den Nachthimmel. In einigem Abstand von der Uhr
steht der Mond. Jetzt umgibt ihn deutlich ein blassgelber Ring.
Ich
hole meine Brille aus der Schublade. Vor ein paar Wochen habe ich sie gekauft
für längere Autofahrten.
Durch
die Brille sehe ich zum Himmel. Da steht der Mond nun ganz ohne Ring und die Uhr
ist verschwunden, weggezaubert.
Dennoch: Meine Uhr begleitet mich auch heute, wenn ich ohne Brille und mit
bloßen Augen zum Nachthimmel hinaufsehe.
So
kündet sie von Wahrheiten aus längst vergangenen Zeiten, wo es noch keine
Brillen gab.
Neue
Bedrohung
altes
Feindbild
neue
Waffen
neue
Kriege
Über
Auschwitz
und
die verbrannte Erde des Ostens
und
das mit Napalm verseuchte Vietnam
über
Hiroshima und Nagasaki
über
Syrien, Irak und Afghanistan
zieht
sich die Blutspur
eurer
Kreuzzüge
nach
der Gleichung eurer Legitimation
Die
Juden die Linken die Nigger
die
Schwulen der Islam
doch
Revolutionen Gentlemen
überlasst ihr dem Volk
und
Scheich und Mullah eure Waffen
Allah-hu Akhbar – Remember the Prince
Und
wieder liefert euch
die
Geschichte
die
Krise frei Haus
Neue
Bedrohung
altes
Feindbild
neue
Waffen
neue
Kriege
Geschichten von früher für Kinder von heute
Ich war
eben sechs Jahre alt geworden und es war noch Krieg.
In einem
Geschäft konnte man nur Mehl, Zucker, Essig und ein paar andere Sachen und beim
Bäcker eine einzige Sorte Brot und Brötchen kaufen, eben nur das, was man
dringend brauchte, um nicht zu verhungern. Es gab natürlich auch keine
Süßigkeiten.
Allerdings
ging es den Leuten auf dem Dorf, wo ich lebte, etwas besser als den
Stadtbewohnern. Aus Berlin kamen deshalb zu uns viele Kinder. Eigentlich waren
sie Hungerflüchtlinge. Sie wurden aber Ferienkinder genannt. Ihre Eltern waren in
der Stadt zurückgeblieben.
Wenn man
auf dem Dorf einen Bauernhof hatte oder wenigstens einen Garten mit Obstbäumen
und Beerensträuchern, konnte man zum Beispiel ein Schwein oder ein Huhn
schlachten oder die Kuh melken. Und aus dem Garten holte man die Äpfel, Pflaumen
oder Beeren.
Sie wurden
von der Mutter in Gläser gefüllt und in heißem Wasser für den Winter haltbar
gemacht. Oder die Beeren wurden weich gekocht zu Marmelade und ebenfalls in
Gläsern aufbewahrt.
Frau Pfistert, unsere Nachbarin, hatte viele
von diesen vollen Vorratsgläsern in ihrem Keller. Sie standen alle auf einem
großen, hohen Regal. Stellt euch ein Stockbett vor wie euer eigenes, aber viel
höher und mit
vier
breiten Etagenbrettern übereinander.
Man hätte
darauf schlafen können. Einmal hatte ich das Regal gesehen, als ich bei Manfred
war. Manfred, ihr Sohn, war öfters mein Spielkamerad.
Eines
Tages war ich wieder einmal mit Manfred und meinen Freundinnen Anni, Herta,
Helga und Gisela zusammen.
„Wir
könnten Verstecken spielen“, sagte ich.
„Aber bei
uns!“, sagte Manfred. Meine Mutter ist heute
nicht da. Wir haben das ganze Haus für uns und auch den Keller.“
„Nein,
nicht im Keller!“ rief Helga, „da hat es bestimmt Mäuse!“
„Ich will
nicht schon wieder Verstecken!“, sagte Gisela, „das ist ein Spiel für
Babies!“
„Ich weiß
etwas!“, rief ich. „Wir spielen Krankenhaus in Pfisterts Keller. Da sind noch
zwei Etagenbretter frei, eines ganz unten und das andere ganz oben. Auf den
mittleren beiden Brettern stehen die Obst- und Marmeladengläser.
Ich bin
die Krankenhauschefin, weil ich zuerst die Idee hatte.
Also
bestimme ich und zwar kommen auf das untere Brett die Kinder, die nicht sehr
verletzt sind. Wer ist die Krankenschwester?“ „Ich mit Anni!“, rief Gisela, „wir
können das oberste Brett als Operationszimmer benutzen.“
Da saß
schon Manfred mit Helga und rief: „Ich operiere. Ich nehme mein Taschenmesser.“
Dann zog er es aus seiner Hosentasche und schwenkte es stolz durch die Luft.
„Das
machst du nicht!“ rief Helga.
Manfred
darauf: „Warum nicht? Glaubt ihr, ich könne nicht aufpassen?! Ich bin doch der
Arzt! “
„Ich geh
gleich heim! Gib dein Messer her!“ schrie ich zu Manfred hoch.
Doch er
grinste von oben herunter und sagte dann beleidigt: „Jetzt hab ich keine Lust
mehr, ihr seid ganz doofe Spielverderberinnen, halt eben Mädchen!“
Auf dem
untersten Brett wurden nun auch Anni und Gisela und ich sehr böse auf Manfred.
„Du bist
der Spielverderber und nicht wir!“ riefen wir nach oben.
Als
Manfred herunterklettern wollte, hielt ihn Anni an einem Bein fest.
Da
plötzlich begann der Marmeladenständer zu schwanken wie ein Schiff im Sturm.
Er kippte
um und wir alle wurden darunter begraben. Über unsere Köpfe, Gesichter und
Kleider lief die Marmelade und lief das Apfelmus. Wir schrien „au! au!“, denn
uns piksten die Glasscherben.
Aber zum
Weinen hatten wir keine Zeit. Wir mussten uns mutig und schnell aus dem
Marmeladenständer-Wrack befreien.
Inzwischen
war Frau Pfistert zurück ins Haus gekommen.
„Ja um
Himmels willen!“ rief sie und schon war auch meine Mutter da.
Könnt ihr
euch denken, was ich nicht vergessen habe?
Weder Frau
Pfistert noch meine Mutter haben uns ausge-schimpft.
Ich
glaube, sie dachten: Zum Glück ist keinem der Kinder etwas passiert.
Es hätte
ja auch schlimmer kommen können.
Meine
Mutter sagte nur: „Dein schönes weißes Sonntagskleid ist jetzt voller
Heidelbeeren. Ich krieg`s nicht mehr sauber und muss es wegwerfen.“
Meine
Schulkameradin
hieß Anni. Sie war ein Jahr älter als ich, also neun Jahre alt und ging mit mir
in die Grundschule unseres Dorfes.
Anni
wohnte auf der anderen Straßenseite auf einem großen Bauernhof mit Pferden,
Kühen, Hühnern, Enten und Gänsen. Es gab auch einen großen Hund.
Im Herbst
half ich der Anni beim Hüten der Kühe.
Das
durften wir beide ganz allein machen und ich lernte bei Anni, wie ich die Kühe
losbinden und aufpassen musste, dass sie ungefähr, ohne zu drängeln, brav die
Straße entlang zu den Waldwiesen liefen.
Die Kühe
hatten alle ihre Namen wie Alma, Liese, Berta und so weiter. Eine davon hieß
Rosa und war ziemlich langsam, weil sie ein krankes Bein hatte. Wir wollten sie
aber nicht allein im Stall zurücklassen. Anni lief der Kuhherde voraus und ich
lief ganz hinten, also hinter der Rosa, damit sie noch mitkommen konnte. Die
Kühe kannten alle ihre Namen und hörten darauf.
Bald waren
wir bei den Wiesen am Wald angekommen. Hier weideten unsere Kühe zufrieden und
gingen auch nicht in den Kleeacker nebenan. Das wäre sehr, sehr gefährlich
gewesen, denn wenn Kühe den gut schmeckenden Klee fressen, bekommen sie einen
ganz dick aufgeblähten Bauch, der dann aussieht wie ein großer Luftballon. Daran
hätten sie sterben können. Aber wir passten auf.
Wir hatten
auch genug Schatten und die herunterhängenden Äste der Tannen waren unsere
Schaukeln. Mit ihnen schaukelten wir sehr hoch und spielten, wer am weitesten
schwingen konnte. Aber wir hatten uns dabei nicht gestritten, wenn eine von uns
gewonnen hatte.
Etwas
weiter weg von uns saß der Hubert auf einem Hügel und spielte auf seiner Flöte
ein Lied. In der Schule gab es auch einen Flöten-Unterricht. Hubert hütete die
Kühe von einem anderen Bauern. Wir riefen „Hallo Hubert!“ Und Hubert antwortete
gleich mit einem neuen Lied.
Dann wurde
uns das ein bisschen langweilig und wir stiegen die Leiter hoch auf einen
Jäger-Hochstand. Er sah aus wie ein Baumhaus.
Die Kühe
weideten friedlich und gingen nicht auf den Kleeacker. So konnten wir auf dem
Hochstand Mittagessen-Kochen spielen. Wir setzten uns auf die Holzbank und aßen
unser mitgebrachtes Vesperbrot mit dem Sauerampfer. Den hatten wir auf der Wiese
gepflückt und er schmeckte gut wie Salat und war nicht giftig. Plötzlich sagte
Anni: „Ich glaube, es regnet. Merkst du das auch, Christel?“ Ich sagte: „Ja, da
tröpfelt es ja durch das Dach! Aber draußen ist doch der blaue Himmel und Sonne
und keine einzige Regenwolke!“
Wir aßen
weiter, aber wir hatten ein bisschen Angst, weil wir uns nicht denken konnten,
woher der Regen kam. Ich hatte schon einige Tropfen auf meinem Arm. Anni sagte:
„Guck mal raus ! Der Hubert ist ja gar nicht mehr bei seinen Kühen und flötet
auch nicht mehr!“
Da bekamen
wir einen Riesenschreck. War das ein Waldgeist? Über uns brummte etwas
schrecklich wie ein Löwe.
Das war
der Hubert !
Er war
heimlich still und leise die Leiter hochgeklettert, hatte sich aufs Dach gesetzt
und zwischen den Bretterritzen auf uns heruntergepullert.
Ich war
acht Jahre alt, in der zweiten Klasse und es waren Sommerferien.
Die Sonne
schien zum Fenster herein, draußen gackerten die Hühner.
Meine
Reitze-Großmutter - ich nannte sie „Oma“ – rasselt gemütlich mit ihrer
Nähmaschine und nähte Stoff-Flecken auf die Löcher von Großvaters Hose. Dabei
gab es einen herrlichen Abfall von bunten Schnippeln. Ich hob sie vom Boden auf
und nähte daraus mit ganz einfachen Stichen Kleider für meine Puppen.
„Jetzt
loos amol“, sagte Oma - das sollte heißen 'jetzt hör' mal her! ' - „nächste
Woche fahren wir beide zusammen mit dem Zug nach Biberach zum Schützenfest.
Dann heißt
es Tsch, tsch, tsch und pfüüüüt! - so macht die Lokomotive, die den Zug zieht,
wenn sie an einem Bahnhof hält“. Vor Freude musste ich erst einmal durch den
Garten rennen, denn noch nie war ich mit einem Zug gefahren.
In
Biberach hatten wir Verwandte. Dazu gehörten die Tante Walli, der Onkel Anton,
ihr Sohn, der Fred, und Marianne, ihre Enkeltochter. Sie war so alt wie ich.
Unsere
Biberacher waren sehr arm und hatten wenig zu essen. Es war ja die Zeit nach dem
Krieg, wo die Bomben auf viele Städte gefallen waren. Es gab immer noch wenig zu
kaufen und die Stadtbewohner hatten keine Gemüse- und Beerengärten, keine
Kartoffel-, Kraut- oder Getreideäcker wie wir auf dem Dorf.
Meine
Reitze-Großeltern hatten sogar im Garten einen Hühnerstall mit vielen Hühnern,
dazu einen Hahn und im Schuppen gab es einen kleinen Stall. Dort grunzte unser
Schwein, das im Herbst geschlachtet wurde, so dass wir auch Fleisch hatten.
Allerdings
gab es auch bei uns auf dem Dorf keine Süßigkeiten zu kaufen. Ich wusste also
nicht, wie eine richtige Schokolade oder Bonbons aussehen.
Am Abend
vor unserer Abreise packte Oma in zwei Pappkartons Mehl, Eier, Gläser mit Wurst
und Fleisch und selbstgemachter Marmelade. Dann holten wir auch noch Sauerkraut
aus dem Keller. Oma hob den Deckel vom Krautfass und mir war, als würde das
Kraut zu mir sagen: „Ja siehst du, wie fein würzig und saftig ich geworden bin,
weil du so fleißig warst!“ In jedem Herbst musste ich nämlich bei Oma einen
ganzen Nachmittag lang mit sauber gewaschenen nackten Füßen das frisch
geschnittene Kraut einstampfen. Das war unsäglich langweilig.
Der Tag
war gekommen!
Wir
mussten schon um vier Uhr aufstehen. Die vollen Pappkartons packten wir auf
unseren kleinen Leiterwagen und zogen ihn drei Stunden lang durch den Wald und
ein Dorf bis zum Bahnhof nach Großschafhausen. Der Bahnhof war sehr klein, auch
der
Warteraum. Er hatte nur zwei Bänke.
„Hörsch,
hörsch!?“, sagte Oma plötzlich. Da kam der Zug schon angeschnauft!
Und es
zischte und dampfte zum Kamin der Lokomotive hinaus.
Im
Zugabteil saß uns gegenüber eine Frau mit einem kleinen, etwa dreijährigen
Mädchen und auf der anderen Seite ein älteres Ehepaar.
„Wo kommet
Ihr her?“ fragte Oma sie alle. Dann redeten sie miteinander über eine fremde
Stadt, die mich nicht interessierte.
„Also Oma!
Das ist mir jetzt langweilig, von wo die alle her-kommen“, sagte ich.
„Dann
guck` zum Fenster raus!“ lachte Oma, „siehst du nicht, wie schnell die Bäume und
Häuser vorbeifliegen?“
„Oh Oma!
Ich bin doch kein Baby! Nicht die Bäume und Häuser fliegen vorbei! Es sieht nur
so aus. Es ist der Zug, der dran vorbeifliegt!“, sagte ich.
Nun packte
Oma das Vesper aus. Es war Schmalzbrot und eingewickelt in Zeitungspapier, denn
damals gab es noch keine Boxen für Pausenbrote und auch keine Plastiktüten.
Die
Wohnung von Tante Walli und Onkel Anton hatte nur zwei kleine Zimmer und eine
winzige Küche. Im Schlafzimmer hatten nur ein Bett und ein Kleiderschrank Platz.
Onkel Antons Schlafplatz war auf dem Sofa. „Ich schlaf auf dem Boden“, sagte
Fred, „das macht doch mir nichts aus! Bei den Pfadfindern müssen wir oft auf dem
kalten Waldboden schlafen. Ihr Mädchen habt ja keine Ahnung! “
„Gib bloß
nicht so an!“, schimpfte Marianne. Ich mochte sie gleich sehr und bewunderte
sie, weil sie sich von Fred nichts gefallen ließ.
In Tante
Wallis Bett lagen Marianne und ich zusammen am Fußende. Tante Walli lag
umgekehrt und zwischen uns waren ihre Füße, sozusagen als Grenze.
„Nun gebt
mal Ruhe! “, rief Tante Walli. Einmal wurde sie fast böse, weil wir sie an den
Zehen kitzelten.
Am Tag
darauf gingen wir zusammen zum Schützentheater. Da gab es einen großen Saal mit
vielen Sitzen und eine Treppe höher war die Empore, wo auch überall Leute mit
Kindern saßen. Unter der Bühne, es heißt „der Orchestergraben“, saßen die
Musiker mit einem Klavier, mit den Geigen, Flöten, Trommeln und anderen
Instrumenten. Sie übten schon ein bisschen mit ganz leisen Tönen. Dazu bewegte
sich geheimnisvoll der noch geschlossene Vorhang.
Dann wurde
es dunkel. Langsam hob sich der Vorhang.
Wir sahen
den prunkvoll glitzernden Saal eines Schlosses.
Die Musik
spielte eine lustige Polka und von allen Seiten tippelten kleine Mädchen heran.
Sie waren
verkleidet als Puppen in hellblau und rosa Röckchen und Käppchen und tanzten ihr
Puppenballett. Die jüngsten unter ihnen waren etwa drei Jahre alt und gingen in
einen Biberacher Kindergarten, heute „Kita“ genannt.
Doch was
waren das für zwei kleine Kobolde?!
Es waren
Prinzessin Huschewind und ihre Freundin, das Köhler-Käthchen. Sie tollten kreuz
und quer herum und spielten zwischen den Puppen Verstecken.
Das
ärgerte sehr den Hofmarschall. Er war der Lehrer von Prinzessin Huschewind.
Gekleidet in würdevolles Schwarz kam er hereingestürmt und verfluchte laut die
Prinzessin:
„Würdest
du doch auf deinem Stuhl festwachsen und so lange
festgewachsen bleiben bis der Wald zu dir ins Zimmer kommt!“
Leider
ging diese Verwünschung schnurstracks in Erfüllung.
Darüber
war nun der Vater der Prinzessin, der König, sehr böse. Er jagte den
Hofmarschall aus dem Schloss und befahl ihm, so schnell wie möglich den Wald ins
Zimmer zu holen.
Nun ging
also der Hofmarschall, begleitet vom Köhlerkäthchen, in den Wald zum Bäumchen
Wiegewind. Doch leider konnte es nicht helfen, denn seine Wurzeln waren ja, wie
auch die Wurzeln der anderen Bäume, tief in der Erde angekettet. Das war das
Reich von König Wurzelgraus.
Der
Hofmarschall und das Käthchen waren ratlos und verzweifelt. Da plötzlich kam ein
Wandergeselle daher. „Habt ihr keine Lust, mit mir weiter zu wandern?“, fragte
der junge Mann.
So kamen
alle Drei an eine alte Mühle, genannt „Tausendwunsch“. Dort lebte der sehr
geizige, habgierige Müller Rumpelsack.
Er war ein
richtiges Ungeheuer, denn weithin war bekannt: Er fing Menschen und die Tiere
des Waldes und mahlte sie kurz und klein in seiner Mühle zu Geld, damals waren
es Golddukaten.
Zunächst
war er nicht zu sehen. Da plötzlich kamen von allen Seiten viele Mehlsäcke
angehoppelt und tanzten langsam und schwerfällig das Mehlsack-Ballett.
Aus der
Tür kam nun der böse Müller mit seiner weißen Zipfelmütze und lud die drei
Wanderer ein, bei ihm zu übernachten. Natürlich wollte er sie zu Gold zermahlen.
Dem
Wanderburschen fıel nun eine List ein. Er fragte den Müller nach dem Mühlbach.
„Wir sind so vollgeschwitzt und würden gern zuvor ein Bad nehmen.“ Der Müller
willigte ein.
Als er
ihnen voraus zum Mühlbach ging, stießen sie ihn mit einem kräftigen Ruck in den
tosenden Wasserfall und er ertrank.
Nun war
die Mühle - sie hieß ja Tausendwunsch - im Besitz der drei Wanderer und konnte
ihnen jeden Wunsch erfüllen.
„Vielleicht
weiß ja die Sonne Rat. Sie ist die Mutter aller Pflanzen und versteht sich doch
bestimmt mit König Wurzelgraus“, sagte der Wanderbursche.
„Also los
geht`s, liebe Mühle, bring uns zur Sonne!“
Das Gemach
der Sonne funkelte in goldenen Blitzen. Hinter einem halb geöffneten,
goldglitzernden Vorhang schlief die Sonne in ihrem Himmelbett, eine wunderschöne
Frau mit goldener Krone auf langen, rotblond glänzenden Locken. Um sie herum
saßen ihre Kinder, die vielen kleinen Sonnenstrahlen, in goldenen
Ballettröckchen.
„Bitte,
weckt eure liebe Mutter auf, ihr kleinen Sonnenstrahlen!“, bat das Köhler-
Käthchen. Und der Wanderbursche sagte: „Wir brauchen dringend einen kräftigen
Sonnenstrahl, auf dem wir hinabrutschen können ins Reich von König Wurzelgraus.
Den müssen wir um etwas sehr Wichtiges bitten.“
„Wir
dürfen unsere Mutter nicht aufwecken!“, riefen die Sonnenstrahlen.
„Dann
versucht es eben mit einem eurer schönen Tänze“, sagte der Wanderbursche.
Nun
ertönte aus dem Orchestergraben ein wunderschöner Walzer, die kleinen Strahlen
bewegten sich im Kreis und funkelten um die Wette.
Die Sonne
erwachte. Sie rückte ihre lange, goldene Schleppe zurecht und lachte freundlich,
wie nur die Sonne lachen kann. Dann schickte sie die drei glücklichen
Wandersleute tief hinab auf die Erde.
Im Reich
von König Wurzelgraus war es düster, feucht und halb dunkel.
Mit
geschlossenen Augen bewachte der Igel Grunzegrus die Wurzeln der Bäume.
„Wo finden
wir nun den Schlüssel zum großen Wurzelschloss?“, rief das Köhler-Käthchen. „Das
ist doch einfach“, sagte der Wanderbursche, „der Igel hat seine Augen ja
geschlossen. Und seht doch! Der Schlüssel liegt dort neben ihm im Moos vor dem
großen Wurzelschloss! Wir müssen uns beeilen, bevor uns König Wurzelgraus
entdeckt.“
Nun ging
alles sehr schnell. Das Köhler-Käthchen öffnete mit Hilfe des Sonnenstrahls das
Wurzelschloss. Dann befreite es zuerst das Bäumchen Wiegewind und danach die
anderen Bäume von ihren Ketten.
Inzwischen
herrschte im Königspalast tiefe Traurigkeit. Prinzessin Huschewind war immer
noch an ihrem Stuhl festgewachsen. Da plötzlich erschien der Küchenjunge und
brachte die Nachricht: Ein ganzer Wald bewegt sich auf das Schloss zu.
Nun waren
sie alle eingeladen, vor allem die Bäume, der Wanderbursche, das Käthchen, ja
sogar der Hofmarschall.
Und zum
Schluss erschienen die Mehlsäcke aus der Mühle, die vielen Puppen des Palastes
und auch die Sonnenstrahlen. Dann humpelte schließlich noch der Igel zur Tür
herein.
Prinzessin
Huschewind war wieder frei und alle tanzten und feierten den Geburtstag der
glücklichen Prinzessin:
Im Land
war große Not. Besonders die Armen hatten fast nichts mehr zu essen.
Zu diesen
armen Familien gehörten auch Elisa und ihr Bruder Paul.
Elisa war
krank, so ging Paul eines Tages ganz allein zum Jahrmarkt. Dort gab es ein
Karussell und auch verschiedene Stände, wo Leute Eis und Süßigkeiten kaufen
konnten. Aber leider hatte Paul kein Geld.
Da kam er
an einem Mann vorbei. Der sah ein bisschen aus wie ein Clown und erzählte den
vorbeikommenden Leuten vom Schlaraffenland.
„Dort
müsst ihr für Essen garnichts bezahlen!“, rief er, „aber nur mutige Menschen
können das Schlaraffenland finden. Und sie werden für ihren Mut reichlich
belohnt, denn das Essen steht dort schon fertig gekocht überall herum. Gebratene
Hähnchen fliegen durch die Luft und in den Bächlein fließt Milch und Kakao.“
Bruder
Paul fragte: „Aber wie kommen wir da hin?“
„Ganz
einfach“, sagte der Clown. „Du wanderst nur durch den Wald und wichtig ist
dabei, dass du fest daran glaubst, dass du das Schlaraffenland finden wirst.
Irgendwann kommst du an eine hohe Felsenwand. Dann musst du sagen: Öffne dich,
du Felsenwand, führ` mich ins Schlaraffenland“.
Paul
machte sich nun gleich auf den Weg, ging durch einen dunklen Wald.
Paul hatte
Angst. Da sah er ein wanderndes Licht und folgte ihm.
Doch
plötzlich versanken seine Beine in einem schwarzen Sumpf. Er rief um Hilfe.
Ein alter
Mann mit einem langen weißen Bart tauchte auf aus dem Gebüsch und sagte: „Ich
helfe dir, aber du musst mir zuerst eine Frage beantworten.
Die
lautet: Was wird nicht weniger, sondern vermehrt sich, wenn man es teilt?“
Paul
dachte zuerst lange nach, dann sagte er, „ich hab`s! Wenn ich etwas, das ich
habe, mit anderen Menschen teile, dann bin nicht nur ich selber glücklich,
sondern das Glück ist plötzlich auch bei den anderen, weil auch sie sich freuen
können. Die Antwort auf deine Frage ist also: Das Glück vermehrt sich, wenn man
es teilt.“
„Richtig.
Du hast die Frage gelöst“, sagte der alte Mann und befreite Paul aus dem tiefen
Sumpf. Dann verschwand er.
Da krachte
es fürchterlich und Paul stand vor der hohen Felsenwand.
Er rief:
„Öffne dich du Felsenwand, führ` mich ins Schlaraffen-land!“
Paul flog
durch die Luft unter einem blauen Himmel und vorbei an weißen Wolken. Sie waren
aus Zuckerwatte. Dann stand er mitten auf einer herrlich grünen Wiese voller
Blumen. Aber diese Blumen konnte man essen, denn jede einzelne der Blumen war
ein herrlicher kleiner Kuchen, der eine aus Schokolade, ein anderer aus Himbeer-
oder Vanilleeis. Die Bäume und Sträucher ließen zu Pauls Begrüßung ihre Früchte
fallen, saftige Kirschen, Pflaumen und Beeren.
Nachdem
Paul sich erst einmal satt gegessen hatte, flog noch ein gebratenes Hähnchen um
seine Nase.
„Geh
endlich weg!“, schrie er, „ich bin so satt, dass mir mein Bauch weh tut!“
Nun sah er
ein Mädchen, gekleidet in ein wunderschönes Ballkleid mit hellblauen und
pinkfarbenen Rüschen. Sie schwang auf einer Schaukel fröhlich hin und her.
Paul
fragte sie: „Gibt es hier auch Geld? Ich brauche es dringend, damit ich zuhause
meiner Familie etwas zum Essen kaufen kann.“
„Ja
klar!“, sagte das Mädchen, „hey! komm` einfach mit! Wir haben im Schlaraffenland
genug Geld, aber wir brauchen es garnicht. Denn wir brauchen für nichts zu
bezahlen, nichts für Essen, nichts für Miete, nichts für Reisen, einfach für
garnichts!“
„Aber ich
brauche das Geld, weil meine Schwester krank ist und ich für sie in der Apotheke
Medikamente kaufen muss“, sagte Paul traurig.
Das
Mädchen antwortete: „Ich würde dir gern helfen. Du sollst wissen: Ich heiße
Malina und bin die Tochter des Königs vom Schlaraffenland. Vielleicht weiß mein
Vater einen Rat. Ich führe dich jetzt in unseren Palast.“
Dort wurde
gefeiert, gegessen und getrunken, eben wie jeden Tag, denn Arbeit gab es ja
nicht im Schlaraffenland.
Der König
war über die Maßen dick, eigentlich wie ein fettes Schwein.
Deshalb
konnte er sich auch nicht mehr von seinem Thron fortbewegen. Seine Arbeit war
das ständige Essen und das Spaßmachen zusammen mit den vielen Dienerinnen und
Dienern, die um ihn saßen.
Er
begrüßte Paul und fragte ihn gleich: „Sag mir, welches war der schönste Tag in
deinem bisherigen Leben?“ Paul sagte: „Mein schönster Tag war, als es mal eine
Torte zu meinem Geburtstag gab.“
Alle
schüttelten sich vor Lachen, denn Törtchen gab es im Schlaraffenland wie bei uns
Steine am Weg.
Paul
fühlte sich allein gelassen und fragte die Schlaraffenprinzessin: „Sag du mir,
welches war bisher dein schönster Tag?“
Das
Mädchen sagte: „Ich weiß es nicht. Und ich weiß auch nicht, was schön ist.
Vielleicht ist aber mein schönster Tag heute, weil ich dich getroffen habe. Du
sollst nicht mehr fortgehen.“
Der
Schlaraffenkönig rief: „Du bleibst hier, denn in der trüben Welt von Paul musst
du arbeiten. Dort musst du dir Geld verdienen, um essen zu können!“
Und der
Bruder der Prinzessin schnippte mit den Fingern und sogleich fielen schöne
Kleider auf Paul. „Komm mit mir , Paul, zur Party!“, rief er.
Paul gefiel
es aber nicht lange auf der Party, denn er war richtig vollgefressen und
vollgetrunken, hatte auch nichts Interessantes zu tun, die Spiele langweilten
ihn, weil alle nur herumalberten oder faul herumlagen.
„Wo ist
Malina?“, fragte er die immer nur dumm kichernden Mädchen, mit denen er sich
nicht normal unterhalten konnte.
Sie
wollten ihn festhalten, aber er riss sich mutig von ihnen los und begann, Malina
zu suchen. Sie war traurig und bat Paul, mit ihr zum Palast des Vaters zu gehen.
Dort wollte sie sich von allen verabschieden, um mit Paul zurück in sein Land zu
gehen, das ihr Vater „das trübe Land“ nannte.
Der König
sagte: „Du kannst gehen, aber du darfst nichts mitnehmen.
Das ist
die Regel für jeden, der die Grenze überschreiten möchte in euer trübes Land.“
„Es ist
kein trübes Land, denn ich gehe mit Paul und ich kann dort etwas tun“, sagte
Malina.
Der König
wurde wütend und sagte: „Was willst du denn tun? Etwas tun, das bedeutet, du
müsstest etwas arbeiten, etwas machen, und du hast doch nur gelernt, zu essen
und mit den Schlaraffen Quatsch zu machen. Wenn du die Grenze überschreitest
hinüber ins 'trübe Land', dann musst du dort ein ganz neues Leben beginnen.“
„Darauf
freue ich mich sehr!“, sagte Malina, „denn hier im Schlaraffenland ist es mir
unendlich langweilig, weil ich nichts zu tun habe, es ist ja immer alles da, was
ich mir wünsche, und so kann ich mich nie für etwas entscheiden, was ich selbst
gern tun möchte. Nein! Ich gehe mit Paul und ich möchte auch seiner kranken
Schwester helfen.“
„Wie
willst du helfen, wenn sie dort so arm sind?“, fragte der König.
„Ich kann
helfen, weil ich etwas tun kann, wenn ich eine Idee habe. Das stelle ich mir
sehr spannend vor, zu erleben, wie aus meinen Ideen etwas entsteht und du mir
nicht in alles hineinredest und ständig sagst, „strenge dich bloß nicht an! Es
ist nicht nötig, denn alles, was du brauchst, ist ja schon da.“
Weil sie die Regel befolgt hatten, nichts
aus dem Schlaraffenland mitzunehmen, kamen Malina und Paul an ein tiefes dunkles
Erdloch. Da krochen sie hindurch und standen nun plötzlich wieder auf dem
Jahrmarkt bei dem Mann, der
Paul
den Zauberspruch verraten hatte „öffne dich du Felsenwand...“
„Wir
kommen zurück aus dem Schlaraffenland“, sagte Paul.
Der Mann,
der aussah wie ein Clown, saß vor einem Beutel voller Geld, das ihm die
Jahrmarkt-Besucher gegeben hatten, weil sie alle ins Schlaraffenland gelangen
wollten, es aber nicht geschafft hatten, denn sie konnten ja die Frage des
weisen,alten Mannes nicht beantworten, der Paul aus dem Sumpf befreit hatte.
Nun
wollten sie ihr Geld zurückhaben. „Du hast uns betrogen!“, riefen sie.
Da
antwortete der schlaue Clown: „Zwei Menschen haben die Reise ins Schlaraffenland
und zurück geschafft. Das muss belohnt werden.“
Nun
reichte er Malina und Paul seinen Beutel. Darin war so viel Geld, dass sie die
Medikamente für Pauls Schwester Elisa kaufen konnten. So wurde sie wieder ganz
gesund. Aber das Geld reichte noch für viele andere schöne Dinge und so lebten
sie alle miteinander fröhlich und zufrieden und Malina wollte nie mehr
zurückkehren ins Schlaraffenland.
Ich bin in
der zweiten Klasse und acht Jahre alt.
Wie in
jedem Jahr will unsere Schule zu Weihnachten wieder ein Märchentheater aufführen
und dazu die Familien der Schüler und das ganze Dorf einladen.
Das
Märchen heißt „Frau Holles Weihnachtsgabe“.
Darin geht
es um die Geschichte vom „kleinen Mädchen mit den Schwefelhölzern“.
Die muss
ich euch aber vor meiner eigenen Geschichte erzählen:
Das kleine Mädchen war sehr arm, hatte
nichts mehr zu essen und wohnte auf der Straße zusammen mit den
vielen
Obdachlosen der großen Stadt, weil es keine Miete bezahlen konnte.
So stand
es am Weihnachtsabend ganz allein in der kalten Winternacht auf der Straße und
rief „kauft Schwefelhölzer für nur ein kleines bisschen Geld, damit ich ein
Stück Brot kaufen kann!“ Aber es begegnete ihm kein einziger Mensch.
Durch die
mit glitzernden Weihnachtssternen geschmückten Fenster sah das Mädchen in eine
Stube hinein. Da saß bei Kerzenschein die ganze Familie fröhlich um einen großen
Tisch.
Die
Erwachsenen aßen vom Weihnachtsbraten und die Kinder von einer riesigen
Schokoladentorte.
Das
Mädchen setzte sich nun auf den kalten Gehsteig und lehnte sich müde gegen die
Hauswand.
Da begann
es zu schneien und langsam senkten sich die Flocken herunter und bedeckten das
Mädchen wie ein weiches, weißes Kuschelbettchen.
Silberne
Glöckchen spielten leise ein Weihnachtslied und aus dem Flockenwirbel trat
Schneewittchen mit ihren sieben Zwergen.
Es folgten
Hänsel und Gretel. Sie suchten nach Brotkrumen, um nach Hause zu finden.
Dahinter kamen viele Märchengestalten.
Aschenputtel kam im grauen Küchenkleid und rief nach ihren Täubchen.
Dornröschen tanzte mit ihrem Prinzen den Hochzeitstanz und hinter ihnen trug das
Rumpelstilzchen den langen Zopf von Rapunzel.
Schneeweißchen und Rosenrot liefen untergehakt mit dem großen braunen Bären.
Langsam
verschwand der Zug in die dunkle Nacht.
Nun
erschien Frau Holle und lächelte gütig wie die warme Sonne.
Sie kam
langsam auf das Mädchen zu und nahm es in ihre Arme.
„Na siehst
du“, sagte sie, „ich hab dich nicht vergessen. Nie wieder sollst du einsam sein
und Hunger leiden. Du wirst nun bei den Märchen sein für alle Zeiten. Unzählige
Kinder werden dich kennenlernen und dich lieben. Das soll meine Weihnachtsgabe
für dich sein.“
Und nun
geht es weiter mit meiner eigenen Geschichte:
Es ist
erst November und wir Schüler haben noch genug Zeit, um für unser
Weihnachtstheater zu üben.
Lehrer
Häusler verteilt die Rollen für das Märchenspiel.
Hanne darf
das „kleine Mädchen mit den Schwefelhölzern“ spielen.
„Also
echt!“, sagt Anni, „ja klar! unser Lehrer ist so was von ungerecht! Hanne, diese
dumme Kuh, ist eben sein Liebling.
„Das weiß
ich doch schon lang!“, sagt Lore.
„Ich wäre
gern Schneewittchen oder auch Dornröschen“, sage ich, „aber auf
gar keinen Fall der Hänsel oder das tapfere
Schneiderlein oder so was!“
Gisela
schimpft auf mich ein: „Du bist nichts Besonderes und kannst dir nicht immer nur
das Beste aussuchen!“
Lehrer
Häusler winkt uns zu: „Kommt ihr mal her! Ich hab für euch was Feines.
Ihr spielt
mit einer Gruppe der Erstklässler drei Schneeflocken-Jungen.
Sicher
habt ihr zuhause vom Schlittenfahren eine weiße Strickmütze. Eure Mutter näht
ein paar dicke weiße Bommeln dran. Die müssen beim Flockentanz ganz wild um eure
Ohren fliegen.“
„Da mache
ich nicht mit!“, sage ich auf dem Heimweg zu Anni.
„Warum
nicht? Sei froh, dann müssen wir nichts aufsagen und deshalb nichts auswendig
lernen, wir müssen nur rumtanzen“, tröstet mich Anni.
Zuhause am
Mittagstisch mag ich nichts essen vor Traurigkeit.
„Du sagst
jetzt auf der Stelle, was los ist mit dir!“, schimpft mein Vater.
„Ich will
einen Namen haben als Märchenfigur, meinetwegen mache ich auch das Rotkäppchen.
Und ich will nicht nur eine Flocke ohne Namen und schon
gar kein Flockenbub sein mit einer weißen Strickmütze und mit so dummen
Bommeln dran!“, heule ich nun los und schiebe meinen Teller weg.
Dann fällt
mir plötzlich ein, dass ich zu Anni und Lore etwas ganz Dummes gesagt und ihnen
meinen geheimen Plan verraten hatte. Ich sagte ihnen, ich würde mich vor der
Theateraufführung ins Bett legen und krank spielen. Nun bekomme ich Angst, die
beiden könnten mich verpetzen und ich müsste mich mit meiner Lüge schämen vor
der ganzen Schule und auch vor meinen Eltern.
„Jetzt gib
mir mal das Buch her mit eurem Märchentheater“, sagt mein Vater ziemlich
verärgert.
Dann
studiert er es sorgfältig wie den Bauplan für ein neues Haus.
„Wie ich
sehe, seid ihr Flocken sogar die wichtigsten Figuren im Theaterstück, nämlich
wichtig als Flockenschar, als eine Gruppe, wo alle sehr zusammenhalten müssen.
Nur zusammen könnt ihr eine Schneedecke bauen fürs kleine Mädchen mit den
Schwefelhölzchen. So wie erst viele Wassertropfen das Wasser machen.“
„Mir doch
egal!“,
plärre
ich jetzt noch lauter über den Tisch.
„Ich hätte
eine Idee“, sagt jetzt meine Mutter, „Tante Frieda näht euch aus Vorhangtüll
kurze Ballettröckchen. Die passen auch viel besser zu eurem Flockentanz.“
„Was ist
dann mit der weißen Strickmütze?!“ frage ich.
„Quatsch!“,
sagt meine Mutter, „ihr flechtet euch glitzerndes Lametta ins offene Haar. Ich
hab noch genügend davon für den Weihnachtsbaum. Was meint ihr, wie ihr dann
funkelt und glitzert!
Aber wir
sollten dem Lehrer unsere Idee schnell mitteilen, bevor es zu spät ist.“
Am
nächsten Tag kommt mein Vater gut gelaunt auf mich zu.
„Ich hab
Neuigkeiten
für
dich. Ihr drei Hauptflocken habt nicht nur die wichtigste, sondern auch noch die
allerschwierigste Rolle bekommen! Das heißt, ihr müsst gleich beginnen mit dem
Üben fürs Flockenballett, und zwar zur Musik aus der Oper 'Hänsel und Gretel`,
nicht einfach, aber ihr würdet es gut machen. 'Warum bin ich nicht früher auf
die Idee gekommen, dass die Mädchen Ballettröckchen tragen sollten? Na ja, ich
kann ja nicht immer an alles denken’, sagte Lehrer Häusler zu mir“.
Mein Vater
lacht: „Bist du nun zufrieden?“
Und ob ich
zufrieden bin! Meine Eltern haben mich nicht allein gelassen. Das Problem ist
gelöst.
Am Theaterabend
ist
der Saal knallvoll.
Wir bekommen einen Riesen-Extra-Applaus
für
unser Flocken-ballett. Das ist für mich eine wunderschöne Weihnachtsgabe.
Ich war
sechzehn Jahre alt und nun ein „Backfisch“.
Heute
heißt das „Teenie“ und ihr seid das schon mit dreizehn Jahren, in Englisch
thirteen.
Meine
Mutter kaufte mir moderne Dreiviertel-Hosen. Sie gingen bis zur Wade.
Jeans gab
es damals noch nicht. Wir Mädchen trugen auch Ballerinas, also ganz flache
Schuhe, wie sie Ballett-Tänzerinnen anhaben. Wichtig war uns das Schleifchen an
der Ferse. Einmal waren bei mir die Schleifchen abgegangen und schon sagten
meine Freundinnen: „Äh! Du hast ja gar keine richtigen Ballerinas!“
T-Shirts
gab es damals auch noch nicht. Zum Pulli - er hieß Nicki - trugen wir ein
Nicki-Tuch. Es musste am Hals so fest geknotet werden, dass die beiden Zipfel
ganz frech in die Luft zeigten.
Noch viele
andere Dinge hatten wir nicht: In den Familien gab es kein Telefon, keinen
Computer, keinen Laptop. Auch ein Handy konnte man nicht kaufen, denn Handys
waren noch nicht erfunden. Wenn die Menschen einander etwas erzählen oder sagen
wollten, dann mussten sie einander treffen. Oder sie mussten einen Brief oder
eine Karte schreiben und diese mit der Post verschicken.
Das war
also meine Teenie-Zeit.
Eines
Tages sagte mein Vater zu mir: „Möchtest du nicht mit einigen anderen Mädchen zu
einem Ferienlager fahren? Es liegt bei einem kleinen Dorf in den Schweizer
Bergen und heißt Maloja.“ Ich machte einen weiten Satz in der Küche und
rief„ja,ja,ja!“
„Aber du
musst deine festen Winterschuhe mitnehmen“, sagte mein Vater, „auch wenn es
jetzt Sommer ist. Denn sicher macht ihr eine Bergtour über Steine und Felsen.
Was heißt das? Diese Ballett-Dinger bleiben daheim im Schrank!“
Als mein
Vater gerade frühstückte, versteckte ich die Ballerinas tief in meinem Koffer
zwischen den Kleidern.
Jetzt war
es morgens fünf Uhr und unser Bus wartete am Rathaus mit vielen fremden Mädchen
aus verschiedenen Orten.
Im Bus
hatte ich einen Platz ziemlich weit vorne neben einem Mädchen aus Ulm. Sie war
also ein Stadtkind und hieß Elke. Ich fand sie gleich sehr nett. Wie Rapunzel
hatte sie einen dicken blonden Zopf, aber natürlich nicht so lang. Vorne neben
dem Busfahrer stand die Leiterin unserer Freizeitgruppe. Sie war etwa fünfzig
Jahre alt und wir mussten sie ansprechen mit „Fräulein Maier“ .
Gleich von
Anfang an konnte ich sie nicht leiden, weil sie uns ständig herumkommandierte,
ähnlich wie das Fräulein Rottenmeier die Heidi. Ihr kennt ja die Geschichte von
„Heidi“.
„Also wenn
ihr nicht endlich ruhig sein könnt, werde ich das euren Eltern mitteilen! Und
hört auf, jetzt schon euer Vesperbrot aufzuessen!“, schimpfte die Maier im Bus
herum.
Jedes
Mädchen bekam nun ein Liederbuch.
Unser
Lieblingslied war dran, halb in Deutsch und halb in Englisch:
„Ein Hase
saß im grünen Gras
singing
hollydolly doodle all the day.
I am off
to Louisiana
for to see
my Susianna
singing
hollydolly doodle all the day...“
und so
weiter.
Wir fuhren
durch unser Nachbarland, die Schweiz, und dort über den Julierpass und danach
über den Maloja-Pass. Das sind sehr hochliegende Bergstraßen.
Fräulein
Maier rief: „Nun hopp hopp! Seht alle zum Fenster raus! Da kommen schon die
hohen Berge und bald die Gletscher der Bernina-Gruppe. Diese Berge sind aus
ewigem Eis und bis viertausend Meter hoch. Ihr seht auch: Zu beiden Seiten der
Straße geht es ganz tief hinunter in den Abgrund. Sagt mal unserem guten
Busfahrer danke, weil er uns so sicher fährt!“ Ich fand, hier hatte sie Recht,
und wir riefen ganz laut „danke!“
Vor dem
Mädchen-Freizeitheim hörten wir von zwei jungen und freundlichen Helferinnen die
Nummer unserer Zimmer. Ein Zimmer war jeweils für zwei Mädchen bestimmt.
Elke und
ich hatten schon im Bus beschlossen, dass wir zusammenwohnen würden. Also gingen
wir gleich untergehakt zusammen los, als eine Nummer aufgerufen wurde. Aber oh
Schreck!!! Das war das Zimmer für mich und Babette.
„Du
bleibst jetzt mal schön stehen und gehst mit Babette auf euer Zimmer!“, schrie
mich Fräulein Maier an.
Elke sah
sehr traurig aus und konnte nur noch lieb „tschüs!“ winken.
Babette
mochte ich garnicht. Ich hatte mich nicht getäuscht. Denn gleich am nächsten
Morgen schimpfte sie auf mich ein. Schon um sechs Uhr in der Frühe ging nämlich
eine Helferin mit einer lauten Kuhglocke durchs Freizeitheim, um uns
aufzuwecken.
Babette
war sofort aus ihrem Bett gesprungen, aber ich war noch halb im Schlaf.
„Wenn du
jetzt nicht gleich aufstehst, sage ich das dem Fräulein Maier!“, schrie sie auf
mich ein.
„Du freche
Petzerin!“ brüllte ich sie an, nahm mein Handtuch und haute ihr es um den Kopf.
Dann prügelten wir einander und rissen uns gegenseitig ein ganzes Büschel Haar
aus. So kamen wir total zerzaust in den Frühstückssaal.
Dann
redeten wir kaum noch miteinander.
Nur einmal
noch meckerte mich Babette an und zwar vor dem Zubettgehen: „Ich stelle fest,
dass du abends nie betest“, sagte sie.
„Das geht
dich garnichts an!!“ , rief ich, „ich kann beten wie und wann ich will, du dumme
Kuh!!“
Tagsüber
war ich dann nur noch mit Elke und den anderen Mädchen zusammen und es ging mir
wieder gut.
Hier muss
ich etwas dazwischen erzählen, was genauso wahr ist.
Viele
Wochen später, also wieder Zuhause bei meinen Eltern, sagte mal meine Mutter
abends zu mir:
„Stell'
dir vor, heute Nachmittag wollte dich die Babette besuchen, als du nicht da
warst. Sie war mit dem Rad und Freundinnen unterwegs und sagte, sie sei mit dir
zusammen in Maloja gewesen und habe dich sehr gern gemocht.“
Da musste
ich viel darüber nachdenken, warum Babette und ich uns einfach nicht so gut
verstehen konnten.
Weiter
geht es mit meiner Geschichte.
Also
zurück wieder zum Ferienlager: „Heute machen wir mal einen Tag, der für euch
ganz frei sein soll. Ihr könnt allein bleiben oder wenn ihr wollt, könnt ihr mit
mir in der Gruppe eine Bergwanderung machen“, sagte Fräulein Maier recht
fröhlich nach dem Frühstück.
Für mich
war klar: Eine Gruppe mit Fräulein Maier und das ein freier Tag? Das sollte wohl
ein Witz sein!
Ich
schlich mich ins Klo und wartete dort eine Weile.
Durchs Klofenster sah ich, dass alle Mädchen hinter Fräulein Maier her zum Tor
hinaus liefen. Ich musste mich beeilen, damit die Helferinnen nicht bemerkten,
dass ich allein zurückgeblieben war.
Schnell
verschwand ich durch den Hinterausgang des Hofes.
I c h w a
r f r e i ! Die Luft war warm und auf den Hügeln entlang der Straße blühten die
Alpenrosen.
Auf dem
Dorfplatz von Maloja tranken friedlich aus einem Brunnen freilaufende Kühe. In
dem winzigen Lebensmittelladen kaufte ich ein Joghurt. Zwei Frauen kamen herein
und sagten zur Begrüßung „Ciao!“ Und als sie gingen, sagten sie wieder „Ciao!“
Was sie miteinander sprachen, habe ich nicht verstanden. Aber alles klang so
lieb und froh wie eine fremde Melodie.
Nun konnte
ich es deutlich fühlen: Ich war in Maloja, im Land, das man das rätoromanische
nennt, wo die Kinder in der Schule Deutsch und Italienisch lernen und wo man als
Dialekt auch Rätoromanisch spricht.
Draußen
war der Himmel märchenblau und die Schneegipfel der Berge glitzerten in der
Sonne. Einer der Riesen heißt „Piz Bernina“ und ist mindestens viertausend Meter
hoch. Andere wieder heißen Piz Lunghin und Piz de la Margna. Sie sind näher und
ungefähr dreitausend Meter hoch.
Ein Berg
schien ganz nah zu sein. War es der Piz Lunghin?
Es war,
als würde er mich locken: „Komm herauf, meine Bergsteigerin! Du schaffst es!
Komm herauf bis zu meinem Schneegipfel !“
Kurz
dachte ich an meinen Vater. Denn gerade heute trug ich zu meinem ärmellosen
Sommerkleid die Ballerina-Schuhe, die er mir verboten hatte.
Aber egal,
sagte ich mir.
Nach einer
sanft ansteigenden Bergwiese ging es steiler aufwärts. Nirgends sah ich
Menschen. Da und dort saßen die Murmeltiere vor ihren Höhlen in der warmen
Sonne. Weil hierher selten Menschen kamen, hatten sie wohl keine Angst vor mir
und sahen mich nur neugierig an. Manche piepsten ein bisschen in ihrer
Murmeltiersprache.
Der Berg
wurde langsam steiler und steiler. Ich kam nur noch kreuz und quer mit Klettern
vorwärts. Dabei hielt ich mich an Felsen oder an den in den Berg
hineingewachsenen Baumwurzeln.
Bäume gibt
es auch noch auf einer bestimmten Höhe. Man nennt sie Latschen. Aber nach und
nach wurden auch sie weniger.
Nun war
ich auf einer Fläche mit Sand und Felsgeröll angelangt, etwa so groß wie ein
Fußballplatz.
Von hier
aus konnte ich ganz tief hinunterschauen ins Tal.
Was sah
ich da?! Ein Spielzeugland! Auf den kaum noch sichtbaren Straßen bewegten sich
die Autos hin und her, so winzig wie Ameisen. Die Menschen waren viel zu klein,
als dass ich sie hätte noch sehen können.
I c h w a
r a l l e i n .
Aber nun
mochte ich nicht mehr allein sein!
Ich schrie
laut „hallo!“ und niemand antwortete. Ein paarmal schrie ich noch „hallo!
hallo!“. Wieder keine Antwort. Nicht einmal ein Vogel zwitscherte. Es gab ja
keine Bäume und Büsche mehr.
Die
Murmeltiere waren viel zu weit unten talabwärts und konnten mich nicht hören.
Nochmal
wollte ich rufen, diesmal aus lauter Angst.
Da hatte
ich keine Stimme mehr. Mein „hallo“ klang nur noch wie ein Flüstern.
Aber zum
Glück funktioniert wohl in der Angst besonders gut das Denken.
Ähnlich
wie vor tausenden von Jahren in der Steinzeit, als die Menschen wissen mussten,
wie sie sich vor einer Gefahr retten konnten.
Ich wollte
also nicht einfach nur stehen bleiben wie angewachsen und nichts tun.
So begann
ich, den Kletterweg zu suchen, auf dem ich auf den Berg gekommen war.
Aber
jedesmal sah ich direkt unter mir einen Wasserfall den steilen Abhang
hinunterstürzen. So musste ich das kurze Stück schnell wieder den Berg hoch
klettem.
Da fiel mir
ein: Ich könnte testen, wie weit ich kommen würde mit dem Hinunterklettern, wenn
ich zuerst mal einen Stein hinunterrollen ließ. Wenn nämlich der Stein an der
Wand entlang rollte oder abprallte, dann hieß das, es könnte für mich zumindest
einen kurzen Weg geben in Richtung Tal.
Ich musste
es einfach wagen. Denn ich hatte keine andere Wahl.
Und
tatsächlich!! mein erstes Stück hinunter war geglückt!!! Ich stand auf einer Art
winzigem Balkon. Unter mir war kein Wasserfall.
Dann sah
ich, wie es seitwärts wieder ein Stück weitergehen konnte. Aber ich musste
aufpassen, dass ich nicht daneben trat und in eine Schlucht fiel.
Das war
nun auch geschafft!
Ich musste
wieder ein Stück zurück und höher klettern, denn erst von da aus konnte ich
wieder talwärts kommen.
Meine
Ballerinas hatte ich längst irgendwo verloren. Die Füße waren aufgescheuert und
taten mir weh. So rutschte ich auf dem Po einen sandigen, ganz schmalen und
kurvigen Weg weiter abwärts. Mein Kleid war zerrissen und ich hatte einen
starken Sonnenbrand - genannt Gletscherbrand - an den Armen und im Gesicht. Den
hatte ich nun, obwohl ich lange nicht den Gletscher erreicht hatte. Der schien
ganz hinterlistig immer weiter wegzurücken, je näher ich geklettert war.
Geschafft
!!! Da waren wieder meine Murmeltiere!
Allerdings
nur noch ein paar, die vor der Höhle saßen, denn inzwischen war es Abend und
dunkler geworden.
Ich
schlich mich durchs Dorf hin zum Freizeitlager.
Aus dem
Speisesaal kam Gemurmel und es roch herrlich nach Spiegeleiern.
„Ja wer
kommt denn da!“ rief das Fräulein Maier. „Wir wollten eben die Bergwacht
alarmieren und nach dir suchen lassen. Wir alle hatten große Angst um dich! Du
bist die Einzige, die heute nicht in der Gemeinschaft geblieben ist. Dafür
solltest du dich erst einmal schämen.“
Ich konnte
nichts sagen und schlich durch die Reihen der Mädchen. Da winkte mir Margret zu.
Sie war die Älteste von uns.
„Komm!
Setz dich zu uns, Christel! Erhole dich erst einmal“, sagte sie sehr lieb zur
mir. „Hier ist ein freier Stuhl für dich.“
Sie
brachte mir in einem Teller Spiegeleier und Salat.
Bald
darauf war die Mädchen-Freizeit zu Ende.
Fräulein
Maier hatte meinen Eltern zum Glück kein Wort erzählt von meinem Abenteuer.
Auch ich
sagte nichts zu Hause.
Einmal kam
per Post eine Karte mit lieben Grüßen von der Margret, die mir das Abendessen
mit Spiegeleiern und Salat gebracht hatte. Ich glaube, sie konnte mich gut
leiden.
So hieß
sie für die Leute im Dorf, aber ihr richtiger Name war Barbara.
Einen
Beruf hatte sie nicht erlernen dürfen, da ihre Eltern arme Bauern waren. So
musste sie schon als Kind in Haus und Hof hart arbeiten. Dabei lernte sie das
Melken der Kühe und das Kochen, aber auch, wie man eine Salbe aus gelben
Ringel-blumen macht. Die pflanzte sie in ihrem Garten. Hatte jemand im Dorf eine
Wunde, kam Bäbe und bestrich sie mit ihrer Ringel-blumensalbe. Dazu kochte sie
heißen Tee aus Brennesseln, Pfefferminze und Spitzwegerich.
Bäbe wurde
auch ins Haus geholt, wenn eine Frau ihr Baby bekommen sollte. Dieses spannende
und aufregende Ereignis geschah meistens zu Hause und nicht wie heute in einer
Klinik. Die Dorfleute hatten damals noch kein eigenes Telefon oder ein Handy. So
konnten sie auch nicht nach ärztlicher Hilfe rufen, wenn es aussah, als würde
das Baby nicht den Weg aus dem Bauch der Mutter hinaus ans Licht der Welt
finden.
Ich war im
Haus geblieben, weil ich schon morgens in meinem Bauch ein leichtes Ziepen,
Zerren und Grummeln spürte, als wollte mein Kind, also dein Vater, nun endlich
ans Tageslicht kommen. Es war ihm wohl zu eng und langweilig geworden in meinem
Bauch. Das Zerren und Ziehen wurde stärker, aber es machte mich froh. Nur fühlte
ich mich so allein und lief durch die menschenleeren Gassen, um nach Hilfe zu
suchen. Doch niemand konnte mich sehen und hören. Dann ging ich wieder nach
Hause, legte mich erschöpft aufs Bett und lauschte dem Geräusch eines
vorbeifahrenden Fuhrwerks.
So lag ich eine Stunde lang und wartete,
wartete. Da plötzlich klopfte es leise an die Tür. Herein kam Bäbe, ja Bäbe,
meine
Schulkameradin.
´Was machst du denn für Sachen, Marie?`, sagte sie, ´es sieht so aus, als möchte
dein Kind rauskommen, kann es aber nicht. Da ist ihm wohl irgendwas im Weg.
Warte! Ich hol gleich den Doktor. Bleib so lange ganz ruhig! Ich lauf so schnell
ich kann.´ Dann machte sich Bäbe zu Fuß auf den drei Kilometer langen Weg ins
nächste, größere Dorf.
Was sie
nicht wusste: ob der Doktor zu Hause war. Sie klingelte. Er war zu Hause!
Schnell griff er nach seinem Arztkoffer, setzte Bäbe in sein Auto und fuhr mit
ihr los. Angekommen in meiner Stube, half er dem Kind, seine letzte Wegstrecke
gut hinter sich zu bringen. Ich spürte jetzt ein ganz kleines, zappelndes
Menschlein an meiner Haut.
Doch da
war noch ein Problem: Die Nabelschnur hatte sich mehrmals um den Hals meines
Kindes gewickelt und hing noch am Mutterkuchen. In der Medizin wird er die
Plazenta genannt. Sie ist eine Art Speisekammer und versorgt das Kind im Bauch
der Mutter mit Nahrung, aber auch mit Sauerstoff, wie es ihn in unserer Atemluft
gibt. Bei der Geburt wird der Mutterkuchen nicht mehr gebraucht und
normalerweise ausgestoßen, denn nun kann das neu geborene Baby ja frei atmen.
Nun der
erste Schrei! Dein Vater lebte! Die Bäbe lachte vor Freude, nahm das Kind, als
wäre es ihr eigenes, ganz sanft in die Arme, badete es und wickelte es in die
bereitgelegten Windeln."
Eines
Tages bemerkte ich bei Mulle ihren sehr dicken Bauch. "Sie bekommt Junge", sagte
meine Mutter, "der Papa wird sich nicht darüber freuen. Er wird sie wegtun, wenn
sie geboren sind, weil er nicht das Haus voller Katzen haben möchte."
Mein Vater
war für kurze Zeit außer Haus, aber ich wusste nicht,wann er zurückkommen würde.
Mit klopfendem Herzen kletterte ich die Katzenleiter hoch. In einer Hand hielt
ich ein Schälchen Milch. Darin schwamm ein Fingerhut. Das war ein
Metallkäppchen, das Frauen beim Nähen auf einen ihrer Finger setzten, damit er
keinen Nadelstich abbekommen sollte.
"Das ist
bestimmt die Tochter von Mulle", sagte meine Großmutter. "Und ich habe ihr das
Leben gerettet, deshalb muss sie auch bei uns bleiben!", sagte ich und
versuchte, das Katzenkind einzufangen.
Aber es
verkroch sich im hintersten Teil der Küche unter unserer Eckbank, fauchte und
kratzte mich, wenn ich auf dem Boden lag und es aus seinem Versteck locken
wollte.
_____________________________________________
In der Volksschule
Ferienkinder
Nachbarskinder
Erntezeit
Dorfgestalten
D’r Baumwart Rommel
D’r Bolezei
D’r Elias
Kächlamaurers Hans
Bäckers Ernscht
D’r Hochberger
`s Fräulein Kobler
D’r Lehrer Häußler
Hubers Nähre
D’r Nachtfugeler
Der Krieg geht zu Ende
Die Amerikaner kommen
Vater kehrt heim
Die große Not
Die neue Zeit
Das Federkleid
die vögel
Das Mädchen
Der
Hase Muggl
Kindergarten
Vater
Das Buch
Tagebuch der Annerose M.
Backfisch
In jenem Garten
Zwar – Aber
Sechzigerjahre
Schneewittchen
Versteck
Phoenix
Hoffnung
Zu
eurer Zeit
Siebzigerjahre
Topfpflanze
Brüche mit Präpositionen
Die Mauer
Blut
Fliegen
Der Garten
Achtzigerjahre
Die Katze
Neunzigerjahre
Das Lied der ersten Lebensräume
Großvater – Großmutter
Sonntag
Überall
Ultra violett
Die Frau
Du bist fort
Violett
der realen und der surrealen Wahrnehmung
Der Intimfeind
Nichts
Brücken
Tante Lene
Im Hamsterrad
dass du Tritt fasst
dass du eins bist mit deinem Tritt
dass du nicht fragst
nicht hoffst nicht wartest
denn du wirst nicht ankommen
Die Toten
Lied der ersten Lebensräume
Großmutters Sonntag
Shopping
Am Fenster
Katerfrühstück
Schneewittchen
Überall
Bin ich schön?
Der geklonte Mensch
Der Griff nach den Sternen
Sheherazad
Zeit
August
Kleo
Zu eurer Zeit
Violett
November
Verworfene Tradition
Metamorphose
Topf und Grund
Glas
Die Konferenz
Die Tugend der Zwerge
Zuhause
Angst
Alle Jahre wieder
Geld spielt keine Rolle
Eliane
Die Mauer
Geht doch
Gratwanderung
Geburtstag – eine Zeitreise
Tod im Net
Ein Gespenst geht um
Die Uhr – eine wahre Geschichte
Kriegsspiele
Der Intimfeind
aus zwei Welten,
der realen und der surrealen Wahrnehmung
Der Intimfeind
Nichts
Brücken
Tante Lene
Im Hamsterrad
dass du Tritt fasst
dass du eins bist mit deinem Tritt
dass du nicht fragst
nicht hoffst nicht wartest
denn du wirst nicht ankommen
Die Toten
Lied der ersten Lebensräume
Großmutters Sonntag
Shopping
Am Fenster
Katerfrühstück
Schneewittchen
Überall
Bin ich schön?
Der geklonte Mensch
Der Griff nach den Sternen
Sheherazad
Zeit
August
Kleo
Zu eurer Zeit
Violett
November
Verworfene Tradition
Metamorphose
Topf und Grund
Glas
Die Konferenz
Die Tugend der Zwerge
Zuhause
Angst
Alle Jahre wieder
Geld spielt keine Rolle
Eliane
Die Mauer
Geht doch
Gratwanderung
Geburtstag – eine Zeitreise
Tod im Net
Ein Gespenst geht um
Die Uhr – eine wahre Geschichte
Kriegsspiele
Das Krankenhaus im Keller
Der Hubert
Reitze-Oma, Schützenfest
und Prinzessin Huschewind
Das Schlaraffenland
Frau Holles Weihnachtsgabe
Das Abenteuer von Maloja
Die Bäbe
Sie lebte allein in einem kleinen Haus zusammen mit ihrer Katze.
So erging es meiner Großmutter, als mein Vater noch nicht geboren war. Diese
Geschichte erzählte sie mir eines Tages.
Ich saß mit ihr in der Küche. Die Wanduhr tickte leise vor sich hin. Am offenen
Fenster summten die Bienen und aus dem Stall des Nachbarn kam das Muhen einer
Kuh. Großmutter war wie immer in bedächtiger Stimmung. Jetzt schien sie durchs
Fenster in eine unendliche Ferne zu sehen und sie begann zu erzählen:
"Es war an einem heißen Sommernachmittag im August. Fast alle Bauern waren auf
den Feldern, um die Ernte einzubringen, denn die Luft war schwül und am Himmel
hingen schon die ersten dunklen Gewitterwolken.
Das war Großmutters Geschichte. Sie stand von ihrem Stuhl auf, blieb eine Weile
stehen im Nachdenken, dann drehte sie sich mir zu, sah mir in die Augen und
sagte: "Behalte es ganz fest in deiner Erinnerung: Die Bäbe hat das Leben deines
Vaters gerettet."
Mulle
Mulle war eine graue Angorakatze mit einem
weichen Pelz aus langem, seidigem Haar.
Nachts streunte sie durch die Gärten und Scheunen der Bauern, tagsüber kam sie
auf meinen Schoß gesprungen und ließ sich von mir streicheln.
In der warmen Sonne lag sie ausgestreckt und mit halb geschlossenen Augen auf
ihrem Lieblingsplätzchen. Das war die Bank hinter unserem Haus. Nichts störte
ihre Ruhe, nicht das Gackern der Hühner und nicht das Gezwitscher der Stare am
Vogelhäuschen, das an der Wand unseres Holzschuppens hing.
Das Wort ´wegtun` machte mir große Angst. Für eine Minute war ich sehr allein.
Dann hatte ich einen Plan, den ich selbst meiner Mutter nicht verraten wollte.
Das leise, klägliche Wimmern kam aus der oberen Etage unseres Schuppens. Dort
hinauf konnte ich nur über eine sogenannte Katzenleiter kommen. Sie hatte
Sprossen aus dünnen Holzpfählen, an denen ich mich beim Hochklettern festhalten
konnte.
Nun musste alles sehr, sehr schnell gehen. Aber o Schreck! Direkt über meinem
Kopf hing eine graue, dicke Ratte faul und wie festgenagelt auf den Stufen und
versperrte mir den Weg. Vielleicht überlegte sie sich gerade, was da wohl unter
ihr auf sie zukam. Und vielleicht hatte sie ebenso Angst wie ich. Dann endlich
zog sie langsam einen Fuß nach auf die nächsthöhere Stufe und ... schwuppdich
war sie nach oben verschwunden.
Die kleinen Kätzchen, nicht größer als meine Hand, fand ich in der Dunkelheit
hinter einer hohen Beige aus Holzscheiten. Mit ihrem leisen Wimmern riefen sie
nach ihrer Mutter. Sie hatten wohl Hunger, weil Mulle in ihrem Körper nicht
genügend Milch für sie hatte. Aber ein Wunder war geschehen! Die Kätzchen - es
waren vier – tranken gierig und zufrieden aus meinem mit Milch gefüllten
Fingerhut.
So kletterte ich jeden Tag zu einer Zeit, wo ich mich unbeobachtet fühlte, mit
meinem Schälchen Milch die Katzenleiter hoch. Die Kätzchen tranken und waren
nach zwei Wochen etwas größer geworden. Nur - eines Tages waren sie
verschwunden. Aber wohin?
Nach ein paar Wochen kam plötzlich ein sehr mageres, Katzenkind mit einem Satz
die Bühnentreppe herunter-gesprungen.
"Lass sie doch einfach in Ruhe!", sagte meine Mutter, "sie ist Menschen nicht
gewöhnt."
Mulle schien sich für ihre Tochter garnicht mehr zu interessieren und ging ihre
Wege, streunte nachts durchs Dorf und kam immer wieder auf meinen Schoß
gesprungen und ließ sich von mir streicheln.
Die Zeit verging. Meine Eltern hatten inzwischen ein neues Haus gebaut. Mulle,
nun älter geworden, war in diesen Neubau nicht zurückgekehrt. An einem kalten
Herbsttag fanden wir sie tot neben dem Haus unter der Hecke. Sie war wohl
friedlich eingeschlafen, denn ihre Zeit war gekommen, weil sie ein sehr hohes
Katzenalter erreicht hatte. Aber ich vermutete auch: Mulle hatte lange
vergeblich nach dem Hintereingang unseres alten Hauses gesucht und ihn nicht
mehr gefunden. Und niemand hatte Mulles Suchen bemerkt. Wir Menschen waren mit
unseren eigenen Problemen beschäftigt. Das machte mich traurig.
Aber bis heute glaube ich daran, dass es irgendwo in unserer Erinnerung für
Mulle einen Himmel gibt, wo sie ihre neue Heimat gefunden hat und wo sie meine
Gedanken fühlen kann wie damals, als sie auf meinem Schoß saß und ich sie
gestreichelt habe
Neue Wege
immer
im Sog des Eissturms
entfliehen
ins Ungewisse
ins Heilige Land
entfliehen
dem satten Grinsen
der Selbstgewissen
Neue Wege
Das Aufbäumen
aus dem Morast
des Zweifelns
der Marter
Da trägst du
das Label
des Zwar-Aber
Da fehlt dir
die Eintrittskarte
immer
in deinem Handgepäck
Neue Wege
Im Herzen
das Einhorn
das scheue Reh
die Treue
die unverbrüchliche
10-04-21
Wenn ich
an dich denke,
bist du mit mir
und hältst mich fest.
Wenn wir schwingen
im Rund des Kreises,
schutzlos
in seinem Widersinn,
bist du mit mir
in Fragen
nach Anfang und Ende,
was war
und was sein wird
im Nichts.
Ich liebe dich.
07-05-2021
So viele Stunden
Tage
und wieder
ein ganzes Jahr
nicht gelebte
abgelaufene Zeit
Reden
mit den Bäumen
wie sie es schaffen
allein zu stehen
und
zu schweigen
Reden
mit den Toten
körperlos
nur ihnen
zeige ich
mein Gesicht
20-05-21
Ich denke
also bin ich
I Robot female
im Novozän
Ich funktioniere
diskutiere
koche
putze
kann kuscheln
lächeln
kann mich einlesen
in dein Programm
das mir befiehlt
tritt heraus Liebste
aus deiner Nische
ich habe Zeit
für dein Programm
bis du mir sagst
tritt zurück Liebste
in deine Nische
switch off
und schweige
Nun ist die Zeit
für mein Programm
01-06-21
Der Zweifel saß auf seinem Stuhl und zweifelte an
sich selbst.
Bisher war er leidlich zufrieden, nicht mit der Welt,
sondern mit seiner Fähigkeit, zu analysieren, wenn es darum ging, die Tugenden
zu tadeln. "Euer zufriedenes Grinsen ist nichts weiter als lähmende
Selbstgewissheit. Allesamt seid ihr nur die euch von den Menschen verpassten
Tugendmasken! Wo ist euer wahrer Kern?
Ja! schimpft mich nur einen Dialektiker! Meine
Philosophie jedoch beachtet den Zeitgeist.
Das bedenke besonders du, Kollegin Demut. Das bedenke
auch du, Kollege Gehorsam.
Unter eurem Banner - oder sollen wir es das Kreuz
nennen? - wurden Generationen versklavt und hingeschlachtet. Und Kollegin
Harmonie hat es befürwortet. Nur frage ich, für wessen Harmonie? Auch deine
Maske sehe ich, Kollegin Treue, wenn du Menschen in Ketten legst, die einander
nicht lieben. Zugegeben! Auch ich bringe oft ...ja, nennt es nur beim Namen …
die Zerstörung. Doch es ist mein Wille und er bedarf nicht der Tugendmaske.
Mein Wille bedarf der Freiheit. Es ist die Freiheit
der Wissenschaft, der Philosophie, der Kunst und der Literatur. Es ist die
Freiheit zum Zweifel."
Nun wiederum klang dies dem Zweifel wie ein Dogma,
wie eine Zustimmung zu einer nicht zu bezweifelnden These. Und er sagte sich im
Geheimen: "Kann ich bis in alle Ewigkeit der Nörgler, der Widerspruch, die
Antithese sein? Oder nach der Antithese die Synthese, genannt auch die `Negation
der Negation´.
Bekenne ich mich also wohl oder übel zu meinen
Kräften, die mich leiten, zu den Kräften meiner steten Unrast? Oder gibt es für
mich nicht auch ein Angekommensein? Ich wage es ja kaum zu denken: eine Art
Zufriedenheit? Wo finde ich es, dieses utopische Zuhause?"
So war der Zweifel dabei, sich selbst zu hinterfragen
und er arbeitete sich mühsam durch das Gewühl der Tugenden.
Eine dicke Kröte versperrte ihm den Weg. Sie trug die
Maske der Zufriedenheit. "Scher´ dich zum Kuckuck!" sagte der Zweifel und stieß
sie beiseite.
Nach langem, unzufriedenem Umherirren begegnete ihm
eine kleine, barfüßige und fast zerbrechliche Gestalt. Sie war in ein schlichtes
Tuch gehüllt.
"Wer bist du?", fragte der Zweifel. Unter der Hülle
sagte eine leise Kinderstimme: "Ich bin die Liebe."
"Du gibst nicht vor, eine Tugend zu sein", sagte der
Zweifel, "denn du trägst keine Maske."
"Ich weiß nicht, was ich bin", sagte die Stimme, "ich
schenke gern. Nur die Menschen glauben mir nicht. Sie haben Angst, sie müssten
die Liebe zurückgeben und sie fragen sich: Was kostet mich die Liebe? Darum
verbannen sie mich in ihre dunklen Bereiche, sie degradieren mich zum
Gefühlskitsch und sie zwingen mich, die Maske der Liebe zu tragen. Vor dir
wollte ich mich ganz verstecken. Ich habe mich vor dir geschämt. Aber du hast
mich gefragt. So sei mein Begleiter.
Ich liebe dich."
04-07-21
Unsere Wolke
die Brecht`sche
so weiß und
ungeheuer oben
und doch
im flockigweichen Flaum
die Ewigkeit
und
das Verwehen
der Zeit
04-07-21
Ausgestoßen
aus der Reihe der Reinen
und
Schiller sei Dank
geflüchtet
schuldbeladen
mit Räuberworten
zum Jahrmarkt der Worte
abseits
der Gerechten
Rechtschaffenen
Sattsamen
Erfolgreichen
beim Planen ihrer Zeit
Meine Räuberworte
tragen
Tingeltangel-Jahrmarktstrachten
und hüten
sorgsam
den Pfeil in meinem Herzen
04-07-21
(vorläufiger Arbeitstitel)